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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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vielmehr ist hier jede Erhebung irgend eines Stoffs in die ideell umbildende
Phantasie ein Vergöttern: der Heros stammt von einem Gotte ab, durch
die Statue, die ihm errichtet wird, genießt er göttliche Ehre u. s. w.
Dadurch muß freilich ein anderer Widerspruch entstehen: es bekommt eine
Lebenssphäre einen vergötterten Menschen zu ihrem Repräsentanten, wel-
cher ohnedieß schon ein Gott vorsteht, und so nicht nur Eine, sondern
mehrere, ja es entsteht ein Durcheinanderhandeln von Göttern und Men-
schen, worin füglich die Einen oder Andern erspart werden könnten. Die-
ser Widerspruch stört aber die Phantasie der Naturreligion um so weni-
ger, da er in der That schon in ihrem Götterkreise selbst herrscht; denn
es kann nicht ausbleiben, daß einzelne Sphären durch mehrere Götter
repräsentirt werden, wie umgekehrt Ein Gott mehrere Sphären repräsen-
tirt. Jenes Durcheinanderhandeln tritt übrigens ebenso im Verhältniß zu
den Naturkräften ein: die Phantasie sucht eine Naturerscheinung an sich,
ohne Vergötterung, in die Schönheit zu erheben, allein der Prozeß schließt
immer mit einer Zurückführung auf einen Gott: so ist auch hier dasselbe
Doppeltsetzen, woraus sich diese Art von Phantasie ein logisches Gewissen
zu machen noch gar nicht die weiteren Bildungsmittel hat. Dieß ganze
Doppeltsetzen ist aber eben nichts Anderes, als die schon oben als wesent-
liches Moment aufgenommene "Durchlöcherung".

3. Es bedarf keines Beweises, daß diese Epoche der Phantasie sich in
der bildenden Art bewegen, daß sie vorzüglich auf das Auge organisirt
sein wird. Dieß soll sich im Einzelnen erst näher bestimmen und erst dann
zugleich die Beziehung dieses Ideals zu den übrigen allgemeinen Arten
der Phantasie (§. 402. 403) zur Sprache gebracht werden. Es versteht
sich, daß die empfindende und dichtende nicht fehlt, aber der Standpunkt
der bildenden wirkt bestimmend in diese hinüber.

a.
Die vorbereitende symbolische Phantasie des Morgenlandes.
§. 426.

Dualistisch und ohne wahre Persönlichkeit, wie der ganze Charakter des
1Orients (vergl. §. 343), ist auch seine Phantasie. Der Mangel der Persön-
lichkeit äußert sich zunächst überhaupt darin, daß sie unter den in §. 403 auf-
gestellten Arten auf diejenigen beschränkt ist, welche nur die Sphäre der unor-
2ganischen Schönheit und der organischen bis zur thierischen umfassen. Ebendeß-
wegen aber, weil diese Phantasie kein anderes Bild hat, um die absolute Idee

vielmehr iſt hier jede Erhebung irgend eines Stoffs in die ideell umbildende
Phantaſie ein Vergöttern: der Heros ſtammt von einem Gotte ab, durch
die Statue, die ihm errichtet wird, genießt er göttliche Ehre u. ſ. w.
Dadurch muß freilich ein anderer Widerſpruch entſtehen: es bekommt eine
Lebensſphäre einen vergötterten Menſchen zu ihrem Repräſentanten, wel-
cher ohnedieß ſchon ein Gott vorſteht, und ſo nicht nur Eine, ſondern
mehrere, ja es entſteht ein Durcheinanderhandeln von Göttern und Men-
ſchen, worin füglich die Einen oder Andern erſpart werden könnten. Die-
ſer Widerſpruch ſtört aber die Phantaſie der Naturreligion um ſo weni-
ger, da er in der That ſchon in ihrem Götterkreiſe ſelbſt herrſcht; denn
es kann nicht ausbleiben, daß einzelne Sphären durch mehrere Götter
repräſentirt werden, wie umgekehrt Ein Gott mehrere Sphären repräſen-
tirt. Jenes Durcheinanderhandeln tritt übrigens ebenſo im Verhältniß zu
den Naturkräften ein: die Phantaſie ſucht eine Naturerſcheinung an ſich,
ohne Vergötterung, in die Schönheit zu erheben, allein der Prozeß ſchließt
immer mit einer Zurückführung auf einen Gott: ſo iſt auch hier daſſelbe
Doppeltſetzen, woraus ſich dieſe Art von Phantaſie ein logiſches Gewiſſen
zu machen noch gar nicht die weiteren Bildungsmittel hat. Dieß ganze
Doppeltſetzen iſt aber eben nichts Anderes, als die ſchon oben als weſent-
liches Moment aufgenommene „Durchlöcherung“.

