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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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§. 359.

Das Mittelalter hat zwei Einheiten: die Welt und die Kirche. Welt
heißt der Staat. Dieser besitzt in der aufgeschlossenen Bedeutung der Indivi-
dualität das Prinzip, Alle als frei anzuerkennen und durch vernünftigen
Gehorsam zu Gliedern Eines Ganzen zu verbinden. Statt dessen sind nur
Einige frei, der Adel nämlich, das Volk ist unpersönlich. Diese Einigen
aber wollen absolut frei sein; das Lehenswesen sucht sie durch das lockere Band
der Treue vergeblich zusammenzuhalten. Das Oberhaupt, der Kaiser, ohne
Hausmacht, stets auf Italien gewiesen, hat nicht die Kraft, die Formen des
Allgemeinen, Gesetz, Recht, Polizei durchzuführen. Die atomistischen Kräfte
ergehen sich in kühnem Vasallentrotz; gewaltige Selbsthilfe, harte und rohe,
aber tüchtige Einzelheit überall, aber keine Einheit.

Zwei Seelen, zwei Willen statt Eines wohnen in der Brust des
Mittelalters. Jede schließt die andere aus und bedarf sie. Die eine ist
der Staat. Man kann die Staaten des Alterthums immer noch Natur-
staaten nennen und vom Mittelalter sagen, es habe im Princip der Inner-
lichkeit und Individualität zugleich das des Vernunftstaats, der Garantie
besessen. Allein das Prinzip ist noch durchaus mit der Natürlichkeit behaftet
und so entsteht ein neuer Naturstaat, richtiger ein reiner Zufallsstaat.
Der schließliche Grund des Adels ist kein realer. Adel ist nichts als eine
Vorstellung; sobald wir nicht mehr glauben, daß es Adel gebe, gibt es
auch keinen mehr, er ist ein Phänomen des Bewußtseins, und zwar
desjenigen Bewußtseins, das noch den eigenen Willen, Selbständigkeit,
Menschenfreiheit, Menschenwürde und Geltung mit Händen greifen, außer
sich verwirklicht sehen, anstaunen muß. Das Bewußtsein fingirt sich
daher, Einige seien edler geboren, von anderem Teig, als die Uebrigen;
ihnen gehören Waffen, Besitz, Ehre, Aemter. Sie sind Menschen im
Namen der Andern, vicariren für sie. Allgemeines Vicariren ist Charakter
des Mittelalters, und es ist Ernst damit, die Vicare sind Alles und die
Andern haben das Zusehen. Noch mehr werden wir dieß im Verhältnisse
der Priester und Laien finden. Im Alterthum war auch Adel, aber
wesentlich auch Kampf von Volk und Adel; im Mittelalter hört man gar
nichts vom Volke, es existirt nicht. Das Aufkommen der Städte und
dann der Bauernkrieg sind Vorboten und Anfänge einer neuen Zeit.
Wohl aber kämpft Adel mit Adel; Lehen baut sich über Lehen, in der
allgemeinen Gesetzlosigkeit wird Heerbann und Gerichtsverfassung kraftlos,
es gilt, sich selbst zu schützen oder den Schutz des Mächtigen zu suchen,
das Recht sitzt auf der Spitze des Schwertes und wie von den Felsen
Burg an Burg ragt, so krystallisirt sich die Welt in starre Monaden.

§. 359.

Das Mittelalter hat zwei Einheiten: die Welt und die Kirche. Welt
heißt der Staat. Dieſer beſitzt in der aufgeſchloſſenen Bedeutung der Indivi-
dualität das Prinzip, Alle als frei anzuerkennen und durch vernünftigen
Gehorſam zu Gliedern Eines Ganzen zu verbinden. Statt deſſen ſind nur
Einige frei, der Adel nämlich, das Volk iſt unperſönlich. Dieſe Einigen
aber wollen abſolut frei ſein; das Lehensweſen ſucht ſie durch das lockere Band
der Treue vergeblich zuſammenzuhalten. Das Oberhaupt, der Kaiſer, ohne
Hausmacht, ſtets auf Italien gewieſen, hat nicht die Kraft, die Formen des
Allgemeinen, Geſetz, Recht, Polizei durchzuführen. Die atomiſtiſchen Kräfte
ergehen ſich in kühnem Vaſallentrotz; gewaltige Selbſthilfe, harte und rohe,
aber tüchtige Einzelheit überall, aber keine Einheit.

