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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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sie wie in einer Kellerwölbung fort. Dagegen ziehen in den ruhiger
gebildeten Thälern in mäßigerem Falle wie menschenfreundliche Geister
die befruchtenden Flüsse. Reizend, idyllisch und elegisch lockend sind die
Windungen solcher Thäler. Die Beckenform, der Golf wurde ebenfalls
genannt; sie erregen das Gefühl von Ruhe, Behaglichkeit, laden den
Menschen zur festen Ansiedlung, das Schiff zur Sicherheit ein. Die
Linien mancher Golfe, wie deren von Salerno, von Neapel sind an sich
schon von außerordentlicher Schönheit, rein gezeichnete Theaterkreise, in
deren "erwärmter Bucht" der Segen der Natur kocht, das tiefblaue Meer
dem Diamante gleicht, der in den Reif der herrlichen Berge gefaßt ist.
Die kleineren Erdformen endlich durften auch nicht übergangen werden.
Wer Formen sieht, kann in der Modellirung eines Hohlwegs, eines Rains
eine Welt von Reizen finden. Nur wer diese Schönheiten nicht sehen
gelernt hat, kann zweifeln, ob die Campagna von Rom schön sei.

2. Körnig und schiefrig, rauh und glatt u. s. w. bedingen natürlich
den Eindruck mit; ebenso die Farbe, die jedoch durch Luft und Regen
verändert wird. Der weiße Kreidefels wird anders wirken als der
graugelbliche Kalkfels, der schwarze Basalt u. s. w.; wo das Drohende
der Form mit dem Finsteren der Farbe, die weichere Form mit hellerer
Färbung zusammentrifft, wird der Eindruck die wirksamere Einheit zeigen.
Dann kommt es auf die umgebende Vegetation an; zu den steilen und
schroffen Umrissen des Granits stimmt das düstere Nadelholz, zu den
sanfteren Formen jüngerer Gebirge das weiche Laubholz. Hier käme nun
freilich die Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit überhaupt zur Sprache; es
darf jedoch der vegetabilischen Schönheit nicht zu sehr vorgegriffen, viel-
mehr muß überall soviel möglich das Selbständige der Schönheit einer
Sphäre aufgezeigt werden. Griechenland z. B. ist bekanntlich jetzt in hohem
Grade kahl; sieht man aber auch von dem Farbenreize seiner reinen Luft
ab, so genügt der reine Schwung, die gesättigte, Schroffes und Gerun-
detes zu erfüllter Einheit zusammenstellende, sich ebenso energisch als
reizvoll modellirende Form seiner Gebirge zu einem hohen ästhetischen
Genusse.

§. 265.

Wenn nun der massenhaften Zusammensetzung der Mineralien ihre Form
von außen gegeben ist, so tritt dagegen im einzelnen Mineral das erste
Individuum auf, indem es sich durch ein ihm inwohnendes Gesetz zur kry-
stallischen
Form bildet. Diese Form ist eine mathematisch regelmäßige1
Verbindung von Flächen, die sich unter bestimmten Winkeln schneiden, und heißt
symmetrisch, wenn in reicherer Ausbildung um einen trennenden Mittelpunkt
zwei oder mehrere Theile sich gegenüberstehen, die entweder einfach einander

ſie wie in einer Kellerwölbung fort. Dagegen ziehen in den ruhiger
gebildeten Thälern in mäßigerem Falle wie menſchenfreundliche Geiſter
die befruchtenden Flüſſe. Reizend, idylliſch und elegiſch lockend ſind die
Windungen ſolcher Thäler. Die Beckenform, der Golf wurde ebenfalls
genannt; ſie erregen das Gefühl von Ruhe, Behaglichkeit, laden den
Menſchen zur feſten Anſiedlung, das Schiff zur Sicherheit ein. Die
Linien mancher Golfe, wie deren von Salerno, von Neapel ſind an ſich
ſchon von außerordentlicher Schönheit, rein gezeichnete Theaterkreiſe, in
deren „erwärmter Bucht“ der Segen der Natur kocht, das tiefblaue Meer
dem Diamante gleicht, der in den Reif der herrlichen Berge gefaßt iſt.
Die kleineren Erdformen endlich durften auch nicht übergangen werden.
Wer Formen ſieht, kann in der Modellirung eines Hohlwegs, eines Rains
eine Welt von Reizen finden. Nur wer dieſe Schönheiten nicht ſehen
gelernt hat, kann zweifeln, ob die Campagna von Rom ſchön ſei.

