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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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hier kommt sie in Betracht als Vollendung des objectiven Bildes einer Zeit
und so, wie sie ja auch für andere Künste Gegenstand sein kann. Was
nun die Tracht betrifft, so ist zur Zeit der Kreuzzüge zwar das durch die
Germanen eingeführte Neue noch keineswegs so als Motiv benützt, daß
es nicht noch immer von dem aufgenommenen Antiken überdeckt wäre: es
werden namentlich noch die Ueberwürfe getragen, die aus der alten
Tunica und Dalmatica gebildet sind; aber als Zugabe zum Alten regt
sich überall Glanz und Pracht. In Nachahmung des Byzantinischen eignet
sich Rang und Würde die lange Tunica als Auszeichnung an. Die
Kleidung wird überhaupt als Rangzeichen fixirt, namentlich der asiatische
Hut spielt eine Rolle als Herzogshut, Bischofsmütze. Die Kaiserkrone
wird über eine seidene Haube aufgesetzt. Goldgewirkte Stoffe, Seide,
Sammt, Zobel, Hermelin, Stickereien, Besätze von Borden, Tüllen, reiche
Hüte, bei den Frauen Schapel und Gebände, häufig von Gold, Schleppen,
Schminke, bei Männern und Frauen prachtvolle Gürtel, Ringe, Armspangen.
Grelle Farben liebt man noch mehr, als früher. Die Waffen besonders wer-
den reich; die volle Eisenrüstung sieht man noch nicht, doch schützen neben
Schild und gepolstertem Leder die reichen Kettenhemden, die Panzerhosen;
dazu die spitzen Helme des Orients mit Nasenschirm, die damascirten, einge-
legten Klingen, goldenen, mit Edelsteinen besetzten Griffe, die brillanten
Dolche u. s. w. Selbst das Pferd trägt über prachtvollen Cuvertüren eiserne
Rüstung. Die Kämpfe der nordischen Eisenmänner mit den windschnellen,
flüchtigen arabischen Reitern im fliegenden Burnus geben ein Bild voll schöner
Gegensätze. Zelte, Polster, Teppiche, Geräthe voll reicher Pracht und bunter
Arabesken findet man mit allen jenen Formen schon im Nibelungenlied. Wie
nun feine Sitte Pflicht wird, verändert sich auch Haltung, Bewegung. Eine
naive Grazie, etwas eingelernt und tänzerhaft, ein Neigen und Beugen,
Füße sehr auswärts Setzen wird stehende Form. Die Umgangsmanieren
werden "hövsch". Eigenthümlich ist die Haltung der Frauen; sie halten
den Oberleib zurück und drücken den Unterleib hervor, wie man es wohl
bei kleinen Mädchen sieht. Die allgemeine Frömmigkeit bestimmt zugleich
von ihrer Seite Gebärden und Haltung: ein demüthiges, rührendes
Senken des Kopfs nach der Seite ist gewöhnlicher habitus. Die Männer
schneiden die Haare ziemlich kurz und nehmen sich den Bart ab. Die
Barbarei des Bartabnehmens galt ebenso im späteren Griechenland und
Rom für Bildung; im Mittelalter drang namentlich die Kirche darauf. --
Der neue Glanz machte die Erde wohnlich, reiche Festlust drang in bunten
Formen hervor, Turniere, Tänze, Mummenschanz, Narrenfeste, die
selbst der Kirche galten, u. s. w. Die romanischen Völker setzten die
Saturnalien als Carneval fort und übergaben sie den Deutschen. Hier
sieht man, wie lustig das Mittelalter war und zugleich wie erfinderisch

hier kommt ſie in Betracht als Vollendung des objectiven Bildes einer Zeit
und ſo, wie ſie ja auch für andere Künſte Gegenſtand ſein kann. Was
nun die Tracht betrifft, ſo iſt zur Zeit der Kreuzzüge zwar das durch die
Germanen eingeführte Neue noch keineswegs ſo als Motiv benützt, daß
es nicht noch immer von dem aufgenommenen Antiken überdeckt wäre: es
werden namentlich noch die Ueberwürfe getragen, die aus der alten
Tunica und Dalmatica gebildet ſind; aber als Zugabe zum Alten regt
ſich überall Glanz und Pracht. In Nachahmung des Byzantiniſchen eignet
ſich Rang und Würde die lange Tunica als Auszeichnung an. Die
Kleidung wird überhaupt als Rangzeichen fixirt, namentlich der aſiatiſche
Hut ſpielt eine Rolle als Herzogshut, Biſchofsmütze. Die Kaiſerkrone
wird über eine ſeidene Haube aufgeſetzt. Goldgewirkte Stoffe, Seide,
Sammt, Zobel, Hermelin, Stickereien, Beſätze von Borden, Tüllen, reiche
Hüte, bei den Frauen Schapel und Gebände, häufig von Gold, Schleppen,
Schminke, bei Männern und Frauen prachtvolle Gürtel, Ringe, Armſpangen.
Grelle Farben liebt man noch mehr, als früher. Die Waffen beſonders wer-
den reich; die volle Eiſenrüſtung ſieht man noch nicht, doch ſchützen neben
Schild und gepolſtertem Leder die reichen Kettenhemden, die Panzerhoſen;
dazu die ſpitzen Helme des Orients mit Naſenſchirm, die damaſcirten, einge-
legten Klingen, goldenen, mit Edelſteinen beſetzten Griffe, die brillanten
Dolche u. ſ. w. Selbſt das Pferd trägt über prachtvollen Cuvertüren eiſerne
Rüſtung. Die Kämpfe der nordiſchen Eiſenmänner mit den windſchnellen,
flüchtigen arabiſchen Reitern im fliegenden Burnus geben ein Bild voll ſchöner
Gegenſätze. Zelte, Polſter, Teppiche, Geräthe voll reicher Pracht und bunter
Arabeſken findet man mit allen jenen Formen ſchon im Nibelungenlied. Wie
nun feine Sitte Pflicht wird, verändert ſich auch Haltung, Bewegung. Eine
naive Grazie, etwas eingelernt und tänzerhaft, ein Neigen und Beugen,
Füße ſehr auswärts Setzen wird ſtehende Form. Die Umgangsmanieren
werden „hövsch“. Eigenthümlich iſt die Haltung der Frauen; ſie halten
den Oberleib zurück und drücken den Unterleib hervor, wie man es wohl
bei kleinen Mädchen ſieht. Die allgemeine Frömmigkeit beſtimmt zugleich
von ihrer Seite Gebärden und Haltung: ein demüthiges, rührendes
Senken des Kopfs nach der Seite iſt gewöhnlicher habitus. Die Männer
ſchneiden die Haare ziemlich kurz und nehmen ſich den Bart ab. Die
Barbarei des Bartabnehmens galt ebenſo im ſpäteren Griechenland und
Rom für Bildung; im Mittelalter drang namentlich die Kirche darauf. —
Der neue Glanz machte die Erde wohnlich, reiche Feſtluſt drang in bunten
Formen hervor, Turniere, Tänze, Mummenſchanz, Narrenfeſte, die
ſelbſt der Kirche galten, u. ſ. w. Die romaniſchen Völker ſetzten die
Saturnalien als Carneval fort und übergaben ſie den Deutſchen. Hier
ſieht man, wie luſtig das Mittelalter war und zugleich wie erfinderiſch

