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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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stehen können. Mit der Linie nun verhält es sich anders; sie ist keine
selbständige elementarische Potenz, wie Licht und Luft, sie ist nur die
Grenze eines Körpers und zeigt das Bildungsgesetz auf, nach welchem er
seinen Stoff auf allen Punkten bis dahin und nicht weiter vom Mittel-
punkte nach außen treibt. Ein Körper kann nun allerdings mehr durch
Linien, als durch Farben, Ausdruck u. s. w. wirken, allein es wird, wenn
man vom Reize der Linie spricht, nicht nur natürlich vorausgesetzt, daß
sie ein Object habe, an dem sie erscheine, wie Licht und Farbe, sondern
sie ist schlechtweg identisch mit ihrem Körper, ist gar nichts für sich.
Noch viel weniger, als bei den bisher betrachteten elementarischen
Erscheinungen, kann also von einer Schönheit der Linie an sich die
Rede seyn. Aber auch als mathematisch regelmäßige Grenze eines wirk-
lichen Körpers kann sie ästhetisch niemals in Betracht kommen, denn da
fehlt ihr die Zufälligkeit, d. h. relative Unregelmäßigkeit, welche die
nothwendige Folge der unendlichen Eigenheit jedes selbständigen, lebendigen
Individuums ist. Daher beruht eine bekannte Stelle Plato's auf einem
Mißverständnisse. Er läßt im Philebus den Sokrates sagen: "Schönheit
der Gestalten (skhematon) will ich jetzt nicht, wie die Meisten wohl
glauben möchten, die der lebenden Körper oder gewisser Gemälde nennen;
sondern ich nenne etwas gerade, sagt meine Rede, und etwas rund und
somit denn die Flächen und Körper, die gehobelt und gedreht und mit
Winkel und Wage bestimmt werden, wenn du mich verstehst. Denn diese,
sage ich, sind nicht in Beziehung auf etwas schön, wie Anderes, sondern
immer an und für sich ihrer Natur nach und führen eigene Arten von
Lust mit sich, die nichts mit denen des Kitzels gemein haben; (und auch
Farben sind in derselben Weise schön und von Lust begleitet)." Zunächst
muß man den klaren Formensinn in dieser Stelle hochhalten; wer nicht
weiß, wie das Auge in den reinen Formen einer Woge, eines Berges
und in höherem Sinne freilich einer organischen Gestalt schwelgen kann,
versteht sie nicht. Das Mißverständniß aber ist dieß, daß Plato meint,
sobald er die Linie als Begrenzung wirklicher Naturkörper herbeiziehe, so
werde von etwas Stoffartigem die Rede, weil zu jedem wirklichen Körper
eine Beziehung der Neigung oder Abneigung, also ästhetisch unreines
Verhalten möglich ist. Daher faßt er die Linie in ihrer Abstractheit auf,
denn der Körper, den er allerdings voraussetzt, wenn er von Drehen,
Hobeln u. s. w. spricht, ist hier blos gleichgiltiges Mittel; er erwägt nicht,
daß so mechanisch, mathematisch streng ausgeführt die Linie zwar eines
Theils allerdings einen Ansatz reiner Lust gewährt, aber nur, um diese
in die lange Weile der Einförmigkeit wieder aufzuheben, sofern nicht die,
hieher gar nicht gehörige, Lust des wissenschaftlichen Erkennens an ihre
Stelle tritt. Die Linie setzt einen bestimmten Körper, dessen Grenze sie

ſtehen können. Mit der Linie nun verhält es ſich anders; ſie iſt keine
ſelbſtändige elementariſche Potenz, wie Licht und Luft, ſie iſt nur die
Grenze eines Körpers und zeigt das Bildungsgeſetz auf, nach welchem er
ſeinen Stoff auf allen Punkten bis dahin und nicht weiter vom Mittel-
punkte nach außen treibt. Ein Körper kann nun allerdings mehr durch
Linien, als durch Farben, Ausdruck u. ſ. w. wirken, allein es wird, wenn
man vom Reize der Linie ſpricht, nicht nur natürlich vorausgeſetzt, daß
ſie ein Object habe, an dem ſie erſcheine, wie Licht und Farbe, ſondern
ſie iſt ſchlechtweg identiſch mit ihrem Körper, iſt gar nichts für ſich.
Noch viel weniger, als bei den bisher betrachteten elementariſchen
Erſcheinungen, kann alſo von einer Schönheit der Linie an ſich die
Rede ſeyn. Aber auch als mathematiſch regelmäßige Grenze eines wirk-
lichen Körpers kann ſie äſthetiſch niemals in Betracht kommen, denn da
fehlt ihr die Zufälligkeit, d. h. relative Unregelmäßigkeit, welche die
nothwendige Folge der unendlichen Eigenheit jedes ſelbſtändigen, lebendigen
Individuums iſt. Daher beruht eine bekannte Stelle Plato’s auf einem
Mißverſtändniſſe. Er läßt im Philebus den Sokrates ſagen: „Schönheit
der Geſtalten (σχημάτων) will ich jetzt nicht, wie die Meiſten wohl
glauben möchten, die der lebenden Körper oder gewiſſer Gemälde nennen;
ſondern ich nenne etwas gerade, ſagt meine Rede, und etwas rund und
ſomit denn die Flächen und Körper, die gehobelt und gedreht und mit
Winkel und Wage beſtimmt werden, wenn du mich verſtehſt. Denn dieſe,
ſage ich, ſind nicht in Beziehung auf etwas ſchön, wie Anderes, ſondern
immer an und für ſich ihrer Natur nach und führen eigene Arten von
Luſt mit ſich, die nichts mit denen des Kitzels gemein haben; (und auch
Farben ſind in derſelben Weiſe ſchön und von Luſt begleitet).“ Zunächſt
muß man den klaren Formenſinn in dieſer Stelle hochhalten; wer nicht
weiß, wie das Auge in den reinen Formen einer Woge, eines Berges
und in höherem Sinne freilich einer organiſchen Geſtalt ſchwelgen kann,
verſteht ſie nicht. Das Mißverſtändniß aber iſt dieß, daß Plato meint,
ſobald er die Linie als Begrenzung wirklicher Naturkörper herbeiziehe, ſo
werde von etwas Stoffartigem die Rede, weil zu jedem wirklichen Körper
eine Beziehung der Neigung oder Abneigung, alſo äſthetiſch unreines
Verhalten möglich iſt. Daher faßt er die Linie in ihrer Abſtractheit auf,
denn der Körper, den er allerdings vorausſetzt, wenn er von Drehen,
Hobeln u. ſ. w. ſpricht, iſt hier blos gleichgiltiges Mittel; er erwägt nicht,
daß ſo mechaniſch, mathematiſch ſtreng ausgeführt die Linie zwar eines
Theils allerdings einen Anſatz reiner Luſt gewährt, aber nur, um dieſe
in die lange Weile der Einförmigkeit wieder aufzuheben, ſofern nicht die,
hieher gar nicht gehörige, Luſt des wiſſenſchaftlichen Erkennens an ihre
Stelle tritt. Die Linie ſetzt einen beſtimmten Körper, deſſen Grenze ſie

