Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

ungeheure Bilder; namentlich wo große Natur mitwirkt, in Aegypten,
den Alpen, Spanien. Unbekannte Völker, Nationaltrachten treten auf
und geben Form und Farbe. Aber hinter Allem, was erscheint, spinnt
perfide Politik; in dieser ist Napoleon als moderner Held noch ungleich
gespenstischer, unsinnlich raffinirter und dem ästhetisch Darstellbaren wider-
wärtiger, als die alten Römer in ihrem Eroberungssystem. Deutschland
erwacht, befreit sich; auch hier verderbt freilich das politische Intrikenspiel,
das hinter den begeisterten Kriegern wie ihre Ironie sich ausbreitet, ihre
blutigen Opfer durch einen verkehrten Friedensvertrag um die schönsten
Erfolge täuscht, das schöne Bild des Vordergrunds.

2. Was die Napoleonische Zeit positiv durch Einführung moderner
Ideen, Institute, Sturz veralteter Zustände, negativ durch Entwicklung
der Nationalkräfte und des nationalen Selbstgefühls gewirkt, dieß Alles
geht uns im ästhetischen Zusammenhange mittelbar an, sofern Hoffnung
ist, daß es sich zu durchgreifend neuen Zuständen fortbilde, deren Wesen
schönere Formen mit sich bringen muß. Auf die Befreiung folgt die
Restauration, eine Zeit patriarchalischer Täuschungen. Das constitutionelle
Leben, ein vorläufig wohlthätiges Palliativ des wahren Staats macht Fort-
schritte in einigen Ländern. Preußen täuscht bis zur neuesten Einlenkung
am schlimmsten, weil es so großen Beruf in Deutschland hat und den
schreiendsten Widerspruch innerer Bildung und politischer Würde des
Menschen gewaltsam festhält. Oestreich verharrt absolut monarchisch in
seiner chinesischen Geistesmauer. Die Revolution von 1830, mit dem
Aufstand und tragischen Untergang Polens im Gefolge, verbreitet den
modernen Liberalismus. Der Zustand ist eklektisch. Dazu gehört besonders
die fortdauernde, aus dem Mittelalter überlieferte Zweiheit der Seelen
im Staate, das Verhältniß von Staat und Kirche. Was aber überall
alle Schönheit des Daseins tödtet, ist der allgemeine Mechanismus des
Staatslebens. Dieser hat zwar seinen Grund in der, durch die Auf-
klärung, die blos negative und halbe nämlich, verbreiteten Trockenheit und
Ledernheit aller Anschauung überhaupt, noch mehr aber im Standpunkte
der Monarchie. Sie bedingt fortwährend den Beamtenstaat, die Bureau-
kratie, das zu viel Regieren, die Vielschreiberei, die Polizei als ein allge-
meines Zwangshemd, das keine freie und freudige Regung duldet, das
stehende Heer, das wesentlich Waffe der Polizei ist u. s. w. Der Mensch,
insbesondere der Deutsche, wird nun vollends das Wesen, das jeden
Augenblick aussieht, als fürchte es, ein. Polizeidiener stehe hinter ihm.
Alles geht am Schnürchen, nach geschriebenen und gedruckten Normen. Der
Respect und das Avancement ist hier Pathos. Die Vielheit der Geschäfte
verlangt, daß Einer sein Leben lang Tag aus Tag ein dasselbe treibe,
ohne Zeit zu haben für Anderes, für das allgemein Menschliche. Der

Vischer's Aesthetik 2. Band. 19

ungeheure Bilder; namentlich wo große Natur mitwirkt, in Aegypten,
den Alpen, Spanien. Unbekannte Völker, Nationaltrachten treten auf
und geben Form und Farbe. Aber hinter Allem, was erſcheint, ſpinnt
perfide Politik; in dieſer iſt Napoleon als moderner Held noch ungleich
geſpenſtiſcher, unſinnlich raffinirter und dem äſthetiſch Darſtellbaren wider-
wärtiger, als die alten Römer in ihrem Eroberungsſyſtem. Deutſchland
erwacht, befreit ſich; auch hier verderbt freilich das politiſche Intrikenſpiel,
das hinter den begeiſterten Kriegern wie ihre Ironie ſich ausbreitet, ihre
blutigen Opfer durch einen verkehrten Friedensvertrag um die ſchönſten
Erfolge täuſcht, das ſchöne Bild des Vordergrunds.

