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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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2gleich sind oder das umgedrehte Gegenbild voneinander darstellen. Die mannig-
faltigen Formen des Krystalls zeigen gerade bei vollkommener Bildung nur
gerade Linien und erscheinen schon deßwegen starr und unlebendig. Dagegen
treten bei unvollkommener Krystallbildung freiere Gruppirungen runder Formen
auf und gerade diese sind, weil sie an organische Gestaltung anziehend erinnern,
ästhetisch bedeutender.

1. Regelmäßig und symmetrisch wird hier nach genauerem Sprach-
gebrauche unterschieden und das Symmetrische darein gesetzt, daß gleiche
Theile oder solche, von denen der eine das umgedrehte Gegenbild des
andern darstellt, durch einen anschaulichen Mittelpunkt getrennt einander
gegenüberstehen. Der Würfel z. B. ist nur regelmäßig, denn er hat nur
einen idealen Mittelpunkt, es tritt kein solcher, zwei oder mehrere Seiten
trennend, wirklich hervor. Ein solcher Mittelpunkt ist dagegen für das
Auge bereits gegeben z. B. im regulären Oktaeder oder Achtflach. In
dieser Doppelpyramide stoßen acht Dreiecke zusammen, deren eine Hälfte
das umgedrehte Gegenbild von der andern darstellt, und der Punkt ihres
Zusammenstoßens ist eben der trennende Mittelpunkt. Dieser Mittelpunkt
kann aber auch für sich einen Theil, eine Seite bilden, also selbständig
hervortreten und dieß ist der gewöhnliche Begriff der Symmetrie. Sym-
metrisch nennt man z. B. zwei Flügel eines Gebäudes, welche in gleicher
Entfernung vom Mittelpunkte des Hauptkörpers, der durch ein Portal u. s. w.
bezeichnet ist, hervortreten. Die um einen solchen Mittelpunkt gruppirten
Seiten sind nun entweder einfach einander gleich, wie die genannten
Flügel oder wie Fenster, welche, getrennt durch anders geformte Fenster,
sich in gleicher Gestalt gegenüberstehen, oder sie stellen wie im obigen
Beispiel das umgekehrte Gegenbild von einander dar. Das Erstere findet
allerdings streng genommen bei den Krystallen eigentlich nicht Statt, denn
da hier die Achsenbildung herrscht, so werden bei jeder vielseitigeren
Gestalt die Flächen, welche sich, von einer mittleren getrennt, gegenüber-
stehen, geneigt, also das umgewendete Gegenbild von einander sein.
So wird der Würfel symmetrisch durch das Gegenüberstehen abgestumpfter
oder zugeschärfter Kanten und Ecken und dieß Alles wiederholt sich in
mannigfaltigen zusammengesetzten Formen. Man kann inzwischen auch die
erstere Art der Symmetrie im Krystalle finden, wenn man z. B. im
geraden quadratischen Prisma je eine der Seitenflächen als Mittelpunkt
und die zwei viereckigen Endflächen als die in gleicher Form sich gegen-
überstehenden Seiten annimmt.

2. Der ästhetische Mangel der krystallischen Bildung wird hier
zunächst in die Abwesenheit der runden Linie gesetzt; denn diese, weil
sie in sich zurückkehrt, ist schon oben (§. 257) als die lebendigere auf-

2gleich ſind oder das umgedrehte Gegenbild voneinander darſtellen. Die mannig-
faltigen Formen des Kryſtalls zeigen gerade bei vollkommener Bildung nur
gerade Linien und erſcheinen ſchon deßwegen ſtarr und unlebendig. Dagegen
treten bei unvollkommener Kryſtallbildung freiere Gruppirungen runder Formen
auf und gerade dieſe ſind, weil ſie an organiſche Geſtaltung anziehend erinnern,
äſthetiſch bedeutender.

1. Regelmäßig und ſymmetriſch wird hier nach genauerem Sprach-
gebrauche unterſchieden und das Symmetriſche darein geſetzt, daß gleiche
Theile oder ſolche, von denen der eine das umgedrehte Gegenbild des
andern darſtellt, durch einen anſchaulichen Mittelpunkt getrennt einander
gegenüberſtehen. Der Würfel z. B. iſt nur regelmäßig, denn er hat nur
einen idealen Mittelpunkt, es tritt kein ſolcher, zwei oder mehrere Seiten
trennend, wirklich hervor. Ein ſolcher Mittelpunkt iſt dagegen für das
Auge bereits gegeben z. B. im regulären Oktaeder oder Achtflach. In
dieſer Doppelpyramide ſtoßen acht Dreiecke zuſammen, deren eine Hälfte
das umgedrehte Gegenbild von der andern darſtellt, und der Punkt ihres
Zuſammenſtoßens iſt eben der trennende Mittelpunkt. Dieſer Mittelpunkt
kann aber auch für ſich einen Theil, eine Seite bilden, alſo ſelbſtändig
hervortreten und dieß iſt der gewöhnliche Begriff der Symmetrie. Sym-
metriſch nennt man z. B. zwei Flügel eines Gebäudes, welche in gleicher
Entfernung vom Mittelpunkte des Hauptkörpers, der durch ein Portal u. ſ. w.
bezeichnet iſt, hervortreten. Die um einen ſolchen Mittelpunkt gruppirten
Seiten ſind nun entweder einfach einander gleich, wie die genannten
Flügel oder wie Fenſter, welche, getrennt durch anders geformte Fenſter,
ſich in gleicher Geſtalt gegenüberſtehen, oder ſie ſtellen wie im obigen
Beiſpiel das umgekehrte Gegenbild von einander dar. Das Erſtere findet
allerdings ſtreng genommen bei den Kryſtallen eigentlich nicht Statt, denn
da hier die Achſenbildung herrſcht, ſo werden bei jeder vielſeitigeren
Geſtalt die Flächen, welche ſich, von einer mittleren getrennt, gegenüber-
ſtehen, geneigt, alſo das umgewendete Gegenbild von einander ſein.
So wird der Würfel ſymmetriſch durch das Gegenüberſtehen abgeſtumpfter
oder zugeſchärfter Kanten und Ecken und dieß Alles wiederholt ſich in
mannigfaltigen zuſammengeſetzten Formen. Man kann inzwiſchen auch die
erſtere Art der Symmetrie im Kryſtalle finden, wenn man z. B. im
geraden quadratiſchen Prisma je eine der Seitenflächen als Mittelpunkt
und die zwei viereckigen Endflächen als die in gleicher Form ſich gegen-
überſtehenden Seiten annimmt.

