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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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einander einnehmen, machen nicht bunt, sondern indem sie einander erhöhend
ergänzen, stellen sie das gesuchte Gleichgewicht her. Oft hält man die
Bemalung eines Hauses, eine Tapete, einen Zeug für zu bunt, wo er
vielmehr nicht bunt genug, richtiger nicht energisch genug in Farbe ist.
Schreit die blaue Farbe eines Hauses, so meine man nicht, sie wäre ab-
zuwaschen, vielmehr fehlt die zweite Farbe, die an Gesimsen, Läden u. s. w.
anzubringen wäre, nämlich Orange. Dieses Beispiel und der ganze §.
scheint Absicht und Kunst vorauszusetzen, wir scheinen den Satz so wenden
zu sollen, daß der rechte Maler die Grundfarben in ihrer Pracht ausbreiten
müsse; allein abermals ist zu sagen, daß der glückliche Zufall unzähligemal
die rechten und vollen Farbenverbindungen dem Maler hinstellt, so daß
er ausrufen muß, besser als dießmal sei es nicht zu treffen. Uebrigens
versteht sich, daß in einem solchen gegebenen Ganzen allerdings Producte
der Technik, Kleider, Pferdezeug, Fahnen, Mauerverkleidungen mit dem
Licht der Sonne, des Feuers, den Farben der Erde, der Pflanzen-, der
Thierwelt und dem Colorit des menschlichen Leibes zusammenwirken können,
ohne daß wir darum das Gebiet der Naturschönheit verlassen, denn jene
Producte des Kunstfleißes sind in diesem Zusammenhang, wiewohl an sich
beabsichtigt, zufällige Schönheit. -- Die Meinung in dem vorliegenden
Satze ist jedoch nicht, daß alle Grundfarben in gleicher Breite herrschen
sollen; es kommt auf den Grundton an, welche vortreten, welche zurück-
treten müssen: ist er lebhaft, so fordert das Auge, daß die lichtarmen, ist
er sanft, traurig, daß die lichtreichen Farben wenig Raum einnehmen. Das
Wesentliche ist nur immer, daß das Auge die Forderung eines Vor-
kommens der Hauptfarben macht, in welchen Proportionen es auch geschehen
mag, daß also die Farbe eine gewisse ästhetische Selbständigkeit behauptet.

2. Die Uebergangsfarben, die verschiedenen Abstufungen in Ver-
dünnung und Vertiefung (Töne), die verschiedenen Schattirungen treten
nun als vermittelnde, hinüberführende Leiter zwischen die Hauptfarben.
Diese Mittelfarben erscheinen namentlich an den Stellen, wo die Körper
sich nicht mehr dem vollen Lichte zukehren, daher ihre Farben sich durch
Reflexe vermischen, wie denn z. B. in den Falten eines Gewands gewisse
schillernde Widerscheine auftreten, ebenso in den Vertiefungen des mensch-
lichen Incarnats. An eben diesen mehr oder minder zurücktretenden, ab-
gewendeten Stellen verschwindet aber mit der Bestimmtheit der Beleuchtung
auch die Bestimmtheit der Gestalt. Nun wirkt das Helldunkel (§. 248)
zusammen mit der Farbe und dieses allein reicht hin, den bestimmten
Charakter einer Farbe in's Unbestimmte abzudämpfen. Hier nun ist es,
wo erst der ganze Reiz der Farbenwelt eintritt: die bestimmten Farben
treten hervor, verschweben aber miteinander durch diese geheimnißvollen
Zwischentöne in ein Meer, eine Musik von Tönen. Zugleich tritt Farbe

einander einnehmen, machen nicht bunt, ſondern indem ſie einander erhöhend
ergänzen, ſtellen ſie das geſuchte Gleichgewicht her. Oft hält man die
Bemalung eines Hauſes, eine Tapete, einen Zeug für zu bunt, wo er
vielmehr nicht bunt genug, richtiger nicht energiſch genug in Farbe iſt.
Schreit die blaue Farbe eines Hauſes, ſo meine man nicht, ſie wäre ab-
zuwaſchen, vielmehr fehlt die zweite Farbe, die an Geſimſen, Läden u. ſ. w.
anzubringen wäre, nämlich Orange. Dieſes Beiſpiel und der ganze §.
ſcheint Abſicht und Kunſt vorauszuſetzen, wir ſcheinen den Satz ſo wenden
zu ſollen, daß der rechte Maler die Grundfarben in ihrer Pracht ausbreiten
müſſe; allein abermals iſt zu ſagen, daß der glückliche Zufall unzähligemal
die rechten und vollen Farbenverbindungen dem Maler hinſtellt, ſo daß
er ausrufen muß, beſſer als dießmal ſei es nicht zu treffen. Uebrigens
verſteht ſich, daß in einem ſolchen gegebenen Ganzen allerdings Producte
der Technik, Kleider, Pferdezeug, Fahnen, Mauerverkleidungen mit dem
Licht der Sonne, des Feuers, den Farben der Erde, der Pflanzen-, der
Thierwelt und dem Colorit des menſchlichen Leibes zuſammenwirken können,
ohne daß wir darum das Gebiet der Naturſchönheit verlaſſen, denn jene
Producte des Kunſtfleißes ſind in dieſem Zuſammenhang, wiewohl an ſich
beabſichtigt, zufällige Schönheit. — Die Meinung in dem vorliegenden
Satze iſt jedoch nicht, daß alle Grundfarben in gleicher Breite herrſchen
ſollen; es kommt auf den Grundton an, welche vortreten, welche zurück-
treten müſſen: iſt er lebhaft, ſo fordert das Auge, daß die lichtarmen, iſt
er ſanft, traurig, daß die lichtreichen Farben wenig Raum einnehmen. Das
Weſentliche iſt nur immer, daß das Auge die Forderung eines Vor-
kommens der Hauptfarben macht, in welchen Proportionen es auch geſchehen
mag, daß alſo die Farbe eine gewiſſe äſthetiſche Selbſtändigkeit behauptet.