2. Was die Napoleoniſche Zeit poſitiv durch Einführung moderner
Ideen, Inſtitute, Sturz veralteter Zuſtände, negativ durch Entwicklung
der Nationalkräfte und des nationalen Selbſtgefühls gewirkt, dieß Alles
geht uns im äſthetiſchen Zuſammenhange mittelbar an, ſofern Hoffnung
iſt, daß es ſich zu durchgreifend neuen Zuſtänden fortbilde, deren Weſen
ſchönere Formen mit ſich bringen muß. Auf die Befreiung folgt die
Reſtauration, eine Zeit patriarchaliſcher Täuſchungen. Das conſtitutionelle
Leben, ein vorläufig wohlthätiges Palliativ des wahren Staats macht Fort-
ſchritte in einigen Ländern. Preußen täuſcht bis zur neueſten Einlenkung
am ſchlimmſten, weil es ſo großen Beruf in Deutſchland hat und den
ſchreiendſten Widerſpruch innerer Bildung und politiſcher Würde des
Menſchen gewaltſam feſthält. Oeſtreich verharrt abſolut monarchiſch in
ſeiner chineſiſchen Geiſtesmauer. Die Revolution von 1830, mit dem
Aufſtand und tragiſchen Untergang Polens im Gefolge, verbreitet den
modernen Liberaliſmus. Der Zuſtand iſt eklektiſch. Dazu gehört beſonders
die fortdauernde, aus dem Mittelalter überlieferte Zweiheit der Seelen
im Staate, das Verhältniß von Staat und Kirche. Was aber überall
alle Schönheit des Daſeins tödtet, iſt der allgemeine Mechaniſmus des
Staatslebens. Dieſer hat zwar ſeinen Grund in der, durch die Auf-
klärung, die blos negative und halbe nämlich, verbreiteten Trockenheit und
Ledernheit aller Anſchauung überhaupt, noch mehr aber im Standpunkte
der Monarchie. Sie bedingt fortwährend den Beamtenſtaat, die Bureau-
kratie, das zu viel Regieren, die Vielſchreiberei, die Polizei als ein allge-
meines Zwangshemd, das keine freie und freudige Regung duldet, das
ſtehende Heer, das weſentlich Waffe der Polizei iſt u. ſ. w. Der Menſch,
insbeſondere der Deutſche, wird nun vollends das Weſen, das jeden
Augenblick ausſieht, als fürchte es, ein. Polizeidiener ſtehe hinter ihm.
Alles geht am Schnürchen, nach geſchriebenen und gedruckten Normen. Der
Reſpect und das Avancement iſt hier Pathos. Die Vielheit der Geſchäfte
verlangt, daß Einer ſein Leben lang Tag aus Tag ein daſſelbe treibe,
ohne Zeit zu haben für Anderes, für das allgemein Menſchliche. Der

