Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

ungeschickt, zum esprit d'escalier verdammt ist, die Beleidigung in sich
hinein, wo sie gräbt und nagt, er trägt sie nach, er ist "lancräche" wie
das Nibelungenlied von Chriemhilden sagt, er wird dann boshaft und
rachsüchtig, um so mehr, weil Gemüth, Güte, Aufrichtigkeit als National-
tugend gelten und daher eine Scham herrscht, den feindlichen Willen und
den Eigennutz zu zeigen, der so zur Falschheit wird. Wie nun aber mit
der Anlage zum Insichgehen der zähe Isolirungstrieb gegeben ist, so tritt
die Individualität überhaupt in schärferer Eigenheit hervor, zeigt mehr Züge,
wodurch der Einzelne sich von allen Andern unterscheidet, und behauptet sie
mit Eigensinn, weiß sich berechtigt, Original zu sein. Dieß ist die Anlage
zum Charakter in einem engeren Sinn, wie er jetzt erst möglich wird.

Vorstufe.
§. 355.

Dieses Volk war aber auch in seiner zeitlichen Entwicklung nicht bestimmt,1
sich in gerader Linie volksmäßig zu entwickeln. Die Bildung der alten Völker
war Naturbildung und daher ganz national, die germanische eine Bildung durch
Bruch mit der Natur, ein Aufnehmen und Verarbeiten der ganz reifen Bildung
fremdartiger Völker, welche das germanische, welterobernd schon in seiner Jugend,
in den unterjochten Ländern antraf. Das erste große Bildungsmoment ist das2
Christenthum, die Religion des Geistes und der Versöhnung durch Selbst-
überwindung, die als solche universal und nicht Volksreligion ist, jedoch ihrem
Princip nach allerdings der germanischen Sinnesanlage als ein Verwandtes
entgegegen kommt und in Verbindung mit dieser durch die Kraft sittlicher
Negativität eine noch nicht dagewesene geschichtliche Lebensdauer verbürgt. Das3
deutsche Heroenleben wird durch die Wanderungen und Mischungen, vorzüglich
aber durch Aufnahme dieser Religion unterbrochen.

1. Wir erwähnen nichts von den Culturformen der Deutschen in
ihrer vorgeschichtlichen Zeit, wenn man jene so nennen kann. Die Bären-
felle, die Hütten, die Art der Kriegsführung, das entsetzliche Kriegsgeschrei
der Cimbern und Teutonen, als sie auf ihren Schilden über die Schnee-
wände der Alpen herabgestürzt waren, die Schlachten mit den Römern,
vorzüglich die im Teutoburger-Walde, die Erscheinung eines Ariovist,
Marbod, Arminius u. s. w. -- dieß Alles gibt wohl colossale Bilder,
aber sie sind ästhetisch zu ungeschlacht, zu unbestimmt. Wir können nicht
wissen, was aus diesen tüchtigen, aber rohen Urformen geworden wäre,
wenn sie sich geradlinigt entwickelt hätten. Das germanische Volk war
auch im successiven, geschichtlichen Sinne bestimmt, daß sein Geist und

ungeſchickt, zum esprit d’escalier verdammt iſt, die Beleidigung in ſich
hinein, wo ſie gräbt und nagt, er trägt ſie nach, er iſt „lancräche“ wie
das Nibelungenlied von Chriemhilden ſagt, er wird dann boshaft und
rachſüchtig, um ſo mehr, weil Gemüth, Güte, Aufrichtigkeit als National-
tugend gelten und daher eine Scham herrſcht, den feindlichen Willen und
den Eigennutz zu zeigen, der ſo zur Falſchheit wird. Wie nun aber mit
der Anlage zum Inſichgehen der zähe Iſolirungstrieb gegeben iſt, ſo tritt
die Individualität überhaupt in ſchärferer Eigenheit hervor, zeigt mehr Züge,
wodurch der Einzelne ſich von allen Andern unterſcheidet, und behauptet ſie
mit Eigenſinn, weiß ſich berechtigt, Original zu ſein. Dieß iſt die Anlage
zum Charakter in einem engeren Sinn, wie er jetzt erſt möglich wird.

Vorſtufe.
§. 355.

Dieſes Volk war aber auch in ſeiner zeitlichen Entwicklung nicht beſtimmt,1
ſich in gerader Linie volksmäßig zu entwickeln. Die Bildung der alten Völker
war Naturbildung und daher ganz national, die germaniſche eine Bildung durch
Bruch mit der Natur, ein Aufnehmen und Verarbeiten der ganz reifen Bildung
fremdartiger Völker, welche das germaniſche, welterobernd ſchon in ſeiner Jugend,
in den unterjochten Ländern antraf. Das erſte große Bildungsmoment iſt das2
Chriſtenthum, die Religion des Geiſtes und der Verſöhnung durch Selbſt-
überwindung, die als ſolche univerſal und nicht Volksreligion iſt, jedoch ihrem
Princip nach allerdings der germaniſchen Sinnesanlage als ein Verwandtes
entgegegen kommt und in Verbindung mit dieſer durch die Kraft ſittlicher
Negativität eine noch nicht dageweſene geſchichtliche Lebensdauer verbürgt. Das3
deutſche Heroenleben wird durch die Wanderungen und Miſchungen, vorzüglich
aber durch Aufnahme dieſer Religion unterbrochen.

