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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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der Reformation wird von edlen Agitatoren zum Gedanken einer
politischen erweitert und jener kurze, furchtbare, von den Bauern unklug
geführte, von der adelichen Militärmacht, die hier zum erstenmal als
innere Polizei auftritt, so grausam beendigte Krieg bricht los. Da
lügen Momente für ein Drama, grob und stark, wie wir es bedürfen
und wie es doch die verwöhnten Nerven unserer Zeit schwerlich ertragen
könnten. Mit der Dämpfung dieser so berechtigten Bewegung, wobei
Luther durch seine servile Haltung seinem großen Charakter einen ewigen
Flecken anhängte, ist es ausgesprochen, daß die Reformation, statt sich
zur Idee der wahren Freiheit zu entwickeln, stockt und zu einer, eben-
darum nur halben, Befreiung des Innern im religiösen Gebiete sich ein-
mengt. Ja sie gibt sich her, der vereinzelten Vergrößerungslust der
Territorialgewalt als Vorwand zu dienen. Nimmermehr darf man ihr
darum vorwerfen, sie trage die Schuld der Zerreissung Deutschlands.
Am Kaiserthum lag es, die neue Bewegung zu verstehen, zu ergreifen,
in seine Hand zu nehmen, mit ihrer Hilfe Kraft gegen die Liga zu
gewinnen und Deutschland die monarchische Einheit zu geben, durch die
es, wie die andern europäischen Staaten, den Uebergang in die neue
Zeit hätte machen sollen.

3. England: die Reformation ist unvollkommen. Heinrich VIII.,
ein geschichtlicher Blaubart. Thomas More. Die katholische Maria:
Johanna Gray. Elisabeth, Maria Stuart, spanische Armada. Abfall
der Niederlande: Egmont, Horn, Oranien, Alba, dann die großen
Schlachten, die blutigen Stürme, durchaus eine Fundgrube von großen
Stoffen. Hugenotten in Frankreich, Carl IX, Katharina von Medici,
Coligny, Greuel des Religionskrieges, Bartholomäusnacht. Heinrich IV,
Navaillac. Hier, in Frankreich namentlich, zeigt sich schon, was der §.
als erste Wirkung des dreißigjährigen Kriegs nennt: Entfeßlung der
Leidenschaft
. Eine pathetische Erregtheit und Wildheit ist der Charakter
des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts. Nicht nur die Reformation
hat die subjective Freiheit zum Bewußtsein ihrer selbst gebracht und die
Parteiung in der Welt entzündet, sondern alle Parteien haben dieß
gemeinsam, daß nun der Mensch sich und seine Zwecke als berechtigt
fühlt. Die Welt wird politisch; der sittliche Gehalt der Reformation ist
zu innerlich, um in die Politik Sittlichkeit einzuführen, und die katholische
Kirche kann es nicht wollen, da wacht mit der subjectiven Entbindung
die vielstimmige Welt der Triebe und Leidenschaften erst in ihrer Mannig-
faltigkeit auf, mit ihr blutige Grausamkeit, tückische List, aber anders als
im Mittelalter, nämlich nicht im Contrast mit inniger Andacht, sondern
gewissenlos selbstsüchtig, ja gewollt und daher mit pathetischem Schwunge.
Besonders die französische Nationalität, die nach Voltaires bitterem

der Reformation wird von edlen Agitatoren zum Gedanken einer
politiſchen erweitert und jener kurze, furchtbare, von den Bauern unklug
geführte, von der adelichen Militärmacht, die hier zum erſtenmal als
innere Polizei auftritt, ſo grauſam beendigte Krieg bricht los. Da
lügen Momente für ein Drama, grob und ſtark, wie wir es bedürfen
und wie es doch die verwöhnten Nerven unſerer Zeit ſchwerlich ertragen
könnten. Mit der Dämpfung dieſer ſo berechtigten Bewegung, wobei
Luther durch ſeine ſervile Haltung ſeinem großen Charakter einen ewigen
Flecken anhängte, iſt es ausgeſprochen, daß die Reformation, ſtatt ſich
zur Idee der wahren Freiheit zu entwickeln, ſtockt und zu einer, eben-
darum nur halben, Befreiung des Innern im religiöſen Gebiete ſich ein-
mengt. Ja ſie gibt ſich her, der vereinzelten Vergrößerungsluſt der
Territorialgewalt als Vorwand zu dienen. Nimmermehr darf man ihr
darum vorwerfen, ſie trage die Schuld der Zerreiſſung Deutſchlands.
Am Kaiſerthum lag es, die neue Bewegung zu verſtehen, zu ergreifen,
in ſeine Hand zu nehmen, mit ihrer Hilfe Kraft gegen die Liga zu
gewinnen und Deutſchland die monarchiſche Einheit zu geben, durch die
es, wie die andern europäiſchen Staaten, den Uebergang in die neue
Zeit hätte machen ſollen.

