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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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das fremdartige und doch lockende Element fühlt, dem wir nicht angehören.
Die Reize des Schaumes muß man an Meer-Wellen, an Wasserfällen,
an Springbrunnen beobachten. -- Eine Eisfläche wirkt gegensätzlich aus
ähnlichen Gründen, wie der Schnee; niederländische Maler haben ihr
oft die Reize ihres halbdurchsichtigen, knarrenden, krachenden, duftbelegten
Spiegels abzulauschen gewußt.

§. 259.

Jene Linien sind in stetem Uebergange begriffen und können sich nie zu1
einer festen Gestalt zusammenschließen; dagegen ist das Spiel ihrer Bewegung
um so reizender und erregt, indem ihre mechanische Ursache vergessen wird,
verbunden mit seinem Rauschen das Gefühl einer immer frischen Lebendigkeit.
Zugleich ist es ebendieß Spiel, welches die Schönheiten des Lichts und der
Farbe erhöht. Als Quelle hervorsprudelnd ruft das Wasser die ganze geheim-
nißvolle und dankbare Empfindung eines aus der Tiefe gespendeten, erfrischenden
Segens hervor, als Bach, Fluß, Strom sich fortbewegend mahnt es bald durch
die Eintönigkeit seines Laufs an das Unendliche der Zeit, bald zieht es das
strebende Gemüth in die Ferne, bald wirkt es als majestätische und doch
freundlich den Völkerverkehr vermittelnde oder, überschwellend und verheerend,
als furchtbar zerstörende Kraft. Unter den in Becken gesammelten Wassern2
vereinigt am vollsten alle Wirkungen dieses Elements das Meer.

1. Es erklärt sich von selbst, wie die Licht- und Farben-Reize des
Wassers namentlich durch seine Bewegung entstehen, denn indem sich Wellen
bilden, treten Lichter auf ihren Kämmen, Schatten in ihren Furchen, gegen-
seitige Reflexe, unendliche Modificationen der Farbe ein. Zwar scheint sich
der Himmel, das Ufer vollständiger auf der ruhigen Fläche zu spiegeln,
allein ganz ruhig ist diese nie, das Spiegelbild flimmert, blitzt, schwankt
immer und ebendieß ist der Reiz; doch auch bei stärkeren Wellen kann noch
die schönste Spiegelung Statt finden, das glühende Abendroth z. B. spiegelt
sich in der aufgefurchten Wellen-Straße, die das Dampfschiff hinter sich auf-
wühlt, stärker als auf der übrigen schon dunkleren Fläche, so daß dieses einen
breiten Feuerstrom nach sich zu ziehen scheint. Was nun die Poesie der
Quelle, des Bachs, Flußes, Stroms betrifft, so wäre es leicht, sie dadurch
in's volle Licht zu setzen, daß der vergötternde Glaube der Naturreligion
schon hier herbeigezogen würde. Das Schöne fordert -- und es ist kein
Geheimniß, daß wir dahin streben -- ein beseeltes Individuum. In der
unorganischen Natur übernimmt der leihende Mensch diese Beseelung,
auch ohne Mythologie wird uns noch heute Quelle, Fluß und Meer zu
etwas Persönlichem und die Vergötterung hat auch hier diesen einfachen

das fremdartige und doch lockende Element fühlt, dem wir nicht angehören.
Die Reize des Schaumes muß man an Meer-Wellen, an Waſſerfällen,
an Springbrunnen beobachten. — Eine Eisfläche wirkt gegenſätzlich aus
ähnlichen Gründen, wie der Schnee; niederländiſche Maler haben ihr
oft die Reize ihres halbdurchſichtigen, knarrenden, krachenden, duftbelegten
Spiegels abzulauſchen gewußt.

§. 259.

Jene Linien ſind in ſtetem Uebergange begriffen und können ſich nie zu1
einer feſten Geſtalt zuſammenſchließen; dagegen iſt das Spiel ihrer Bewegung
um ſo reizender und erregt, indem ihre mechaniſche Urſache vergeſſen wird,
verbunden mit ſeinem Rauſchen das Gefühl einer immer friſchen Lebendigkeit.
Zugleich iſt es ebendieß Spiel, welches die Schönheiten des Lichts und der
Farbe erhöht. Als Quelle hervorſprudelnd ruft das Waſſer die ganze geheim-
nißvolle und dankbare Empfindung eines aus der Tiefe geſpendeten, erfriſchenden
Segens hervor, als Bach, Fluß, Strom ſich fortbewegend mahnt es bald durch
die Eintönigkeit ſeines Laufs an das Unendliche der Zeit, bald zieht es das
ſtrebende Gemüth in die Ferne, bald wirkt es als majeſtätiſche und doch
freundlich den Völkerverkehr vermittelnde oder, überſchwellend und verheerend,
als furchtbar zerſtörende Kraft. Unter den in Becken geſammelten Waſſern2
vereinigt am vollſten alle Wirkungen dieſes Elements das Meer.