1. Wir erwähnen nichts von den Culturformen der Deutſchen in
ihrer vorgeſchichtlichen Zeit, wenn man jene ſo nennen kann. Die Bären-
felle, die Hütten, die Art der Kriegsführung, das entſetzliche Kriegsgeſchrei
der Cimbern und Teutonen, als ſie auf ihren Schilden über die Schnee-
wände der Alpen herabgeſtürzt waren, die Schlachten mit den Römern,
vorzüglich die im Teutoburger-Walde, die Erſcheinung eines Arioviſt,
Marbod, Arminius u. ſ. w. — dieß Alles gibt wohl coloſſale Bilder,
aber ſie ſind äſthetiſch zu ungeſchlacht, zu unbeſtimmt. Wir können nicht
wiſſen, was aus dieſen tüchtigen, aber rohen Urformen geworden wäre,
wenn ſie ſich geradlinigt entwickelt hätten. Das germaniſche Volk war
auch im ſucceſſiven, geſchichtlichen Sinne beſtimmt, daß ſein Geiſt und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0261" n="249"/>
unge&#x017F;chickt, zum <hi rendition="#aq">esprit d&#x2019;escalier</hi> verdammt i&#x017F;t, die Beleidigung in &#x017F;ich<lb/>
hinein, wo &#x017F;ie gräbt und nagt, er trägt &#x017F;ie nach, er i&#x017F;t &#x201E;lancräche&#x201C; wie<lb/>
das Nibelungenlied von Chriemhilden &#x017F;agt, er wird dann boshaft und<lb/>
rach&#x017F;üchtig, um &#x017F;o mehr, weil Gemüth, Güte, Aufrichtigkeit als National-<lb/>
tugend gelten und daher eine Scham herr&#x017F;cht, den feindlichen Willen und<lb/>
den Eigennutz zu zeigen, der &#x017F;o zur Fal&#x017F;chheit wird. Wie nun aber mit<lb/>
der Anlage zum In&#x017F;ichgehen der zähe I&#x017F;olirungstrieb gegeben i&#x017F;t, &#x017F;o tritt<lb/>
die Individualität überhaupt in &#x017F;chärferer Eigenheit hervor, zeigt mehr Züge,<lb/>
wodurch der Einzelne &#x017F;ich von allen Andern unter&#x017F;cheidet, und behauptet &#x017F;ie<lb/>
mit Eigen&#x017F;inn, weiß &#x017F;ich berechtigt, Original zu &#x017F;ein. Dieß i&#x017F;t die Anlage<lb/>
zum Charakter in einem engeren Sinn, wie er jetzt er&#x017F;t möglich wird.</hi> </p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Vor&#x017F;tufe</hi>.</hi> </head><lb/>
                  <div n="7">
                    <head>§. 355.</head><lb/>
                    <p> <hi rendition="#fr">Die&#x017F;es Volk war aber auch in &#x017F;einer zeitlichen Entwicklung nicht be&#x017F;timmt,<note place="right">1</note><lb/>
&#x017F;ich in gerader Linie volksmäßig zu entwickeln. Die Bildung der alten Völker<lb/>
war Naturbildung und daher ganz national, die germani&#x017F;che eine Bildung durch<lb/>
Bruch mit der Natur, ein Aufnehmen und Verarbeiten der ganz reifen Bildung<lb/>
fremdartiger Völker, welche das germani&#x017F;che, welterobernd &#x017F;chon in &#x017F;einer Jugend,<lb/>
in den unterjochten Ländern antraf. Das er&#x017F;te große Bildungsmoment i&#x017F;t das<note place="right">2</note><lb/><hi rendition="#g">Chri&#x017F;tenthum</hi>, die Religion des Gei&#x017F;tes und der Ver&#x017F;öhnung durch Selb&#x017F;t-<lb/>
überwindung, die als &#x017F;olche univer&#x017F;al und nicht Volksreligion i&#x017F;t, jedoch ihrem<lb/>
Princip nach allerdings der germani&#x017F;chen Sinnesanlage als ein Verwandtes<lb/>
entgegegen kommt und in Verbindung mit die&#x017F;er durch die Kraft &#x017F;ittlicher<lb/>
Negativität eine noch nicht dagewe&#x017F;ene ge&#x017F;chichtliche Lebensdauer verbürgt. Das<note place="right">3</note><lb/>
deut&#x017F;che Heroenleben wird durch die Wanderungen und Mi&#x017F;chungen, vorzüglich<lb/>
aber durch Aufnahme die&#x017F;er Religion unterbrochen.</hi> </p><lb/>
                    <p> <hi rendition="#et">1. Wir erwähnen nichts von den Culturformen der Deut&#x017F;chen in<lb/>
ihrer vorge&#x017F;chichtlichen Zeit, wenn man jene &#x017F;o nennen kann. Die Bären-<lb/>