Viſcher’s Aeſthetik 2. Band. 19
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0301" n="289"/>
ungeheure Bilder; namentlich wo große Natur mitwirkt, in Aegypten,<lb/>
den Alpen, Spanien. Unbekannte Völker, Nationaltrachten treten auf<lb/>
und geben Form und Farbe. Aber hinter Allem, was er&#x017F;cheint, &#x017F;pinnt<lb/>
perfide Politik; in die&#x017F;er i&#x017F;t Napoleon als moderner Held noch ungleich<lb/>
ge&#x017F;pen&#x017F;ti&#x017F;cher, un&#x017F;innlich raffinirter und dem ä&#x017F;theti&#x017F;ch Dar&#x017F;tellbaren wider-<lb/>
wärtiger, als die alten Römer in ihrem Eroberungs&#x017F;y&#x017F;tem. Deut&#x017F;chland<lb/>
erwacht, befreit &#x017F;ich; auch hier verderbt freilich das politi&#x017F;che Intriken&#x017F;piel,<lb/>
das hinter den begei&#x017F;terten Kriegern wie ihre Ironie &#x017F;ich ausbreitet, ihre<lb/>
blutigen Opfer durch einen verkehrten Friedensvertrag um die &#x017F;chön&#x017F;ten<lb/>
Erfolge täu&#x017F;cht, das &#x017F;chöne Bild des Vordergrunds.</hi> </p><lb/>
                    <p> <hi rendition="#et">2. Was die Napoleoni&#x017F;che Zeit po&#x017F;itiv durch Einführung moderner<lb/>
Ideen, In&#x017F;titute, Sturz veralteter Zu&#x017F;tände, negativ durch Entwicklung<lb/>
der Nationalkräfte und des nationalen Selb&#x017F;tgefühls gewirkt, dieß Alles<lb/>
geht uns im ä&#x017F;theti&#x017F;chen Zu&#x017F;ammenhange mittelbar an, &#x017F;ofern Hoffnung<lb/>
i&#x017F;t, daß es &#x017F;ich zu durchgreifend neuen Zu&#x017F;tänden fortbilde, deren We&#x017F;en<lb/>
&#x017F;chönere Formen mit &#x017F;ich bringen muß. Auf die Befreiung folgt die<lb/>
Re&#x017F;tauration, eine Zeit patriarchali&#x017F;cher Täu&#x017F;chungen. Das con&#x017F;titutionelle<lb/>
Leben, ein vorläufig wohlthätiges Palliativ des wahren Staats macht Fort-<lb/>
&#x017F;chritte in einigen Ländern. Preußen täu&#x017F;cht bis zur neue&#x017F;ten Einlenkung<lb/>
am &#x017F;chlimm&#x017F;ten, weil es &#x017F;o großen Beruf in Deut&#x017F;chland hat und den<lb/>
&#x017F;chreiend&#x017F;ten Wider&#x017F;pruch innerer Bildung und politi&#x017F;cher Würde des<lb/>
Men&#x017F;chen gewalt&#x017F;am fe&#x017F;thält. Oe&#x017F;treich verharrt ab&#x017F;olut monarchi&#x017F;ch in<lb/>
&#x017F;einer chine&#x017F;i&#x017F;chen Gei&#x017F;tesmauer. Die Revolution von 1830, mit dem<lb/>
Auf&#x017F;tand und tragi&#x017F;chen Untergang Polens im Gefolge, verbreitet den<lb/>
modernen Liberali&#x017F;mus. Der Zu&#x017F;tand i&#x017F;t eklekti&#x017F;ch. Dazu gehört be&#x017F;onders<lb/>
die fortdauernde, aus dem Mittelalter überlieferte Zweiheit der Seelen<lb/>
im Staate, das Verhältniß von Staat und Kirche. Was aber überall<lb/>
alle Schönheit des Da&#x017F;eins tödtet, i&#x017F;t der allgemeine Mechani&#x017F;mus des<lb/>
Staatslebens. Die&#x017F;er hat zwar &#x017F;einen Grund in der, durch die Auf-<lb/>
klärung, die blos negative und halbe nämlich, verbreiteten Trockenheit und<lb/>
Ledernheit aller An&#x017F;chauung überhaupt, noch mehr aber im Standpunkte<lb/>
der Monarchie. Sie bedingt fortwährend den Beamten&#x017F;taat, die Bureau-<lb/>
kratie, das zu viel Regieren, die Viel&#x017F;chreiberei, die Polizei als ein allge-<lb/>
meines Zwangshemd, das keine freie und freudige Regung duldet, das<lb/>
&#x017F;tehende Heer, das we&#x017F;entlich Waffe der Polizei i&#x017F;t u. &#x017F;. w. Der Men&#x017F;ch,<lb/>
insbe&#x017F;ondere der Deut&#x017F;che, wird nun vollends das We&#x017F;en, das jeden<lb/>
Augenblick aus&#x017F;ieht, als fürchte es, ein. Polizeidiener &#x017F;tehe hinter ihm.<lb/>
Alles geht am Schnürchen, nach ge&#x017F;chriebenen und gedruckten Normen. Der<lb/>