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[260/0272] hier kommt ſie in Betracht als Vollendung des objectiven Bildes einer Zeit und ſo, wie ſie ja auch für andere Künſte Gegenſtand ſein kann. Was nun die Tracht betrifft, ſo iſt zur Zeit der Kreuzzüge zwar das durch die Germanen eingeführte Neue noch keineswegs ſo als Motiv benützt, daß es nicht noch immer von dem aufgenommenen Antiken überdeckt wäre: es werden namentlich noch die Ueberwürfe getragen, die aus der alten Tunica und Dalmatica gebildet ſind; aber als Zugabe zum Alten regt ſich überall Glanz und Pracht. In Nachahmung des Byzantiniſchen eignet ſich Rang und Würde die lange Tunica als Auszeichnung an. Die Kleidung wird überhaupt als Rangzeichen fixirt, namentlich der aſiatiſche Hut ſpielt eine Rolle als Herzogshut, Biſchofsmütze. Die Kaiſerkrone wird über eine ſeidene Haube aufgeſetzt. Goldgewirkte Stoffe, Seide, Sammt, Zobel, Hermelin, Stickereien, Beſätze von Borden, Tüllen, reiche Hüte, bei den Frauen Schapel und Gebände, häufig von Gold, Schleppen, Schminke, bei Männern und Frauen prachtvolle Gürtel, Ringe, Armſpangen. Grelle Farben liebt man noch mehr, als früher. Die Waffen beſonders wer- den reich; die volle Eiſenrüſtung ſieht man noch nicht, doch ſchützen neben Schild und gepolſtertem Leder die reichen Kettenhemden, die Panzerhoſen; dazu die ſpitzen Helme des Orients mit Naſenſchirm, die damaſcirten, einge- legten Klingen, goldenen, mit Edelſteinen beſetzten Griffe, die brillanten Dolche u. ſ. w. Selbſt das Pferd trägt über prachtvollen Cuvertüren eiſerne Rüſtung. Die Kämpfe der nordiſchen Eiſenmänner mit den windſchnellen, flüchtigen arabiſchen Reitern im fliegenden Burnus geben ein Bild voll ſchöner Gegenſätze. Zelte, Polſter, Teppiche, Geräthe voll reicher Pracht und bunter Arabeſken findet man mit allen jenen Formen ſchon im Nibelungenlied. Wie nun feine Sitte Pflicht wird, verändert ſich auch Haltung, Bewegung. Eine naive Grazie, etwas eingelernt und tänzerhaft, ein Neigen und Beugen, Füße ſehr auswärts Setzen wird ſtehende Form. Die Umgangsmanieren werden „hövsch“. Eigenthümlich iſt die Haltung der Frauen; ſie halten den Oberleib zurück und drücken den Unterleib hervor, wie man es wohl bei kleinen Mädchen ſieht. Die allgemeine Frömmigkeit beſtimmt zugleich von ihrer Seite Gebärden und Haltung: ein demüthiges, rührendes Senken des Kopfs nach der Seite iſt gewöhnlicher habitus. Die Männer ſchneiden die Haare ziemlich kurz und nehmen ſich den Bart ab. Die Barbarei des Bartabnehmens galt ebenſo im ſpäteren Griechenland und Rom für Bildung; im Mittelalter drang namentlich die Kirche darauf. — Der neue Glanz machte die Erde wohnlich, reiche Feſtluſt drang in bunten Formen hervor, Turniere, Tänze, Mummenſchanz, Narrenfeſte, die ſelbſt der Kirche galten, u. ſ. w. Die romaniſchen Völker ſetzten die Saturnalien als Carneval fort und übergaben ſie den Deutſchen. Hier ſieht man, wie luſtig das Mittelalter war und zugleich wie erfinderiſch

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/272>, abgerufen am 25.04.2024.