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[60/0072] ſtehen können. Mit der Linie nun verhält es ſich anders; ſie iſt keine ſelbſtändige elementariſche Potenz, wie Licht und Luft, ſie iſt nur die Grenze eines Körpers und zeigt das Bildungsgeſetz auf, nach welchem er ſeinen Stoff auf allen Punkten bis dahin und nicht weiter vom Mittel- punkte nach außen treibt. Ein Körper kann nun allerdings mehr durch Linien, als durch Farben, Ausdruck u. ſ. w. wirken, allein es wird, wenn man vom Reize der Linie ſpricht, nicht nur natürlich vorausgeſetzt, daß ſie ein Object habe, an dem ſie erſcheine, wie Licht und Farbe, ſondern ſie iſt ſchlechtweg identiſch mit ihrem Körper, iſt gar nichts für ſich. Noch viel weniger, als bei den bisher betrachteten elementariſchen Erſcheinungen, kann alſo von einer Schönheit der Linie an ſich die Rede ſeyn. Aber auch als mathematiſch regelmäßige Grenze eines wirk- lichen Körpers kann ſie äſthetiſch niemals in Betracht kommen, denn da fehlt ihr die Zufälligkeit, d. h. relative Unregelmäßigkeit, welche die nothwendige Folge der unendlichen Eigenheit jedes ſelbſtändigen, lebendigen Individuums iſt. Daher beruht eine bekannte Stelle Plato’s auf einem Mißverſtändniſſe. Er läßt im Philebus den Sokrates ſagen: „Schönheit der Geſtalten (σχημάτων) will ich jetzt nicht, wie die Meiſten wohl glauben möchten, die der lebenden Körper oder gewiſſer Gemälde nennen; ſondern ich nenne etwas gerade, ſagt meine Rede, und etwas rund und ſomit denn die Flächen und Körper, die gehobelt und gedreht und mit Winkel und Wage beſtimmt werden, wenn du mich verſtehſt. Denn dieſe, ſage ich, ſind nicht in Beziehung auf etwas ſchön, wie Anderes, ſondern immer an und für ſich ihrer Natur nach und führen eigene Arten von Luſt mit ſich, die nichts mit denen des Kitzels gemein haben; (und auch Farben ſind in derſelben Weiſe ſchön und von Luſt begleitet).“ Zunächſt muß man den klaren Formenſinn in dieſer Stelle hochhalten; wer nicht weiß, wie das Auge in den reinen Formen einer Woge, eines Berges und in höherem Sinne freilich einer organiſchen Geſtalt ſchwelgen kann, verſteht ſie nicht. Das Mißverſtändniß aber iſt dieß, daß Plato meint, ſobald er die Linie als Begrenzung wirklicher Naturkörper herbeiziehe, ſo werde von etwas Stoffartigem die Rede, weil zu jedem wirklichen Körper eine Beziehung der Neigung oder Abneigung, alſo äſthetiſch unreines Verhalten möglich iſt. Daher faßt er die Linie in ihrer Abſtractheit auf, denn der Körper, den er allerdings vorausſetzt, wenn er von Drehen, Hobeln u. ſ. w. ſpricht, iſt hier blos gleichgiltiges Mittel; er erwägt nicht, daß ſo mechaniſch, mathematiſch ſtreng ausgeführt die Linie zwar eines Theils allerdings einen Anſatz reiner Luſt gewährt, aber nur, um dieſe in die lange Weile der Einförmigkeit wieder aufzuheben, ſofern nicht die, hieher gar nicht gehörige, Luſt des wiſſenſchaftlichen Erkennens an ihre Stelle tritt. Die Linie ſetzt einen beſtimmten Körper, deſſen Grenze ſie

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/72>, abgerufen am 24.04.2024.