Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

Anm. 1). Auch lösen sich diese fördernden Wirkungen doch keineswegs vom
schönen Bilde ganz ab; dieses bleibt für die Masse mindestens ihr Ve-
hikel, für die Zahl der Phantasiebegabteren aber immer in ganzer Ein-
heit mit dem Gehalte und die getrennt sittliche, intellectuelle tritt bei ihnen
immer nur als Nachwirkung der vollen ästhetischen ein.

§. 424.

Da aber die Phantasie immer eine gewisse Vergangenheit ihres Stoffes
fordert, so ist die Zeit der herben Kraft, wodurch die Nationen groß werden,
nicht der Boden, worin sie blüht, sondern die bewegliche Erregung, welche die
Frucht des durch vorhergehende Kämpfe errungenen Glücks ist, die Glanzperiode
der Völker, welche freilich auch die Keime des Verfalls schon in sich birgt.
Während des Kampfes der Kraft und bei schon eingetretenem Verfall kann die
Phantasie nur in unreifen Formen und in den durch §. 406 aufgestellten Abarten
und Ausartungen sich thätig erweisen.

Daß der Stoff in eine gewisse Entfernung (des Raums und) der
Zeit von der Phantasie zurücktreten muß, haben wir auf verschiedenen
Punkten aussprechen müssen: so §. 54 Anm.; es folgt ferner aus der Lehre
vom Verhältniß des Guten zum Schönen §. 56--60; aus der Abweisung
der materiellen Sinne (§. 71) und alles Interesses (§. 75) vom sub-
jectiven Eindrucke des Schönen; endlich aus dem Rücktritt vom Gegen-
stande, durch den die Anschauung zur Einbildung wird §. 387, 2, aus
dem Erlöschen der Leidenschaft, welche §. 393, und der Einkehr in sich,
welche §. 394 forderte. Die eigentlich thätige Zeit eines Volks ist nicht
die seiner ästhetischen Production, da herrscht die Unruhe des Interesses,
der stoffartige Zweck, der Standpunkt des Sollens. Allerdings ist nur
Gesundheit, tüchtige Fülle, Macht und Glück das Mark, womit sich das
Schöne nährt, aber dieses Wohlsein blüht eben in dem Augenblick auf, wo
die herben Kämpfe schweigen, durch die es erarbeitet werden mußte. Die
Ilias wurde nicht von den Kriegern vor Troja unter dem Lärm der
Waffen gedichtet, die großen Tragiker, Bildhauer, Baukünstler traten nicht
während der Perserkriege, sondern kurz nach ihnen auf, Shakespeare nach
den blutigen Feudal-Kämpfen zur Zeit ihrer Beruhigung in einer geord-
neten Monarchie u. s. w. Durch diese Thatsache erfährt der erste Satz
von §. 421 eine Beschränkung: die Parallele zwischen der geschichtlichen
Schönheit und zwischen der Geschichte der Phantasie ist keine vollständige,
auch abgesehen davon, daß die energischen Völker, deren Geschichte reich
an Stoff ist, und die phantasiereichen, welche selbst viel Schönes produci-
ren, keineswegs durchaus dieselben sind; die Periode, worin die Geschichte

Anm. 1). Auch löſen ſich dieſe fördernden Wirkungen doch keineswegs vom
ſchönen Bilde ganz ab; dieſes bleibt für die Maſſe mindeſtens ihr Ve-
hikel, für die Zahl der Phantaſiebegabteren aber immer in ganzer Ein-
heit mit dem Gehalte und die getrennt ſittliche, intellectuelle tritt bei ihnen
immer nur als Nachwirkung der vollen äſthetiſchen ein.

§. 424.

Da aber die Phantaſie immer eine gewiſſe Vergangenheit ihres Stoffes
fordert, ſo iſt die Zeit der herben Kraft, wodurch die Nationen groß werden,
nicht der Boden, worin ſie blüht, ſondern die bewegliche Erregung, welche die
Frucht des durch vorhergehende Kämpfe errungenen Glücks iſt, die Glanzperiode
der Völker, welche freilich auch die Keime des Verfalls ſchon in ſich birgt.
Während des Kampfes der Kraft und bei ſchon eingetretenem Verfall kann die
Phantaſie nur in unreifen Formen und in den durch §. 406 aufgeſtellten Abarten
und Ausartungen ſich thätig erweiſen.