2. Die Uebergangsfarben, die verſchiedenen Abſtufungen in Ver-
dünnung und Vertiefung (Töne), die verſchiedenen Schattirungen treten
nun als vermittelnde, hinüberführende Leiter zwiſchen die Hauptfarben.
Dieſe Mittelfarben erſcheinen namentlich an den Stellen, wo die Körper
ſich nicht mehr dem vollen Lichte zukehren, daher ihre Farben ſich durch
Reflexe vermiſchen, wie denn z. B. in den Falten eines Gewands gewiſſe
ſchillernde Widerſcheine auftreten, ebenſo in den Vertiefungen des menſch-
lichen Incarnats. An eben dieſen mehr oder minder zurücktretenden, ab-
gewendeten Stellen verſchwindet aber mit der Beſtimmtheit der Beleuchtung
auch die Beſtimmtheit der Geſtalt. Nun wirkt das Helldunkel (§. 248)
zuſammen mit der Farbe und dieſes allein reicht hin, den beſtimmten
Charakter einer Farbe in’s Unbeſtimmte abzudämpfen. Hier nun iſt es,
wo erſt der ganze Reiz der Farbenwelt eintritt: die beſtimmten Farben
treten hervor, verſchweben aber miteinander durch dieſe geheimnißvollen
Zwiſchentöne in ein Meer, eine Muſik von Tönen. Zugleich tritt Farbe

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[54/0066] einander einnehmen, machen nicht bunt, ſondern indem ſie einander erhöhend ergänzen, ſtellen ſie das geſuchte Gleichgewicht her. Oft hält man die Bemalung eines Hauſes, eine Tapete, einen Zeug für zu bunt, wo er vielmehr nicht bunt genug, richtiger nicht energiſch genug in Farbe iſt. Schreit die blaue Farbe eines Hauſes, ſo meine man nicht, ſie wäre ab- zuwaſchen, vielmehr fehlt die zweite Farbe, die an Geſimſen, Läden u. ſ. w. anzubringen wäre, nämlich Orange. Dieſes Beiſpiel und der ganze §. ſcheint Abſicht und Kunſt vorauszuſetzen, wir ſcheinen den Satz ſo wenden zu ſollen, daß der rechte Maler die Grundfarben in ihrer Pracht ausbreiten müſſe; allein abermals iſt zu ſagen, daß der glückliche Zufall unzähligemal die rechten und vollen Farbenverbindungen dem Maler hinſtellt, ſo daß er ausrufen muß, beſſer als dießmal ſei es nicht zu treffen. Uebrigens verſteht ſich, daß in einem ſolchen gegebenen Ganzen allerdings Producte der Technik, Kleider, Pferdezeug, Fahnen, Mauerverkleidungen mit dem Licht der Sonne, des Feuers, den Farben der Erde, der Pflanzen-, der Thierwelt und dem Colorit des menſchlichen Leibes zuſammenwirken können, ohne daß wir darum das Gebiet der Naturſchönheit verlaſſen, denn jene Producte des Kunſtfleißes ſind in dieſem Zuſammenhang, wiewohl an ſich beabſichtigt, zufällige Schönheit. — Die Meinung in dem vorliegenden Satze iſt jedoch nicht, daß alle Grundfarben in gleicher Breite herrſchen ſollen; es kommt auf den Grundton an, welche vortreten, welche zurück- treten müſſen: iſt er lebhaft, ſo fordert das Auge, daß die lichtarmen, iſt er ſanft, traurig, daß die lichtreichen Farben wenig Raum einnehmen. Das Weſentliche iſt nur immer, daß das Auge die Forderung eines Vor- kommens der Hauptfarben macht, in welchen Proportionen es auch geſchehen mag, daß alſo die Farbe eine gewiſſe äſthetiſche Selbſtändigkeit behauptet. 2. Die Uebergangsfarben, die verſchiedenen Abſtufungen in Ver- dünnung und Vertiefung (Töne), die verſchiedenen Schattirungen treten nun als vermittelnde, hinüberführende Leiter zwiſchen die Hauptfarben. Dieſe Mittelfarben erſcheinen namentlich an den Stellen, wo die Körper ſich nicht mehr dem vollen Lichte zukehren, daher ihre Farben ſich durch Reflexe vermiſchen, wie denn z. B. in den Falten eines Gewands gewiſſe ſchillernde Widerſcheine auftreten, ebenſo in den Vertiefungen des menſch- lichen Incarnats. An eben dieſen mehr oder minder zurücktretenden, ab- gewendeten Stellen verſchwindet aber mit der Beſtimmtheit der Beleuchtung auch die Beſtimmtheit der Geſtalt. Nun wirkt das Helldunkel (§. 248) zuſammen mit der Farbe und dieſes allein reicht hin, den beſtimmten Charakter einer Farbe in’s Unbeſtimmte abzudämpfen. Hier nun iſt es, wo erſt der ganze Reiz der Farbenwelt eintritt: die beſtimmten Farben treten hervor, verſchweben aber miteinander durch dieſe geheimnißvollen Zwiſchentöne in ein Meer, eine Muſik von Tönen. Zugleich tritt Farbe

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/66>, abgerufen am 29.03.2024.