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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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In diesen Sätzen mußte das schon in §. 62. 63 Gesagte ausdrück-
lich wieder aufgefaßt werden. Es bedarf keiner neuen Auseinandersetzung,
ist vielmehr durch die ganze bisherige Lehre von der Phantasie bereits
entwickelt und begründet, insbesondere dadurch, daß sich nun gezeigt hat,
wie die Phantasie der Völker von der chaotisch unfreien Einbildungskraft
auch in ihrem höheren Bilden sich nicht befreien kann. Daraus entsteht
die traumartig gaukelnde Verrückung der Naturformen der ursprünglichen
Stoffwelt, deren anderweitiger negativer Grund die Unwissenheit über die
Naturgesetze und der unzerreißbaren Kette ihrer Wirkungen ist. Es wird
sich zeigen, wie die Phantasie der Völker, so oft sie von dem Kreise der
überirdischen Gestalten, die sie bildet, auf die wirkliche Naturwelt zurück-
blickt, jene in diese so einmischt, daß ihr Nexus aufgehoben wird; es
wird sich zeigen, wie vor diese eine prachtvolle Mauer geschoben wird,
vor der man sie theils nicht sieht, theils wie durch Fenster mit Scheiben
aus buntem Glase. In dieser Weltanschauung seines Volkes wurzelt
auch der Genius, er überwindet sie, aber unvermerkt; er zieht unendli-
chen Vortheil, aber ebensoviel Nachtheil aus ihr. Einer weiteren Aus-
führung dieses Verhältnisses enthalten wir uns um so mehr, da das
Folgende von selbst mit sich bringt, daß in der Darstellung der zwei
ersten Epochen die Vortheile, der dritten die Nachtheile des Dazutritts
jener zweiten Stoffwelt in's Licht gesetzt werden.

§. 419.

Es ist vorausgesetzt, daß das Werk der besondern Phantasie sich an die
allgemeine Phantasie mittheilt, und diese kann zwar reine Schönheit nicht erzeu-
gen, aber, und dieß ist ein weiterer wesentlicher Schritt, worin sie der eigent-
lichen Phantasie folgt, empfinden und genießen. Dieser Genuß ist nicht rein
äflhetisch, aber er wirkt befreiend (vergl. §. 66). Arbeitet nun das Denken
(§. 67) gleichzeitig mit, so wird die allgemeine Phantasie aufhören, jenen un-
freien Schein zu erzeugen, und soweit sie noch fortfährt, die besondere ihn nicht
mehr als zweite Stoffwelt anerkennen; dann fällt die Schranke zwischen dieser
und ihren ursprünglichen Stoffen und der allgemeinen Phantasie bleibt vom drit-
ten Momente der besondern nur noch der Genuß ihres mitgetheilten Erzeug-
nisses.

Das äußere Hinstellen des innern Ideals im Kunstwerke dürfen
und müssen wir hier voraussetzen. Die Masse der Anschauenden nun
kann ein reines Ideal nicht erzeugen, aber, wo es gegeben ist, genießen;

In dieſen Sätzen mußte das ſchon in §. 62. 63 Geſagte ausdrück-
lich wieder aufgefaßt werden. Es bedarf keiner neuen Auseinanderſetzung,
iſt vielmehr durch die ganze bisherige Lehre von der Phantaſie bereits
entwickelt und begründet, insbeſondere dadurch, daß ſich nun gezeigt hat,
wie die Phantaſie der Völker von der chaotiſch unfreien Einbildungskraft
auch in ihrem höheren Bilden ſich nicht befreien kann. Daraus entſteht
die traumartig gaukelnde Verrückung der Naturformen der urſprünglichen
Stoffwelt, deren anderweitiger negativer Grund die Unwiſſenheit über die
Naturgeſetze und der unzerreißbaren Kette ihrer Wirkungen iſt. Es wird
ſich zeigen, wie die Phantaſie der Völker, ſo oft ſie von dem Kreiſe der
überirdiſchen Geſtalten, die ſie bildet, auf die wirkliche Naturwelt zurück-
blickt, jene in dieſe ſo einmiſcht, daß ihr Nexus aufgehoben wird; es
wird ſich zeigen, wie vor dieſe eine prachtvolle Mauer geſchoben wird,
vor der man ſie theils nicht ſieht, theils wie durch Fenſter mit Scheiben
aus buntem Glaſe. In dieſer Weltanſchauung ſeines Volkes wurzelt
auch der Genius, er überwindet ſie, aber unvermerkt; er zieht unendli-
chen Vortheil, aber ebenſoviel Nachtheil aus ihr. Einer weiteren Aus-
führung dieſes Verhältniſſes enthalten wir uns um ſo mehr, da das
Folgende von ſelbſt mit ſich bringt, daß in der Darſtellung der zwei
erſten Epochen die Vortheile, der dritten die Nachtheile des Dazutritts
jener zweiten Stoffwelt in’s Licht geſetzt werden.

