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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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auf den Seiten aufgeschlitzten Ueberwurf (Hoike), theils in einen längeren
Ueberrock mit Aermeln übergegangen. Diese verschwanden, als das Wamms
aufkam, dann griff der unruhige Formendurst wieder darnach. Die Hoike
zwar blieb nur den Geistlichen als Chorhemd, den Herolden als Waffenrock,
dagegen erscheint die Dalmatica wieder als allgemeiner Ueberwurf (in
Deutschland unter dem Namen Schaube oder Tappert), wird vorn in
der Mitte ganz aufgeschlitzt und so die Grundlage des späteren Rocks.
War nun aber in Wamms und Hose die Grundform spannend, glatt an
den Leib gegossen, so kam zugleich ein bunter, ja närrischer Aufputz aller
Art, namentlich in den Kopfbedeckungen, in Gebrauch: die Kapuzen
(Gugeln, Kappen) gingen aus der geistlichen Tracht in die weltliche
über und wurden allgemein, ebenso Hauben und Hüte, vorher Aus-
zeichnung höheren Standes; sie werden mit Pelzwerk, Perlen, Stickereien
besetzt, der Hut verlängert seine Krämpe nach vornen. Die Gugeln hatten
lang herabhängende Zipfel, an deren Ende häufig Schellen wie auch an
den reichen Gürteln, Schuhen, Schilden befestigt wurden; Troddeln,
Nestel, Züge, Tuch von zwei oder mehr Farben an Wamms und Hosen,
lange Schnabelschuhe (sog. Kraniche), worin man kaum gehen konnte:
alles dieß vermehrte die Buntheit der Tracht. Eigenthümlich sind die
thurmartig hohen Kopfbedeckungen der Weiber mit hinten überhängender
Leinwand; man sieht sie noch in Franken und in der Normandie. Wie
in der Buntheit der Kleidung nun erst der scheckige Geist des Mittelalters
eigentlich aufgeht, so wird nun auch das Kriegsgewand zu der den
ganzen Körper bedeckenden Rüstung, bezeichnend genug für die kriegerische,
eckige, schimmernde, stachlichte Zeit. Der Schild verschwindet, da die
ganze Rüstung ein solcher wird, gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts.
Namentlich sind es die Franzosen, von denen die neue Eleganz ausgieng
und welche nun anfingen, Europa als Schöpfer der Mode zu beherrschen.
Die Mode ist Bestimmung der Kleidung durch Reflexion und Absicht.
Hinter dieser sitzt allerdings ein Instinct und unbewußtes Gesetz, welches
zwingt, das den sittlichen und geistigen Zustand der Zeit Bezeichnende zu
erfinden: ein Typus, der dann eine Epoche hindurch herrscht. Innerhalb
dieses länger herrschenden Typus aber wechselt nun die Form in kurzen
Zwischenräumen, denn die Absicht und Reflexion ist unmüßig, will stets
aufs Neue zeigen, daß sie Schöpferin ihres Werks ist, zupft und zieht
jeden Frühling und Herbst daran, gibt das gefundene Passende an eine
Grille wieder auf und hat keine Ruhe. Doch fängt dieß Modewesen
erst an, es kann die nationalen Unterschiede und die vom Markte der
Bildung abliegenden Volkstrachten noch nicht aufheben. Diese sind stehend,
gelten als Nothwendigkeit, erben auf Kindskinder, man fragt nicht, ob sie
dem Einzelnen gut lassen. Zwar wirkt der Modewechsel von Zeit zu Zeit

auf den Seiten aufgeſchlitzten Ueberwurf (Hoike), theils in einen längeren
Ueberrock mit Aermeln übergegangen. Dieſe verſchwanden, als das Wamms
aufkam, dann griff der unruhige Formendurſt wieder darnach. Die Hoike
zwar blieb nur den Geiſtlichen als Chorhemd, den Herolden als Waffenrock,
dagegen erſcheint die Dalmatica wieder als allgemeiner Ueberwurf (in
Deutſchland unter dem Namen Schaube oder Tappert), wird vorn in
der Mitte ganz aufgeſchlitzt und ſo die Grundlage des ſpäteren Rocks.
War nun aber in Wamms und Hoſe die Grundform ſpannend, glatt an
den Leib gegoſſen, ſo kam zugleich ein bunter, ja närriſcher Aufputz aller
Art, namentlich in den Kopfbedeckungen, in Gebrauch: die Kapuzen
(Gugeln, Kappen) gingen aus der geiſtlichen Tracht in die weltliche
über und wurden allgemein, ebenſo Hauben und Hüte, vorher Aus-
zeichnung höheren Standes; ſie werden mit Pelzwerk, Perlen, Stickereien
beſetzt, der Hut verlängert ſeine Krämpe nach vornen. Die Gugeln hatten
lang herabhängende Zipfel, an deren Ende häufig Schellen wie auch an
den reichen Gürteln, Schuhen, Schilden befeſtigt wurden; Troddeln,
Neſtel, Züge, Tuch von zwei oder mehr Farben an Wamms und Hoſen,
lange Schnabelſchuhe (ſog. Kraniche), worin man kaum gehen konnte:
alles dieß vermehrte die Buntheit der Tracht. Eigenthümlich ſind die
thurmartig hohen Kopfbedeckungen der Weiber mit hinten überhängender
Leinwand; man ſieht ſie noch in Franken und in der Normandie. Wie
in der Buntheit der Kleidung nun erſt der ſcheckige Geiſt des Mittelalters
eigentlich aufgeht, ſo wird nun auch das Kriegsgewand zu der den
ganzen Körper bedeckenden Rüſtung, bezeichnend genug für die kriegeriſche,
eckige, ſchimmernde, ſtachlichte Zeit. Der Schild verſchwindet, da die
ganze Rüſtung ein ſolcher wird, gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts.
Namentlich ſind es die Franzoſen, von denen die neue Eleganz ausgieng
und welche nun anfingen, Europa als Schöpfer der Mode zu beherrſchen.
Die Mode iſt Beſtimmung der Kleidung durch Reflexion und Abſicht.
Hinter dieſer ſitzt allerdings ein Inſtinct und unbewußtes Geſetz, welches
zwingt, das den ſittlichen und geiſtigen Zuſtand der Zeit Bezeichnende zu
erfinden: ein Typus, der dann eine Epoche hindurch herrſcht. Innerhalb
dieſes länger herrſchenden Typus aber wechſelt nun die Form in kurzen
Zwiſchenräumen, denn die Abſicht und Reflexion iſt unmüßig, will ſtets
aufs Neue zeigen, daß ſie Schöpferin ihres Werks iſt, zupft und zieht
jeden Frühling und Herbſt daran, gibt das gefundene Paſſende an eine
Grille wieder auf und hat keine Ruhe. Doch fängt dieß Modeweſen
erſt an, es kann die nationalen Unterſchiede und die vom Markte der
Bildung abliegenden Volkstrachten noch nicht aufheben. Dieſe ſind ſtehend,
gelten als Nothwendigkeit, erben auf Kindskinder, man fragt nicht, ob ſie
dem Einzelnen gut laſſen. Zwar wirkt der Modewechſel von Zeit zu Zeit

