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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Eckig, hart, trotzig, aber immer gewaltige Erscheinungen sind diese vieleil
kleinen Herren, die Leiden des Volks vergißt man, weil man nichts
davon sieht, und erfreut sich des gediegenen Restes heidnischer Ganzheit
in diesen groben, stählernen Gewalthabern. Das Recht verkriecht sich
als Vehme in ein ästhetisch anziehendes Dunkel; am hellen Tag organisirt
sich das Faustrecht. Die Einheit und Allgemeinheit nun soll im Kaiser
da sein; man sucht aber in den Geschichten der Kaiser vergeblich einen
wahrhaft nationalen Stoff: da ist nichts Uebersichtliches und Geschlossenes,
keine Hauptstadt als Sitz des Monarchen, meist ist er außer Lands und
hat es mit Italien zu thun. Deutschland gibt der christlichen Welt ihren
Kaiser und hat daher selbst keine Einheit, keine Heimath, keinen Schluß-
stein. Ungleich besserer Stoff im nationalen Sinne sind die Siege der
sächsischen Kaiser über Slawen und Ungarn.

§. 360.

Das geistige Prinzip wird zu dem die Welt ausschließenden Körper der
Kirche und gliedert sich zu dem reichen, in seiner ganzen Erscheinung pracht-
vollen Bau der Hierarchie mit dem Papst an der Spitze. Sie macht alles
Innerliche äußerlich, unterjocht die Welt, statt sie zu durchdringen, verkehrt
die sittlichen Grundwahrheiten, stellt dem in den eigensten Interessen des Geistes
unfreien Laien den Priester als stellvertretenden und bevormundenden Zauberer
gegenüber und nirgends ist Heimath, Vaterland. Trotz aller Selbstsucht hat
diese Unterjochung ihr Recht in der Rohheit, welche eine harte Zucht fordert.
In Kraft dieses Rechtes führen große Vertreter des kirchlichen Pathos, zugleich
aber Italiens gegen Deutschland, mit großen Kaisern den tragischen Kampf,
der die Seele des Mittelalters ist.

Die ganze Erscheinung der Kirche ist prachtvoll und unheimlich zu-
gleich. Die reichen Gewänder, die Prozessionen, die feierlichen Acte,
der eigenthümliche Habitus des Priesters, würdig und fein, stolz und
anständig in weichen, sammtenen Bewegungen, das "gebenedeite" Gesicht,
die vielen anschaulichen Dinge, das Knieen, Händefalten, das Rezitativ
der Litaneien: das Alles gibt viel und fest ausgeprägten Stoff, aber in
dieser Schönheit liegt auch Grauen der Heimathlosigkeit, Irrsinn der
Unfreiheit, organisirtes Außersichsein des Geistes; im Rührenden selbst
lauert Wildfremdes und die devoten Stoffe werden nur dann erschöpft,
wenn dieß mit zur Darstellung kommt. Dieß ist nicht so im Heidenthum,
da ist Alles heraus, da sucht man gar keine Innerlichkeit. Die Kirche
aber verwaltet den reichen Schatz aufgeschlossener geistiger Freiheit, neuer
Herzenstiefen. Hier ist die Einheit und Allgemeinheit, die dem Staate

Eckig, hart, trotzig, aber immer gewaltige Erſcheinungen ſind dieſe vieleil
kleinen Herren, die Leiden des Volks vergißt man, weil man nichts
davon ſieht, und erfreut ſich des gediegenen Reſtes heidniſcher Ganzheit
in dieſen groben, ſtählernen Gewalthabern. Das Recht verkriecht ſich
als Vehme in ein äſthetiſch anziehendes Dunkel; am hellen Tag organiſirt
ſich das Fauſtrecht. Die Einheit und Allgemeinheit nun ſoll im Kaiſer
da ſein; man ſucht aber in den Geſchichten der Kaiſer vergeblich einen
wahrhaft nationalen Stoff: da iſt nichts Ueberſichtliches und Geſchloſſenes,
keine Hauptſtadt als Sitz des Monarchen, meiſt iſt er außer Lands und
hat es mit Italien zu thun. Deutſchland gibt der chriſtlichen Welt ihren
Kaiſer und hat daher ſelbſt keine Einheit, keine Heimath, keinen Schluß-
ſtein. Ungleich beſſerer Stoff im nationalen Sinne ſind die Siege der
ſächſiſchen Kaiſer über Slawen und Ungarn.

§. 360.

Das geiſtige Prinzip wird zu dem die Welt ausſchließenden Körper der
Kirche und gliedert ſich zu dem reichen, in ſeiner ganzen Erſcheinung pracht-
vollen Bau der Hierarchie mit dem Papſt an der Spitze. Sie macht alles
Innerliche äußerlich, unterjocht die Welt, ſtatt ſie zu durchdringen, verkehrt
die ſittlichen Grundwahrheiten, ſtellt dem in den eigenſten Intereſſen des Geiſtes
unfreien Laien den Prieſter als ſtellvertretenden und bevormundenden Zauberer
gegenüber und nirgends iſt Heimath, Vaterland. Trotz aller Selbſtſucht hat
dieſe Unterjochung ihr Recht in der Rohheit, welche eine harte Zucht fordert.
In Kraft dieſes Rechtes führen große Vertreter des kirchlichen Pathos, zugleich
aber Italiens gegen Deutſchland, mit großen Kaiſern den tragiſchen Kampf,
der die Seele des Mittelalters iſt.