§. 419.

Es iſt vorausgeſetzt, daß das Werk der beſondern Phantaſie ſich an die
allgemeine Phantaſie mittheilt, und dieſe kann zwar reine Schönheit nicht erzeu-
gen, aber, und dieß iſt ein weiterer weſentlicher Schritt, worin ſie der eigent-
lichen Phantaſie folgt, empfinden und genießen. Dieſer Genuß iſt nicht rein
äflhetiſch, aber er wirkt befreiend (vergl. §. 66). Arbeitet nun das Denken
(§. 67) gleichzeitig mit, ſo wird die allgemeine Phantaſie aufhören, jenen un-
freien Schein zu erzeugen, und ſoweit ſie noch fortfährt, die beſondere ihn nicht
mehr als zweite Stoffwelt anerkennen; dann fällt die Schranke zwiſchen dieſer
und ihren urſprünglichen Stoffen und der allgemeinen Phantaſie bleibt vom drit-
ten Momente der beſondern nur noch der Genuß ihres mitgetheilten Erzeug-
niſſes.

Das äußere Hinſtellen des innern Ideals im Kunſtwerke dürfen
und müſſen wir hier vorausſetzen. Die Maſſe der Anſchauenden nun
kann ein reines Ideal nicht erzeugen, aber, wo es gegeben iſt, genießen;

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[406/0120] In dieſen Sätzen mußte das ſchon in §. 62. 63 Geſagte ausdrück- lich wieder aufgefaßt werden. Es bedarf keiner neuen Auseinanderſetzung, iſt vielmehr durch die ganze bisherige Lehre von der Phantaſie bereits entwickelt und begründet, insbeſondere dadurch, daß ſich nun gezeigt hat, wie die Phantaſie der Völker von der chaotiſch unfreien Einbildungskraft auch in ihrem höheren Bilden ſich nicht befreien kann. Daraus entſteht die traumartig gaukelnde Verrückung der Naturformen der urſprünglichen Stoffwelt, deren anderweitiger negativer Grund die Unwiſſenheit über die Naturgeſetze und der unzerreißbaren Kette ihrer Wirkungen iſt. Es wird ſich zeigen, wie die Phantaſie der Völker, ſo oft ſie von dem Kreiſe der überirdiſchen Geſtalten, die ſie bildet, auf die wirkliche Naturwelt zurück- blickt, jene in dieſe ſo einmiſcht, daß ihr Nexus aufgehoben wird; es wird ſich zeigen, wie vor dieſe eine prachtvolle Mauer geſchoben wird, vor der man ſie theils nicht ſieht, theils wie durch Fenſter mit Scheiben aus buntem Glaſe. In dieſer Weltanſchauung ſeines Volkes wurzelt auch der Genius, er überwindet ſie, aber unvermerkt; er zieht unendli- chen Vortheil, aber ebenſoviel Nachtheil aus ihr. Einer weiteren Aus- führung dieſes Verhältniſſes enthalten wir uns um ſo mehr, da das Folgende von ſelbſt mit ſich bringt, daß in der Darſtellung der zwei erſten Epochen die Vortheile, der dritten die Nachtheile des Dazutritts jener zweiten Stoffwelt in’s Licht geſetzt werden. §. 419. Es iſt vorausgeſetzt, daß das Werk der beſondern Phantaſie ſich an die allgemeine Phantaſie mittheilt, und dieſe kann zwar reine Schönheit nicht erzeu- gen, aber, und dieß iſt ein weiterer weſentlicher Schritt, worin ſie der eigent- lichen Phantaſie folgt, empfinden und genießen. Dieſer Genuß iſt nicht rein äflhetiſch, aber er wirkt befreiend (vergl. §. 66). Arbeitet nun das Denken (§. 67) gleichzeitig mit, ſo wird die allgemeine Phantaſie aufhören, jenen un- freien Schein zu erzeugen, und ſoweit ſie noch fortfährt, die beſondere ihn nicht mehr als zweite Stoffwelt anerkennen; dann fällt die Schranke zwiſchen dieſer und ihren urſprünglichen Stoffen und der allgemeinen Phantaſie bleibt vom drit- ten Momente der beſondern nur noch der Genuß ihres mitgetheilten Erzeug- niſſes. Das äußere Hinſtellen des innern Ideals im Kunſtwerke dürfen und müſſen wir hier vorausſetzen. Die Maſſe der Anſchauenden nun kann ein reines Ideal nicht erzeugen, aber, wo es gegeben iſt, genießen;

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/120>, abgerufen am 28.03.2024.