2. Körnig und ſchiefrig, rauh und glatt u. ſ. w. bedingen natürlich
den Eindruck mit; ebenſo die Farbe, die jedoch durch Luft und Regen
verändert wird. Der weiße Kreidefels wird anders wirken als der
graugelbliche Kalkfels, der ſchwarze Baſalt u. ſ. w.; wo das Drohende
der Form mit dem Finſteren der Farbe, die weichere Form mit hellerer
Färbung zuſammentrifft, wird der Eindruck die wirkſamere Einheit zeigen.
Dann kommt es auf die umgebende Vegetation an; zu den ſteilen und
ſchroffen Umriſſen des Granits ſtimmt das düſtere Nadelholz, zu den
ſanfteren Formen jüngerer Gebirge das weiche Laubholz. Hier käme nun
freilich die Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit überhaupt zur Sprache; es
darf jedoch der vegetabiliſchen Schönheit nicht zu ſehr vorgegriffen, viel-
mehr muß überall ſoviel möglich das Selbſtändige der Schönheit einer
Sphäre aufgezeigt werden. Griechenland z. B. iſt bekanntlich jetzt in hohem
Grade kahl; ſieht man aber auch von dem Farbenreize ſeiner reinen Luft
ab, ſo genügt der reine Schwung, die geſättigte, Schroffes und Gerun-
detes zu erfüllter Einheit zuſammenſtellende, ſich ebenſo energiſch als
reizvoll modellirende Form ſeiner Gebirge zu einem hohen äſthetiſchen
Genuſſe.

§. 265.

Wenn nun der maſſenhaften Zuſammenſetzung der Mineralien ihre Form
von außen gegeben iſt, ſo tritt dagegen im einzelnen Mineral das erſte
Individuum auf, indem es ſich durch ein ihm inwohnendes Geſetz zur kry-
ſtalliſchen
Form bildet. Dieſe Form iſt eine mathematiſch regelmäßige1
Verbindung von Flächen, die ſich unter beſtimmten Winkeln ſchneiden, und heißt
ſymmetriſch, wenn in reicherer Ausbildung um einen trennenden Mittelpunkt
zwei oder mehrere Theile ſich gegenüberſtehen, die entweder einfach einander

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[71/0083] ſie wie in einer Kellerwölbung fort. Dagegen ziehen in den ruhiger gebildeten Thälern in mäßigerem Falle wie menſchenfreundliche Geiſter die befruchtenden Flüſſe. Reizend, idylliſch und elegiſch lockend ſind die Windungen ſolcher Thäler. Die Beckenform, der Golf wurde ebenfalls genannt; ſie erregen das Gefühl von Ruhe, Behaglichkeit, laden den Menſchen zur feſten Anſiedlung, das Schiff zur Sicherheit ein. Die Linien mancher Golfe, wie deren von Salerno, von Neapel ſind an ſich ſchon von außerordentlicher Schönheit, rein gezeichnete Theaterkreiſe, in deren „erwärmter Bucht“ der Segen der Natur kocht, das tiefblaue Meer dem Diamante gleicht, der in den Reif der herrlichen Berge gefaßt iſt. Die kleineren Erdformen endlich durften auch nicht übergangen werden. Wer Formen ſieht, kann in der Modellirung eines Hohlwegs, eines Rains eine Welt von Reizen finden. Nur wer dieſe Schönheiten nicht ſehen gelernt hat, kann zweifeln, ob die Campagna von Rom ſchön ſei. 2. Körnig und ſchiefrig, rauh und glatt u. ſ. w. bedingen natürlich den Eindruck mit; ebenſo die Farbe, die jedoch durch Luft und Regen verändert wird. Der weiße Kreidefels wird anders wirken als der graugelbliche Kalkfels, der ſchwarze Baſalt u. ſ. w.; wo das Drohende der Form mit dem Finſteren der Farbe, die weichere Form mit hellerer Färbung zuſammentrifft, wird der Eindruck die wirkſamere Einheit zeigen. Dann kommt es auf die umgebende Vegetation an; zu den ſteilen und ſchroffen Umriſſen des Granits ſtimmt das düſtere Nadelholz, zu den ſanfteren Formen jüngerer Gebirge das weiche Laubholz. Hier käme nun freilich die Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit überhaupt zur Sprache; es darf jedoch der vegetabiliſchen Schönheit nicht zu ſehr vorgegriffen, viel- mehr muß überall ſoviel möglich das Selbſtändige der Schönheit einer Sphäre aufgezeigt werden. Griechenland z. B. iſt bekanntlich jetzt in hohem Grade kahl; ſieht man aber auch von dem Farbenreize ſeiner reinen Luft ab, ſo genügt der reine Schwung, die geſättigte, Schroffes und Gerun- detes zu erfüllter Einheit zuſammenſtellende, ſich ebenſo energiſch als reizvoll modellirende Form ſeiner Gebirge zu einem hohen äſthetiſchen Genuſſe. §. 265. Wenn nun der maſſenhaften Zuſammenſetzung der Mineralien ihre Form von außen gegeben iſt, ſo tritt dagegen im einzelnen Mineral das erſte Individuum auf, indem es ſich durch ein ihm inwohnendes Geſetz zur kry- ſtalliſchen Form bildet. Dieſe Form iſt eine mathematiſch regelmäßige Verbindung von Flächen, die ſich unter beſtimmten Winkeln ſchneiden, und heißt ſymmetriſch, wenn in reicherer Ausbildung um einen trennenden Mittelpunkt zwei oder mehrere Theile ſich gegenüberſtehen, die entweder einfach einander

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/83>, abgerufen am 19.04.2024.