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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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ist, voraus, und zwar einen nicht von der Absicht messenden Thuns,
sondern von der unbewußt bauenden Naturkraft geschaffenen, und durch
dessen Individualität tritt auch die gesonderte Abweichung von der Regel,
die Zufälligkeit ein. Daß aber ein solcher Körper nicht stoffartige Luft
errege, dazu ist freilich ein bestimmter Standpunkt der Betrachtung voraus-
gesetzt; für jetzt genügt es zu sagen, es scheine wenigstens, daß das
Naturgebilde selbst es mit sich bringe, daß der Zuschauer diesen freien
Standpunkt einnehmen müsse; es wird sich aber freilich Anderes im Schlusse
der Lehre vom Naturschönen ergeben.

Wir fassen nun hier die Linie zuerst nur in ihrem flüchtigsten Gebiete
auf, um sie auf höhere Stufen zu verfolgen. Sie ist im Wasser durch
das mechanische Gesetz der unendlichen Glätte seiner Theile bedingt und
kann daher nicht zu einer festen Harmonie des Geraden und Gerundeten
sich bilden. Die wagrecht gerade Linie der ruhigen Wasserfläche nun
erreicht die Wirkung des Erhabenen des Raums (§. 91) bei einer
Ausdehnung, deren Grenze nicht abzusehen ist. Es ist dieß der eine
Grund der unendlichen ästhetischen Bedeutung des Meers. Dabei ist
jedoch auf irgend einer Seite eine Linie vorausgesetzt, welche die wagrechte
durchschneidet; die Meeresfläche muß sich von Uferformen u. drgl. absetzen,
damit das Auge einen Anhalt, Gegensatz habe, sonst wird das Gefühl
des Unendlichen zum Gefühl des unwirthlich Oeden, ja des Einförmigen.
Daß die Linie des Wasserspiegels hinter der durchbrechenden anderer Körper
in's Unendliche fortgesetzt werde, dafür sorgt der Sinn des Zuschauers.
Die senkrechte Linie zeigt sich in aufsteigenden Wasserstrahlen, -- daß
solche seltener durch Natur als durch Kunst entstehen, davon kann hier
abgesehen werden --, und in freien Abstürzen, d. h. in Wasserfällen,
welche, nachdem sie sich in geschwungener Linie über den Rand des Bettes
geworfen, nun in freier Luft gerade in die Tiefe fallen. Auch noch
ohne Rücksicht auf die wirkliche Bewegung wirkt diese Linie unruhiger; sie
erweitert das Gemüth nicht still und sachte, sondern reißt zur Bewunderung
und zum Schwindel fort. -- Eigentlich nun strebt das Wasser durch die
Glätte seiner Theile zur Kugelbildung und die Kugel ist, wenn man von
Form abstract mathematisch redet, die vollkommenste, denn sie ist allseitiges
Rund und das Runde, als in sich selbst zurückkehrend, die concreteste
Linie. Allein die Form in dieser Bedeutung überhaupt ist abstract, die
Schönheit fordert Form als Bildungsgesetz des lebendigen Individuums;
der lebendige Körper strebt, je vollkommener, allerdings desto mehr zum
Runden, aber nur zu Anklängen desselben, die er in seiner Freiheit
ebenso wieder verläßt. Der Wassertropfen nun hat Kugelform, aber nicht
nur ist er zu klein, um ästhetisch zu interessiren, sondern wo er durch
seinen frischen Schimmer dennoch das Auge anzieht, wird nichts weniger

iſt, voraus, und zwar einen nicht von der Abſicht meſſenden Thuns,
ſondern von der unbewußt bauenden Naturkraft geſchaffenen, und durch
deſſen Individualität tritt auch die geſonderte Abweichung von der Regel,
die Zufälligkeit ein. Daß aber ein ſolcher Körper nicht ſtoffartige Luft
errege, dazu iſt freilich ein beſtimmter Standpunkt der Betrachtung voraus-
geſetzt; für jetzt genügt es zu ſagen, es ſcheine wenigſtens, daß das
Naturgebilde ſelbſt es mit ſich bringe, daß der Zuſchauer dieſen freien
Standpunkt einnehmen müſſe; es wird ſich aber freilich Anderes im Schluſſe
der Lehre vom Naturſchönen ergeben.