3. England: die Reformation iſt unvollkommen. Heinrich VIII.,
ein geſchichtlicher Blaubart. Thomas More. Die katholiſche Maria:
Johanna Gray. Eliſabeth, Maria Stuart, ſpaniſche Armada. Abfall
der Niederlande: Egmont, Horn, Oranien, Alba, dann die großen
Schlachten, die blutigen Stürme, durchaus eine Fundgrube von großen
Stoffen. Hugenotten in Frankreich, Carl IX, Katharina von Medici,
Coligny, Greuel des Religionskrieges, Bartholomäusnacht. Heinrich IV,
Navaillac. Hier, in Frankreich namentlich, zeigt ſich ſchon, was der §.
als erſte Wirkung des dreißigjährigen Kriegs nennt: Entfeßlung der
Leidenſchaft
. Eine pathetiſche Erregtheit und Wildheit iſt der Charakter
des ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhunderts. Nicht nur die Reformation
hat die ſubjective Freiheit zum Bewußtſein ihrer ſelbſt gebracht und die
Parteiung in der Welt entzündet, ſondern alle Parteien haben dieß
gemeinſam, daß nun der Menſch ſich und ſeine Zwecke als berechtigt
fühlt. Die Welt wird politiſch; der ſittliche Gehalt der Reformation iſt
zu innerlich, um in die Politik Sittlichkeit einzuführen, und die katholiſche
Kirche kann es nicht wollen, da wacht mit der ſubjectiven Entbindung
die vielſtimmige Welt der Triebe und Leidenſchaften erſt in ihrer Mannig-
faltigkeit auf, mit ihr blutige Grauſamkeit, tückiſche Liſt, aber anders als
im Mittelalter, nämlich nicht im Contraſt mit inniger Andacht, ſondern
gewiſſenlos ſelbſtſüchtig, ja gewollt und daher mit pathetiſchem Schwunge.
Beſonders die franzöſiſche Nationalität, die nach Voltaires bitterem

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[274/0286] der Reformation wird von edlen Agitatoren zum Gedanken einer politiſchen erweitert und jener kurze, furchtbare, von den Bauern unklug geführte, von der adelichen Militärmacht, die hier zum erſtenmal als innere Polizei auftritt, ſo grauſam beendigte Krieg bricht los. Da lügen Momente für ein Drama, grob und ſtark, wie wir es bedürfen und wie es doch die verwöhnten Nerven unſerer Zeit ſchwerlich ertragen könnten. Mit der Dämpfung dieſer ſo berechtigten Bewegung, wobei Luther durch ſeine ſervile Haltung ſeinem großen Charakter einen ewigen Flecken anhängte, iſt es ausgeſprochen, daß die Reformation, ſtatt ſich zur Idee der wahren Freiheit zu entwickeln, ſtockt und zu einer, eben- darum nur halben, Befreiung des Innern im religiöſen Gebiete ſich ein- mengt. Ja ſie gibt ſich her, der vereinzelten Vergrößerungsluſt der Territorialgewalt als Vorwand zu dienen. Nimmermehr darf man ihr darum vorwerfen, ſie trage die Schuld der Zerreiſſung Deutſchlands. Am Kaiſerthum lag es, die neue Bewegung zu verſtehen, zu ergreifen, in ſeine Hand zu nehmen, mit ihrer Hilfe Kraft gegen die Liga zu gewinnen und Deutſchland die monarchiſche Einheit zu geben, durch die es, wie die andern europäiſchen Staaten, den Uebergang in die neue Zeit hätte machen ſollen. 3. England: die Reformation iſt unvollkommen. Heinrich VIII., ein geſchichtlicher Blaubart. Thomas More. Die katholiſche Maria: Johanna Gray. Eliſabeth, Maria Stuart, ſpaniſche Armada. Abfall der Niederlande: Egmont, Horn, Oranien, Alba, dann die großen Schlachten, die blutigen Stürme, durchaus eine Fundgrube von großen Stoffen. Hugenotten in Frankreich, Carl IX, Katharina von Medici, Coligny, Greuel des Religionskrieges, Bartholomäusnacht. Heinrich IV, Navaillac. Hier, in Frankreich namentlich, zeigt ſich ſchon, was der §. als erſte Wirkung des dreißigjährigen Kriegs nennt: Entfeßlung der Leidenſchaft. Eine pathetiſche Erregtheit und Wildheit iſt der Charakter des ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhunderts. Nicht nur die Reformation hat die ſubjective Freiheit zum Bewußtſein ihrer ſelbſt gebracht und die Parteiung in der Welt entzündet, ſondern alle Parteien haben dieß gemeinſam, daß nun der Menſch ſich und ſeine Zwecke als berechtigt fühlt. Die Welt wird politiſch; der ſittliche Gehalt der Reformation iſt zu innerlich, um in die Politik Sittlichkeit einzuführen, und die katholiſche Kirche kann es nicht wollen, da wacht mit der ſubjectiven Entbindung die vielſtimmige Welt der Triebe und Leidenſchaften erſt in ihrer Mannig- faltigkeit auf, mit ihr blutige Grauſamkeit, tückiſche Liſt, aber anders als im Mittelalter, nämlich nicht im Contraſt mit inniger Andacht, ſondern gewiſſenlos ſelbſtſüchtig, ja gewollt und daher mit pathetiſchem Schwunge. Beſonders die franzöſiſche Nationalität, die nach Voltaires bitterem

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/286>, abgerufen am 24.04.2024.