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[266/0278] auf den Seiten aufgeſchlitzten Ueberwurf (Hoike), theils in einen längeren Ueberrock mit Aermeln übergegangen. Dieſe verſchwanden, als das Wamms aufkam, dann griff der unruhige Formendurſt wieder darnach. Die Hoike zwar blieb nur den Geiſtlichen als Chorhemd, den Herolden als Waffenrock, dagegen erſcheint die Dalmatica wieder als allgemeiner Ueberwurf (in Deutſchland unter dem Namen Schaube oder Tappert), wird vorn in der Mitte ganz aufgeſchlitzt und ſo die Grundlage des ſpäteren Rocks. War nun aber in Wamms und Hoſe die Grundform ſpannend, glatt an den Leib gegoſſen, ſo kam zugleich ein bunter, ja närriſcher Aufputz aller Art, namentlich in den Kopfbedeckungen, in Gebrauch: die Kapuzen (Gugeln, Kappen) gingen aus der geiſtlichen Tracht in die weltliche über und wurden allgemein, ebenſo Hauben und Hüte, vorher Aus- zeichnung höheren Standes; ſie werden mit Pelzwerk, Perlen, Stickereien beſetzt, der Hut verlängert ſeine Krämpe nach vornen. Die Gugeln hatten lang herabhängende Zipfel, an deren Ende häufig Schellen wie auch an den reichen Gürteln, Schuhen, Schilden befeſtigt wurden; Troddeln, Neſtel, Züge, Tuch von zwei oder mehr Farben an Wamms und Hoſen, lange Schnabelſchuhe (ſog. Kraniche), worin man kaum gehen konnte: alles dieß vermehrte die Buntheit der Tracht. Eigenthümlich ſind die thurmartig hohen Kopfbedeckungen der Weiber mit hinten überhängender Leinwand; man ſieht ſie noch in Franken und in der Normandie. Wie in der Buntheit der Kleidung nun erſt der ſcheckige Geiſt des Mittelalters eigentlich aufgeht, ſo wird nun auch das Kriegsgewand zu der den ganzen Körper bedeckenden Rüſtung, bezeichnend genug für die kriegeriſche, eckige, ſchimmernde, ſtachlichte Zeit. Der Schild verſchwindet, da die ganze Rüſtung ein ſolcher wird, gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Namentlich ſind es die Franzoſen, von denen die neue Eleganz ausgieng und welche nun anfingen, Europa als Schöpfer der Mode zu beherrſchen. Die Mode iſt Beſtimmung der Kleidung durch Reflexion und Abſicht. Hinter dieſer ſitzt allerdings ein Inſtinct und unbewußtes Geſetz, welches zwingt, das den ſittlichen und geiſtigen Zuſtand der Zeit Bezeichnende zu erfinden: ein Typus, der dann eine Epoche hindurch herrſcht. Innerhalb dieſes länger herrſchenden Typus aber wechſelt nun die Form in kurzen Zwiſchenräumen, denn die Abſicht und Reflexion iſt unmüßig, will ſtets aufs Neue zeigen, daß ſie Schöpferin ihres Werks iſt, zupft und zieht jeden Frühling und Herbſt daran, gibt das gefundene Paſſende an eine Grille wieder auf und hat keine Ruhe. Doch fängt dieß Modeweſen erſt an, es kann die nationalen Unterſchiede und die vom Markte der Bildung abliegenden Volkstrachten noch nicht aufheben. Dieſe ſind ſtehend, gelten als Nothwendigkeit, erben auf Kindskinder, man fragt nicht, ob ſie dem Einzelnen gut laſſen. Zwar wirkt der Modewechſel von Zeit zu Zeit

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/278>, abgerufen am 23.04.2024.