Wir faſſen nun hier die Linie zuerſt nur in ihrem flüchtigſten Gebiete
auf, um ſie auf höhere Stufen zu verfolgen. Sie iſt im Waſſer durch
das mechaniſche Geſetz der unendlichen Glätte ſeiner Theile bedingt und
kann daher nicht zu einer feſten Harmonie des Geraden und Gerundeten
ſich bilden. Die wagrecht gerade Linie der ruhigen Waſſerfläche nun
erreicht die Wirkung des Erhabenen des Raums (§. 91) bei einer
Ausdehnung, deren Grenze nicht abzuſehen iſt. Es iſt dieß der eine
Grund der unendlichen äſthetiſchen Bedeutung des Meers. Dabei iſt
jedoch auf irgend einer Seite eine Linie vorausgeſetzt, welche die wagrechte
durchſchneidet; die Meeresfläche muß ſich von Uferformen u. drgl. abſetzen,
damit das Auge einen Anhalt, Gegenſatz habe, ſonſt wird das Gefühl
des Unendlichen zum Gefühl des unwirthlich Oeden, ja des Einförmigen.
Daß die Linie des Waſſerſpiegels hinter der durchbrechenden anderer Körper
in’s Unendliche fortgeſetzt werde, dafür ſorgt der Sinn des Zuſchauers.
Die ſenkrechte Linie zeigt ſich in aufſteigenden Waſſerſtrahlen, — daß
ſolche ſeltener durch Natur als durch Kunſt entſtehen, davon kann hier
abgeſehen werden —, und in freien Abſtürzen, d. h. in Waſſerfällen,
welche, nachdem ſie ſich in geſchwungener Linie über den Rand des Bettes
geworfen, nun in freier Luft gerade in die Tiefe fallen. Auch noch
ohne Rückſicht auf die wirkliche Bewegung wirkt dieſe Linie unruhiger; ſie
erweitert das Gemüth nicht ſtill und ſachte, ſondern reißt zur Bewunderung
und zum Schwindel fort. — Eigentlich nun ſtrebt das Waſſer durch die
Glätte ſeiner Theile zur Kugelbildung und die Kugel iſt, wenn man von
Form abſtract mathematiſch redet, die vollkommenſte, denn ſie iſt allſeitiges
Rund und das Runde, als in ſich ſelbſt zurückkehrend, die concreteſte
Linie. Allein die Form in dieſer Bedeutung überhaupt iſt abſtract, die
Schönheit fordert Form als Bildungsgeſetz des lebendigen Individuums;
der lebendige Körper ſtrebt, je vollkommener, allerdings deſto mehr zum
Runden, aber nur zu Anklängen desſelben, die er in ſeiner Freiheit
ebenſo wieder verläßt. Der Waſſertropfen nun hat Kugelform, aber nicht
nur iſt er zu klein, um äſthetiſch zu intereſſiren, ſondern wo er durch
ſeinen friſchen Schimmer dennoch das Auge anzieht, wird nichts weniger

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[61/0073] iſt, voraus, und zwar einen nicht von der Abſicht meſſenden Thuns, ſondern von der unbewußt bauenden Naturkraft geſchaffenen, und durch deſſen Individualität tritt auch die geſonderte Abweichung von der Regel, die Zufälligkeit ein. Daß aber ein ſolcher Körper nicht ſtoffartige Luft errege, dazu iſt freilich ein beſtimmter Standpunkt der Betrachtung voraus- geſetzt; für jetzt genügt es zu ſagen, es ſcheine wenigſtens, daß das Naturgebilde ſelbſt es mit ſich bringe, daß der Zuſchauer dieſen freien Standpunkt einnehmen müſſe; es wird ſich aber freilich Anderes im Schluſſe der Lehre vom Naturſchönen ergeben. Wir faſſen nun hier die Linie zuerſt nur in ihrem flüchtigſten Gebiete auf, um ſie auf höhere Stufen zu verfolgen. Sie iſt im Waſſer durch das mechaniſche Geſetz der unendlichen Glätte ſeiner Theile bedingt und kann daher nicht zu einer feſten Harmonie des Geraden und Gerundeten ſich bilden. Die wagrecht gerade Linie der ruhigen Waſſerfläche nun erreicht die Wirkung des Erhabenen des Raums (§. 91) bei einer Ausdehnung, deren Grenze nicht abzuſehen iſt. Es iſt dieß der eine Grund der unendlichen äſthetiſchen Bedeutung des Meers. Dabei iſt jedoch auf irgend einer Seite eine Linie vorausgeſetzt, welche die wagrechte durchſchneidet; die Meeresfläche muß ſich von Uferformen u. drgl. abſetzen, damit das Auge einen Anhalt, Gegenſatz habe, ſonſt wird das Gefühl des Unendlichen zum Gefühl des unwirthlich Oeden, ja des Einförmigen. Daß die Linie des Waſſerſpiegels hinter der durchbrechenden anderer Körper in’s Unendliche fortgeſetzt werde, dafür ſorgt der Sinn des Zuſchauers. Die ſenkrechte Linie zeigt ſich in aufſteigenden Waſſerſtrahlen, — daß ſolche ſeltener durch Natur als durch Kunſt entſtehen, davon kann hier abgeſehen werden —, und in freien Abſtürzen, d. h. in Waſſerfällen, welche, nachdem ſie ſich in geſchwungener Linie über den Rand des Bettes geworfen, nun in freier Luft gerade in die Tiefe fallen. Auch noch ohne Rückſicht auf die wirkliche Bewegung wirkt dieſe Linie unruhiger; ſie erweitert das Gemüth nicht ſtill und ſachte, ſondern reißt zur Bewunderung und zum Schwindel fort. — Eigentlich nun ſtrebt das Waſſer durch die Glätte ſeiner Theile zur Kugelbildung und die Kugel iſt, wenn man von Form abſtract mathematiſch redet, die vollkommenſte, denn ſie iſt allſeitiges Rund und das Runde, als in ſich ſelbſt zurückkehrend, die concreteſte Linie. Allein die Form in dieſer Bedeutung überhaupt iſt abſtract, die Schönheit fordert Form als Bildungsgeſetz des lebendigen Individuums; der lebendige Körper ſtrebt, je vollkommener, allerdings deſto mehr zum Runden, aber nur zu Anklängen desſelben, die er in ſeiner Freiheit ebenſo wieder verläßt. Der Waſſertropfen nun hat Kugelform, aber nicht nur iſt er zu klein, um äſthetiſch zu intereſſiren, ſondern wo er durch ſeinen friſchen Schimmer dennoch das Auge anzieht, wird nichts weniger

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/73>, abgerufen am 25.04.2024.