Daß der Stoff in eine gewiſſe Entfernung (des Raums und) der
Zeit von der Phantaſie zurücktreten muß, haben wir auf verſchiedenen
Punkten ausſprechen müſſen: ſo §. 54 Anm.; es folgt ferner aus der Lehre
vom Verhältniß des Guten zum Schönen §. 56—60; aus der Abweiſung
der materiellen Sinne (§. 71) und alles Intereſſes (§. 75) vom ſub-
jectiven Eindrucke des Schönen; endlich aus dem Rücktritt vom Gegen-
ſtande, durch den die Anſchauung zur Einbildung wird §. 387, 2, aus
dem Erlöſchen der Leidenſchaft, welche §. 393, und der Einkehr in ſich,
welche §. 394 forderte. Die eigentlich thätige Zeit eines Volks iſt nicht
die ſeiner äſthetiſchen Production, da herrſcht die Unruhe des Intereſſes,
der ſtoffartige Zweck, der Standpunkt des Sollens. Allerdings iſt nur
Geſundheit, tüchtige Fülle, Macht und Glück das Mark, womit ſich das
Schöne nährt, aber dieſes Wohlſein blüht eben in dem Augenblick auf, wo
die herben Kämpfe ſchweigen, durch die es erarbeitet werden mußte. Die
Ilias wurde nicht von den Kriegern vor Troja unter dem Lärm der
Waffen gedichtet, die großen Tragiker, Bildhauer, Baukünſtler traten nicht
während der Perſerkriege, ſondern kurz nach ihnen auf, Shakespeare nach
den blutigen Feudal-Kämpfen zur Zeit ihrer Beruhigung in einer geord-
neten Monarchie u. ſ. w. Durch dieſe Thatſache erfährt der erſte Satz
von §. 421 eine Beſchränkung: die Parallele zwiſchen der geſchichtlichen
Schönheit und zwiſchen der Geſchichte der Phantaſie iſt keine vollſtändige,
auch abgeſehen davon, daß die energiſchen Völker, deren Geſchichte reich
an Stoff iſt, und die phantaſiereichen, welche ſelbſt viel Schönes produci-
ren, keineswegs durchaus dieſelben ſind; die Periode, worin die Geſchichte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p>
                <pb facs="#f0126" n="412"/> <hi rendition="#et">Anm. <hi rendition="#sub">1</hi>). Auch lö&#x017F;en &#x017F;ich die&#x017F;e fördernden Wirkungen doch keineswegs vom<lb/>
&#x017F;chönen Bilde ganz ab; die&#x017F;es bleibt für die Ma&#x017F;&#x017F;e minde&#x017F;tens ihr Ve-<lb/>
hikel, für die Zahl der Phanta&#x017F;iebegabteren aber immer in ganzer Ein-<lb/>
heit mit dem Gehalte und die getrennt &#x017F;ittliche, intellectuelle tritt bei ihnen<lb/>
immer nur als Nachwirkung der vollen ä&#x017F;theti&#x017F;chen ein.</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 424.</head><lb/>
              <p> <hi rendition="#fr">Da aber die Phanta&#x017F;ie immer eine gewi&#x017F;&#x017F;e Vergangenheit ihres Stoffes<lb/>
fordert, &#x017F;o i&#x017F;t die Zeit der herben Kraft, wodurch die Nationen groß werden,<lb/>
nicht der Boden, worin &#x017F;ie blüht, &#x017F;ondern die bewegliche Erregung, welche die<lb/>
Frucht des durch vorhergehende Kämpfe errungenen Glücks i&#x017F;t, die Glanzperiode<lb/>
der Völker, welche freilich auch die Keime des Verfalls &#x017F;chon in &#x017F;ich birgt.<lb/>
Während des Kampfes der Kraft und bei &#x017F;chon eingetretenem Verfall kann die<lb/>
Phanta&#x017F;ie nur in unreifen Formen und in den durch §. 406 aufge&#x017F;tellten Abarten<lb/>
und Ausartungen &#x017F;ich thätig erwei&#x017F;en.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">Daß der Stoff in eine gewi&#x017F;&#x017F;e Entfernung (des Raums und) der<lb/>
Zeit von der Phanta&#x017F;ie zurücktreten muß, haben wir auf ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Punkten aus&#x017F;prechen mü&#x017F;&#x017F;en: &#x017F;o §. 54 Anm.; es folgt ferner aus der Lehre<lb/>
vom Verhältniß des Guten zum Schönen §. 56&#x2014;60; aus der Abwei&#x017F;ung<lb/>
der materiellen Sinne (§. 71) und alles Intere&#x017F;&#x017F;es (§. 75) vom &#x017F;ub-<lb/>
jectiven Eindrucke des Schönen; endlich aus dem Rücktritt vom Gegen-<lb/>
&#x017F;tande, durch den die An&#x017F;chauung zur Einbildung wird §. 387, <hi rendition="#sub">2</hi>, aus<lb/>
dem Erlö&#x017F;chen der Leiden&#x017F;chaft, welche §. 393, und der Einkehr in &#x017F;ich,<lb/>
welche §. 394 forderte. Die eigentlich thätige Zeit eines Volks i&#x017F;t nicht<lb/>
die &#x017F;einer ä&#x017F;theti&#x017F;chen Production, da herr&#x017F;cht die Unruhe des Intere&#x017F;&#x017F;es,<lb/>