Die ganze Erſcheinung der Kirche iſt prachtvoll und unheimlich zu-
gleich. Die reichen Gewänder, die Prozeſſionen, die feierlichen Acte,
der eigenthümliche Habitus des Prieſters, würdig und fein, ſtolz und
anſtändig in weichen, ſammtenen Bewegungen, das „gebenedeite“ Geſicht,
die vielen anſchaulichen Dinge, das Knieen, Händefalten, das Rezitativ
der Litaneien: das Alles gibt viel und feſt ausgeprägten Stoff, aber in
dieſer Schönheit liegt auch Grauen der Heimathloſigkeit, Irrſinn der
Unfreiheit, organiſirtes Außerſichſein des Geiſtes; im Rührenden ſelbſt
lauert Wildfremdes und die devoten Stoffe werden nur dann erſchöpft,
wenn dieß mit zur Darſtellung kommt. Dieß iſt nicht ſo im Heidenthum,
da iſt Alles heraus, da ſucht man gar keine Innerlichkeit. Die Kirche
aber verwaltet den reichen Schatz aufgeſchloſſener geiſtiger Freiheit, neuer
Herzenstiefen. Hier iſt die Einheit und Allgemeinheit, die dem Staate

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[256/0268] Eckig, hart, trotzig, aber immer gewaltige Erſcheinungen ſind dieſe vieleil kleinen Herren, die Leiden des Volks vergißt man, weil man nichts davon ſieht, und erfreut ſich des gediegenen Reſtes heidniſcher Ganzheit in dieſen groben, ſtählernen Gewalthabern. Das Recht verkriecht ſich als Vehme in ein äſthetiſch anziehendes Dunkel; am hellen Tag organiſirt ſich das Fauſtrecht. Die Einheit und Allgemeinheit nun ſoll im Kaiſer da ſein; man ſucht aber in den Geſchichten der Kaiſer vergeblich einen wahrhaft nationalen Stoff: da iſt nichts Ueberſichtliches und Geſchloſſenes, keine Hauptſtadt als Sitz des Monarchen, meiſt iſt er außer Lands und hat es mit Italien zu thun. Deutſchland gibt der chriſtlichen Welt ihren Kaiſer und hat daher ſelbſt keine Einheit, keine Heimath, keinen Schluß- ſtein. Ungleich beſſerer Stoff im nationalen Sinne ſind die Siege der ſächſiſchen Kaiſer über Slawen und Ungarn. §. 360. Das geiſtige Prinzip wird zu dem die Welt ausſchließenden Körper der Kirche und gliedert ſich zu dem reichen, in ſeiner ganzen Erſcheinung pracht- vollen Bau der Hierarchie mit dem Papſt an der Spitze. Sie macht alles Innerliche äußerlich, unterjocht die Welt, ſtatt ſie zu durchdringen, verkehrt die ſittlichen Grundwahrheiten, ſtellt dem in den eigenſten Intereſſen des Geiſtes unfreien Laien den Prieſter als ſtellvertretenden und bevormundenden Zauberer gegenüber und nirgends iſt Heimath, Vaterland. Trotz aller Selbſtſucht hat dieſe Unterjochung ihr Recht in der Rohheit, welche eine harte Zucht fordert. In Kraft dieſes Rechtes führen große Vertreter des kirchlichen Pathos, zugleich aber Italiens gegen Deutſchland, mit großen Kaiſern den tragiſchen Kampf, der die Seele des Mittelalters iſt. Die ganze Erſcheinung der Kirche iſt prachtvoll und unheimlich zu- gleich. Die reichen Gewänder, die Prozeſſionen, die feierlichen Acte, der eigenthümliche Habitus des Prieſters, würdig und fein, ſtolz und anſtändig in weichen, ſammtenen Bewegungen, das „gebenedeite“ Geſicht, die vielen anſchaulichen Dinge, das Knieen, Händefalten, das Rezitativ der Litaneien: das Alles gibt viel und feſt ausgeprägten Stoff, aber in dieſer Schönheit liegt auch Grauen der Heimathloſigkeit, Irrſinn der Unfreiheit, organiſirtes Außerſichſein des Geiſtes; im Rührenden ſelbſt lauert Wildfremdes und die devoten Stoffe werden nur dann erſchöpft, wenn dieß mit zur Darſtellung kommt. Dieß iſt nicht ſo im Heidenthum, da iſt Alles heraus, da ſucht man gar keine Innerlichkeit. Die Kirche aber verwaltet den reichen Schatz aufgeſchloſſener geiſtiger Freiheit, neuer Herzenstiefen. Hier iſt die Einheit und Allgemeinheit, die dem Staate

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/268>, abgerufen am 16.04.2024.