Zwei Seelen, zwei Willen ſtatt Eines wohnen in der Bruſt des
Mittelalters. Jede ſchließt die andere aus und bedarf ſie. Die eine iſt
der Staat. Man kann die Staaten des Alterthums immer noch Natur-
ſtaaten nennen und vom Mittelalter ſagen, es habe im Princip der Inner-
lichkeit und Individualität zugleich das des Vernunftſtaats, der Garantie
beſeſſen. Allein das Prinzip iſt noch durchaus mit der Natürlichkeit behaftet
und ſo entſteht ein neuer Naturſtaat, richtiger ein reiner Zufallsſtaat.
Der ſchließliche Grund des Adels iſt kein realer. Adel iſt nichts als eine
Vorſtellung; ſobald wir nicht mehr glauben, daß es Adel gebe, gibt es
auch keinen mehr, er iſt ein Phänomen des Bewußtſeins, und zwar
desjenigen Bewußtſeins, das noch den eigenen Willen, Selbſtändigkeit,
Menſchenfreiheit, Menſchenwürde und Geltung mit Händen greifen, außer
ſich verwirklicht ſehen, anſtaunen muß. Das Bewußtſein fingirt ſich
daher, Einige ſeien edler geboren, von anderem Teig, als die Uebrigen;
ihnen gehören Waffen, Beſitz, Ehre, Aemter. Sie ſind Menſchen im
Namen der Andern, vicariren für ſie. Allgemeines Vicariren iſt Charakter
des Mittelalters, und es iſt Ernſt damit, die Vicare ſind Alles und die
Andern haben das Zuſehen. Noch mehr werden wir dieß im Verhältniſſe
der Prieſter und Laien finden. Im Alterthum war auch Adel, aber
weſentlich auch Kampf von Volk und Adel; im Mittelalter hört man gar
nichts vom Volke, es exiſtirt nicht. Das Aufkommen der Städte und
dann der Bauernkrieg ſind Vorboten und Anfänge einer neuen Zeit.
Wohl aber kämpft Adel mit Adel; Lehen baut ſich über Lehen, in der
allgemeinen Geſetzloſigkeit wird Heerbann und Gerichtsverfaſſung kraftlos,
es gilt, ſich ſelbſt zu ſchützen oder den Schutz des Mächtigen zu ſuchen,
das Recht ſitzt auf der Spitze des Schwertes und wie von den Felſen
Burg an Burg ragt, ſo kryſtalliſirt ſich die Welt in ſtarre Monaden.

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[255/0267] §. 359. Das Mittelalter hat zwei Einheiten: die Welt und die Kirche. Welt heißt der Staat. Dieſer beſitzt in der aufgeſchloſſenen Bedeutung der Indivi- dualität das Prinzip, Alle als frei anzuerkennen und durch vernünftigen Gehorſam zu Gliedern Eines Ganzen zu verbinden. Statt deſſen ſind nur Einige frei, der Adel nämlich, das Volk iſt unperſönlich. Dieſe Einigen aber wollen abſolut frei ſein; das Lehensweſen ſucht ſie durch das lockere Band der Treue vergeblich zuſammenzuhalten. Das Oberhaupt, der Kaiſer, ohne Hausmacht, ſtets auf Italien gewieſen, hat nicht die Kraft, die Formen des Allgemeinen, Geſetz, Recht, Polizei durchzuführen. Die atomiſtiſchen Kräfte ergehen ſich in kühnem Vaſallentrotz; gewaltige Selbſthilfe, harte und rohe, aber tüchtige Einzelheit überall, aber keine Einheit. Zwei Seelen, zwei Willen ſtatt Eines wohnen in der Bruſt des Mittelalters. Jede ſchließt die andere aus und bedarf ſie. Die eine iſt der Staat. Man kann die Staaten des Alterthums immer noch Natur- ſtaaten nennen und vom Mittelalter ſagen, es habe im Princip der Inner- lichkeit und Individualität zugleich das des Vernunftſtaats, der Garantie beſeſſen. Allein das Prinzip iſt noch durchaus mit der Natürlichkeit behaftet und ſo entſteht ein neuer Naturſtaat, richtiger ein reiner Zufallsſtaat. Der ſchließliche Grund des Adels iſt kein realer. Adel iſt nichts als eine Vorſtellung; ſobald wir nicht mehr glauben, daß es Adel gebe, gibt es auch keinen mehr, er iſt ein Phänomen des Bewußtſeins, und zwar desjenigen Bewußtſeins, das noch den eigenen Willen, Selbſtändigkeit, Menſchenfreiheit, Menſchenwürde und Geltung mit Händen greifen, außer ſich verwirklicht ſehen, anſtaunen muß. Das Bewußtſein fingirt ſich daher, Einige ſeien edler geboren, von anderem Teig, als die Uebrigen; ihnen gehören Waffen, Beſitz, Ehre, Aemter. Sie ſind Menſchen im Namen der Andern, vicariren für ſie. Allgemeines Vicariren iſt Charakter des Mittelalters, und es iſt Ernſt damit, die Vicare ſind Alles und die Andern haben das Zuſehen. Noch mehr werden wir dieß im Verhältniſſe der Prieſter und Laien finden. Im Alterthum war auch Adel, aber weſentlich auch Kampf von Volk und Adel; im Mittelalter hört man gar nichts vom Volke, es exiſtirt nicht. Das Aufkommen der Städte und dann der Bauernkrieg ſind Vorboten und Anfänge einer neuen Zeit. Wohl aber kämpft Adel mit Adel; Lehen baut ſich über Lehen, in der allgemeinen Geſetzloſigkeit wird Heerbann und Gerichtsverfaſſung kraftlos, es gilt, ſich ſelbſt zu ſchützen oder den Schutz des Mächtigen zu ſuchen, das Recht ſitzt auf der Spitze des Schwertes und wie von den Felſen Burg an Burg ragt, ſo kryſtalliſirt ſich die Welt in ſtarre Monaden.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/267>, abgerufen am 28.03.2024.