der &#x017F;toffartige Zweck, der Standpunkt des Sollens. Allerdings i&#x017F;t nur<lb/>
Ge&#x017F;undheit, tüchtige Fülle, Macht und Glück das Mark, womit &#x017F;ich das<lb/>
Schöne nährt, aber die&#x017F;es Wohl&#x017F;ein blüht eben in dem Augenblick auf, wo<lb/>
die herben Kämpfe &#x017F;chweigen, durch die es erarbeitet werden mußte. Die<lb/>
Ilias wurde nicht von den Kriegern vor Troja unter dem Lärm der<lb/>
Waffen gedichtet, die großen Tragiker, Bildhauer, Baukün&#x017F;tler traten nicht<lb/>
während der Per&#x017F;erkriege, &#x017F;ondern kurz nach ihnen auf, Shakespeare nach<lb/>
den blutigen Feudal-Kämpfen zur Zeit ihrer Beruhigung in einer geord-<lb/>
neten Monarchie u. &#x017F;. w. Durch die&#x017F;e That&#x017F;ache erfährt der er&#x017F;te Satz<lb/>
von §. 421 eine Be&#x017F;chränkung: die Parallele zwi&#x017F;chen der ge&#x017F;chichtlichen<lb/>
Schönheit und zwi&#x017F;chen der Ge&#x017F;chichte der Phanta&#x017F;ie i&#x017F;t keine voll&#x017F;tändige,<lb/>
auch abge&#x017F;ehen davon, daß die energi&#x017F;chen Völker, deren Ge&#x017F;chichte reich<lb/>
an Stoff i&#x017F;t, und die phanta&#x017F;iereichen, welche &#x017F;elb&#x017F;t viel Schönes produci-<lb/>
ren, keineswegs durchaus die&#x017F;elben &#x017F;ind; die Periode, worin die Ge&#x017F;chichte<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[412/0126] Anm. 1). Auch löſen ſich dieſe fördernden Wirkungen doch keineswegs vom ſchönen Bilde ganz ab; dieſes bleibt für die Maſſe mindeſtens ihr Ve- hikel, für die Zahl der Phantaſiebegabteren aber immer in ganzer Ein- heit mit dem Gehalte und die getrennt ſittliche, intellectuelle tritt bei ihnen immer nur als Nachwirkung der vollen äſthetiſchen ein. §. 424. Da aber die Phantaſie immer eine gewiſſe Vergangenheit ihres Stoffes fordert, ſo iſt die Zeit der herben Kraft, wodurch die Nationen groß werden, nicht der Boden, worin ſie blüht, ſondern die bewegliche Erregung, welche die Frucht des durch vorhergehende Kämpfe errungenen Glücks iſt, die Glanzperiode der Völker, welche freilich auch die Keime des Verfalls ſchon in ſich birgt. Während des Kampfes der Kraft und bei ſchon eingetretenem Verfall kann die Phantaſie nur in unreifen Formen und in den durch §. 406 aufgeſtellten Abarten und Ausartungen ſich thätig erweiſen. Daß der Stoff in eine gewiſſe Entfernung (des Raums und) der Zeit von der Phantaſie zurücktreten muß, haben wir auf verſchiedenen Punkten ausſprechen müſſen: ſo §. 54 Anm.; es folgt ferner aus der Lehre vom Verhältniß des Guten zum Schönen §. 56—60; aus der Abweiſung der materiellen Sinne (§. 71) und alles Intereſſes (§. 75) vom ſub- jectiven Eindrucke des Schönen; endlich aus dem Rücktritt vom Gegen- ſtande, durch den die Anſchauung zur Einbildung wird §. 387, 2, aus dem Erlöſchen der Leidenſchaft, welche §. 393, und der Einkehr in ſich, welche §. 394 forderte. Die eigentlich thätige Zeit eines Volks iſt nicht die ſeiner äſthetiſchen Production, da herrſcht die Unruhe des Intereſſes, der ſtoffartige Zweck, der Standpunkt des Sollens. Allerdings iſt nur Geſundheit, tüchtige Fülle, Macht und Glück das Mark, womit ſich das Schöne nährt, aber dieſes Wohlſein blüht eben in dem Augenblick auf, wo die herben Kämpfe ſchweigen, durch die es erarbeitet werden mußte. Die Ilias wurde nicht von den Kriegern vor Troja unter dem Lärm der Waffen gedichtet, die großen Tragiker, Bildhauer, Baukünſtler traten nicht während der Perſerkriege, ſondern kurz nach ihnen auf, Shakespeare nach den blutigen Feudal-Kämpfen zur Zeit ihrer Beruhigung in einer geord- neten Monarchie u. ſ. w. Durch dieſe Thatſache erfährt der erſte Satz von §. 421 eine Beſchränkung: die Parallele zwiſchen der geſchichtlichen Schönheit und zwiſchen der Geſchichte der Phantaſie iſt keine vollſtändige, auch abgeſehen davon, daß die energiſchen Völker, deren Geſchichte reich an Stoff iſt, und die phantaſiereichen, welche ſelbſt viel Schönes produci- ren, keineswegs durchaus dieſelben ſind; die Periode, worin die Geſchichte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/126
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/126>, abgerufen am 28.03.2024.