Re&#x017F;pect und das Avancement i&#x017F;t hier Pathos. Die Vielheit der Ge&#x017F;chäfte<lb/>
verlangt, daß Einer &#x017F;ein Leben lang Tag aus Tag ein da&#x017F;&#x017F;elbe treibe,<lb/>
ohne Zeit zu haben für Anderes, für das allgemein Men&#x017F;chliche. Der</hi><lb/>
                      <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Vi&#x017F;cher&#x2019;s</hi> Ae&#x017F;thetik 2. Band. 19</fw><lb/>
                    </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[289/0301] ungeheure Bilder; namentlich wo große Natur mitwirkt, in Aegypten, den Alpen, Spanien. Unbekannte Völker, Nationaltrachten treten auf und geben Form und Farbe. Aber hinter Allem, was erſcheint, ſpinnt perfide Politik; in dieſer iſt Napoleon als moderner Held noch ungleich geſpenſtiſcher, unſinnlich raffinirter und dem äſthetiſch Darſtellbaren wider- wärtiger, als die alten Römer in ihrem Eroberungsſyſtem. Deutſchland erwacht, befreit ſich; auch hier verderbt freilich das politiſche Intrikenſpiel, das hinter den begeiſterten Kriegern wie ihre Ironie ſich ausbreitet, ihre blutigen Opfer durch einen verkehrten Friedensvertrag um die ſchönſten Erfolge täuſcht, das ſchöne Bild des Vordergrunds. 2. Was die Napoleoniſche Zeit poſitiv durch Einführung moderner Ideen, Inſtitute, Sturz veralteter Zuſtände, negativ durch Entwicklung der Nationalkräfte und des nationalen Selbſtgefühls gewirkt, dieß Alles geht uns im äſthetiſchen Zuſammenhange mittelbar an, ſofern Hoffnung iſt, daß es ſich zu durchgreifend neuen Zuſtänden fortbilde, deren Weſen ſchönere Formen mit ſich bringen muß. Auf die Befreiung folgt die Reſtauration, eine Zeit patriarchaliſcher Täuſchungen. Das conſtitutionelle Leben, ein vorläufig wohlthätiges Palliativ des wahren Staats macht Fort- ſchritte in einigen Ländern. Preußen täuſcht bis zur neueſten Einlenkung am ſchlimmſten, weil es ſo großen Beruf in Deutſchland hat und den ſchreiendſten Widerſpruch innerer Bildung und politiſcher Würde des Menſchen gewaltſam feſthält. Oeſtreich verharrt abſolut monarchiſch in ſeiner chineſiſchen Geiſtesmauer. Die Revolution von 1830, mit dem Aufſtand und tragiſchen Untergang Polens im Gefolge, verbreitet den modernen Liberaliſmus. Der Zuſtand iſt eklektiſch. Dazu gehört beſonders die fortdauernde, aus dem Mittelalter überlieferte Zweiheit der Seelen im Staate, das Verhältniß von Staat und Kirche. Was aber überall alle Schönheit des Daſeins tödtet, iſt der allgemeine Mechaniſmus des Staatslebens. Dieſer hat zwar ſeinen Grund in der, durch die Auf- klärung, die blos negative und halbe nämlich, verbreiteten Trockenheit und Ledernheit aller Anſchauung überhaupt, noch mehr aber im Standpunkte der Monarchie. Sie bedingt fortwährend den Beamtenſtaat, die Bureau- kratie, das zu viel Regieren, die Vielſchreiberei, die Polizei als ein allge- meines Zwangshemd, das keine freie und freudige Regung duldet, das ſtehende Heer, das weſentlich Waffe der Polizei iſt u. ſ. w. Der Menſch, insbeſondere der Deutſche, wird nun vollends das Weſen, das jeden Augenblick ausſieht, als fürchte es, ein. Polizeidiener ſtehe hinter ihm. Alles geht am Schnürchen, nach geſchriebenen und gedruckten Normen. Der Reſpect und das Avancement iſt hier Pathos. Die Vielheit der Geſchäfte verlangt, daß Einer ſein Leben lang Tag aus Tag ein daſſelbe treibe, ohne Zeit zu haben für Anderes, für das allgemein Menſchliche. Der Viſcher’s Aeſthetik 2. Band. 19

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/301
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/301>, abgerufen am 25.04.2024.