felle, die Hütten, die Art der Kriegsführung, das ent&#x017F;etzliche Kriegsge&#x017F;chrei<lb/>
der Cimbern und Teutonen, als &#x017F;ie auf ihren Schilden über die Schnee-<lb/>
wände der Alpen herabge&#x017F;türzt waren, die Schlachten mit den Römern,<lb/>
vorzüglich die im Teutoburger-Walde, die Er&#x017F;cheinung eines Ariovi&#x017F;t,<lb/>
Marbod, Arminius u. &#x017F;. w. &#x2014; dieß Alles gibt wohl colo&#x017F;&#x017F;ale Bilder,<lb/>
aber &#x017F;ie &#x017F;ind ä&#x017F;theti&#x017F;ch zu unge&#x017F;chlacht, zu unbe&#x017F;timmt. Wir können nicht<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en, was aus die&#x017F;en tüchtigen, aber rohen Urformen geworden wäre,<lb/>
wenn &#x017F;ie &#x017F;ich geradlinigt entwickelt hätten. Das germani&#x017F;che Volk war<lb/>
auch im &#x017F;ucce&#x017F;&#x017F;iven, ge&#x017F;chichtlichen Sinne be&#x017F;timmt, daß &#x017F;ein Gei&#x017F;t und<lb/></hi> </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[249/0261] ungeſchickt, zum esprit d’escalier verdammt iſt, die Beleidigung in ſich hinein, wo ſie gräbt und nagt, er trägt ſie nach, er iſt „lancräche“ wie das Nibelungenlied von Chriemhilden ſagt, er wird dann boshaft und rachſüchtig, um ſo mehr, weil Gemüth, Güte, Aufrichtigkeit als National- tugend gelten und daher eine Scham herrſcht, den feindlichen Willen und den Eigennutz zu zeigen, der ſo zur Falſchheit wird. Wie nun aber mit der Anlage zum Inſichgehen der zähe Iſolirungstrieb gegeben iſt, ſo tritt die Individualität überhaupt in ſchärferer Eigenheit hervor, zeigt mehr Züge, wodurch der Einzelne ſich von allen Andern unterſcheidet, und behauptet ſie mit Eigenſinn, weiß ſich berechtigt, Original zu ſein. Dieß iſt die Anlage zum Charakter in einem engeren Sinn, wie er jetzt erſt möglich wird. Vorſtufe. §. 355. Dieſes Volk war aber auch in ſeiner zeitlichen Entwicklung nicht beſtimmt, ſich in gerader Linie volksmäßig zu entwickeln. Die Bildung der alten Völker war Naturbildung und daher ganz national, die germaniſche eine Bildung durch Bruch mit der Natur, ein Aufnehmen und Verarbeiten der ganz reifen Bildung fremdartiger Völker, welche das germaniſche, welterobernd ſchon in ſeiner Jugend, in den unterjochten Ländern antraf. Das erſte große Bildungsmoment iſt das Chriſtenthum, die Religion des Geiſtes und der Verſöhnung durch Selbſt- überwindung, die als ſolche univerſal und nicht Volksreligion iſt, jedoch ihrem Princip nach allerdings der germaniſchen Sinnesanlage als ein Verwandtes entgegegen kommt und in Verbindung mit dieſer durch die Kraft ſittlicher Negativität eine noch nicht dageweſene geſchichtliche Lebensdauer verbürgt. Das deutſche Heroenleben wird durch die Wanderungen und Miſchungen, vorzüglich aber durch Aufnahme dieſer Religion unterbrochen. 1. Wir erwähnen nichts von den Culturformen der Deutſchen in ihrer vorgeſchichtlichen Zeit, wenn man jene ſo nennen kann. Die Bären- felle, die Hütten, die Art der Kriegsführung, das entſetzliche Kriegsgeſchrei der Cimbern und Teutonen, als ſie auf ihren Schilden über die Schnee- wände der Alpen herabgeſtürzt waren, die Schlachten mit den Römern, vorzüglich die im Teutoburger-Walde, die Erſcheinung eines Arioviſt, Marbod, Arminius u. ſ. w. — dieß Alles gibt wohl coloſſale Bilder, aber ſie ſind äſthetiſch zu ungeſchlacht, zu unbeſtimmt. Wir können nicht wiſſen, was aus dieſen tüchtigen, aber rohen Urformen geworden wäre, wenn ſie ſich geradlinigt entwickelt hätten. Das germaniſche Volk war auch im ſucceſſiven, geſchichtlichen Sinne beſtimmt, daß ſein Geiſt und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/261
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/261>, abgerufen am 28.03.2024.