1. Es erklärt ſich von ſelbſt, wie die Licht- und Farben-Reize des
Waſſers namentlich durch ſeine Bewegung entſtehen, denn indem ſich Wellen
bilden, treten Lichter auf ihren Kämmen, Schatten in ihren Furchen, gegen-
ſeitige Reflexe, unendliche Modificationen der Farbe ein. Zwar ſcheint ſich
der Himmel, das Ufer vollſtändiger auf der ruhigen Fläche zu ſpiegeln,
allein ganz ruhig iſt dieſe nie, das Spiegelbild flimmert, blitzt, ſchwankt
immer und ebendieß iſt der Reiz; doch auch bei ſtärkeren Wellen kann noch
die ſchönſte Spiegelung Statt finden, das glühende Abendroth z. B. ſpiegelt
ſich in der aufgefurchten Wellen-Straße, die das Dampfſchiff hinter ſich auf-
wühlt, ſtärker als auf der übrigen ſchon dunkleren Fläche, ſo daß dieſes einen
breiten Feuerſtrom nach ſich zu ziehen ſcheint. Was nun die Poeſie der
Quelle, des Bachs, Flußes, Stroms betrifft, ſo wäre es leicht, ſie dadurch
in’s volle Licht zu ſetzen, daß der vergötternde Glaube der Naturreligion
ſchon hier herbeigezogen würde. Das Schöne fordert — und es iſt kein
Geheimniß, daß wir dahin ſtreben — ein beſeeltes Individuum. In der
unorganiſchen Natur übernimmt der leihende Menſch dieſe Beſeelung,
auch ohne Mythologie wird uns noch heute Quelle, Fluß und Meer zu
etwas Perſönlichem und die Vergötterung hat auch hier dieſen einfachen

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[63/0075] das fremdartige und doch lockende Element fühlt, dem wir nicht angehören. Die Reize des Schaumes muß man an Meer-Wellen, an Waſſerfällen, an Springbrunnen beobachten. — Eine Eisfläche wirkt gegenſätzlich aus ähnlichen Gründen, wie der Schnee; niederländiſche Maler haben ihr oft die Reize ihres halbdurchſichtigen, knarrenden, krachenden, duftbelegten Spiegels abzulauſchen gewußt. §. 259. Jene Linien ſind in ſtetem Uebergange begriffen und können ſich nie zu einer feſten Geſtalt zuſammenſchließen; dagegen iſt das Spiel ihrer Bewegung um ſo reizender und erregt, indem ihre mechaniſche Urſache vergeſſen wird, verbunden mit ſeinem Rauſchen das Gefühl einer immer friſchen Lebendigkeit. Zugleich iſt es ebendieß Spiel, welches die Schönheiten des Lichts und der Farbe erhöht. Als Quelle hervorſprudelnd ruft das Waſſer die ganze geheim- nißvolle und dankbare Empfindung eines aus der Tiefe geſpendeten, erfriſchenden Segens hervor, als Bach, Fluß, Strom ſich fortbewegend mahnt es bald durch die Eintönigkeit ſeines Laufs an das Unendliche der Zeit, bald zieht es das ſtrebende Gemüth in die Ferne, bald wirkt es als majeſtätiſche und doch freundlich den Völkerverkehr vermittelnde oder, überſchwellend und verheerend, als furchtbar zerſtörende Kraft. Unter den in Becken geſammelten Waſſern vereinigt am vollſten alle Wirkungen dieſes Elements das Meer. 1. Es erklärt ſich von ſelbſt, wie die Licht- und Farben-Reize des Waſſers namentlich durch ſeine Bewegung entſtehen, denn indem ſich Wellen bilden, treten Lichter auf ihren Kämmen, Schatten in ihren Furchen, gegen- ſeitige Reflexe, unendliche Modificationen der Farbe ein. Zwar ſcheint ſich der Himmel, das Ufer vollſtändiger auf der ruhigen Fläche zu ſpiegeln, allein ganz ruhig iſt dieſe nie, das Spiegelbild flimmert, blitzt, ſchwankt immer und ebendieß iſt der Reiz; doch auch bei ſtärkeren Wellen kann noch die ſchönſte Spiegelung Statt finden, das glühende Abendroth z. B. ſpiegelt ſich in der aufgefurchten Wellen-Straße, die das Dampfſchiff hinter ſich auf- wühlt, ſtärker als auf der übrigen ſchon dunkleren Fläche, ſo daß dieſes einen breiten Feuerſtrom nach ſich zu ziehen ſcheint. Was nun die Poeſie der Quelle, des Bachs, Flußes, Stroms betrifft, ſo wäre es leicht, ſie dadurch in’s volle Licht zu ſetzen, daß der vergötternde Glaube der Naturreligion ſchon hier herbeigezogen würde. Das Schöne fordert — und es iſt kein Geheimniß, daß wir dahin ſtreben — ein beſeeltes Individuum. In der unorganiſchen Natur übernimmt der leihende Menſch dieſe Beſeelung, auch ohne Mythologie wird uns noch heute Quelle, Fluß und Meer zu etwas Perſönlichem und die Vergötterung hat auch hier dieſen einfachen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/75>, abgerufen am 24.04.2024.