2. Der äſthetiſche Mangel der kryſtalliſchen Bildung wird hier
zunächſt in die Abweſenheit der runden Linie geſetzt; denn dieſe, weil
ſie in ſich zurückkehrt, iſt ſchon oben (§. 257) als die lebendigere auf-

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[72/0084] gleich ſind oder das umgedrehte Gegenbild voneinander darſtellen. Die mannig- faltigen Formen des Kryſtalls zeigen gerade bei vollkommener Bildung nur gerade Linien und erſcheinen ſchon deßwegen ſtarr und unlebendig. Dagegen treten bei unvollkommener Kryſtallbildung freiere Gruppirungen runder Formen auf und gerade dieſe ſind, weil ſie an organiſche Geſtaltung anziehend erinnern, äſthetiſch bedeutender. 1. Regelmäßig und ſymmetriſch wird hier nach genauerem Sprach- gebrauche unterſchieden und das Symmetriſche darein geſetzt, daß gleiche Theile oder ſolche, von denen der eine das umgedrehte Gegenbild des andern darſtellt, durch einen anſchaulichen Mittelpunkt getrennt einander gegenüberſtehen. Der Würfel z. B. iſt nur regelmäßig, denn er hat nur einen idealen Mittelpunkt, es tritt kein ſolcher, zwei oder mehrere Seiten trennend, wirklich hervor. Ein ſolcher Mittelpunkt iſt dagegen für das Auge bereits gegeben z. B. im regulären Oktaeder oder Achtflach. In dieſer Doppelpyramide ſtoßen acht Dreiecke zuſammen, deren eine Hälfte das umgedrehte Gegenbild von der andern darſtellt, und der Punkt ihres Zuſammenſtoßens iſt eben der trennende Mittelpunkt. Dieſer Mittelpunkt kann aber auch für ſich einen Theil, eine Seite bilden, alſo ſelbſtändig hervortreten und dieß iſt der gewöhnliche Begriff der Symmetrie. Sym- metriſch nennt man z. B. zwei Flügel eines Gebäudes, welche in gleicher Entfernung vom Mittelpunkte des Hauptkörpers, der durch ein Portal u. ſ. w. bezeichnet iſt, hervortreten. Die um einen ſolchen Mittelpunkt gruppirten Seiten ſind nun entweder einfach einander gleich, wie die genannten Flügel oder wie Fenſter, welche, getrennt durch anders geformte Fenſter, ſich in gleicher Geſtalt gegenüberſtehen, oder ſie ſtellen wie im obigen Beiſpiel das umgekehrte Gegenbild von einander dar. Das Erſtere findet allerdings ſtreng genommen bei den Kryſtallen eigentlich nicht Statt, denn da hier die Achſenbildung herrſcht, ſo werden bei jeder vielſeitigeren Geſtalt die Flächen, welche ſich, von einer mittleren getrennt, gegenüber- ſtehen, geneigt, alſo das umgewendete Gegenbild von einander ſein. So wird der Würfel ſymmetriſch durch das Gegenüberſtehen abgeſtumpfter oder zugeſchärfter Kanten und Ecken und dieß Alles wiederholt ſich in mannigfaltigen zuſammengeſetzten Formen. Man kann inzwiſchen auch die erſtere Art der Symmetrie im Kryſtalle finden, wenn man z. B. im geraden quadratiſchen Prisma je eine der Seitenflächen als Mittelpunkt und die zwei viereckigen Endflächen als die in gleicher Form ſich gegen- überſtehenden Seiten annimmt. 2. Der äſthetiſche Mangel der kryſtalliſchen Bildung wird hier zunächſt in die Abweſenheit der runden Linie geſetzt; denn dieſe, weil ſie in ſich zurückkehrt, iſt ſchon oben (§. 257) als die lebendigere auf-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/84>, abgerufen am 25.04.2024.