3. Es bedarf keines Beweiſes, daß dieſe Epoche der Phantaſie ſich in
der bildenden Art bewegen, daß ſie vorzüglich auf das Auge organiſirt
ſein wird. Dieß ſoll ſich im Einzelnen erſt näher beſtimmen und erſt dann
zugleich die Beziehung dieſes Ideals zu den übrigen allgemeinen Arten
der Phantaſie (§. 402. 403) zur Sprache gebracht werden. Es verſteht
ſich, daß die empfindende und dichtende nicht fehlt, aber der Standpunkt
der bildenden wirkt beſtimmend in dieſe hinüber.

α.
Die vorbereitende ſymboliſche Phantaſie des Morgenlandes.
§. 426.

Dualiſtiſch und ohne wahre Perſönlichkeit, wie der ganze Charakter des
1Orients (vergl. §. 343), iſt auch ſeine Phantaſie. Der Mangel der Perſön-
lichkeit äußert ſich zunächſt überhaupt darin, daß ſie unter den in §. 403 auf-
geſtellten Arten auf diejenigen beſchränkt iſt, welche nur die Sphäre der unor-
2ganiſchen Schönheit und der organiſchen bis zur thieriſchen umfaſſen. Ebendeß-
wegen aber, weil dieſe Phantaſie kein anderes Bild hat, um die abſolute Idee

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[416/0130] vielmehr iſt hier jede Erhebung irgend eines Stoffs in die ideell umbildende Phantaſie ein Vergöttern: der Heros ſtammt von einem Gotte ab, durch die Statue, die ihm errichtet wird, genießt er göttliche Ehre u. ſ. w. Dadurch muß freilich ein anderer Widerſpruch entſtehen: es bekommt eine Lebensſphäre einen vergötterten Menſchen zu ihrem Repräſentanten, wel- cher ohnedieß ſchon ein Gott vorſteht, und ſo nicht nur Eine, ſondern mehrere, ja es entſteht ein Durcheinanderhandeln von Göttern und Men- ſchen, worin füglich die Einen oder Andern erſpart werden könnten. Die- ſer Widerſpruch ſtört aber die Phantaſie der Naturreligion um ſo weni- ger, da er in der That ſchon in ihrem Götterkreiſe ſelbſt herrſcht; denn es kann nicht ausbleiben, daß einzelne Sphären durch mehrere Götter repräſentirt werden, wie umgekehrt Ein Gott mehrere Sphären repräſen- tirt. Jenes Durcheinanderhandeln tritt übrigens ebenſo im Verhältniß zu den Naturkräften ein: die Phantaſie ſucht eine Naturerſcheinung an ſich, ohne Vergötterung, in die Schönheit zu erheben, allein der Prozeß ſchließt immer mit einer Zurückführung auf einen Gott: ſo iſt auch hier daſſelbe Doppeltſetzen, woraus ſich dieſe Art von Phantaſie ein logiſches Gewiſſen zu machen noch gar nicht die weiteren Bildungsmittel hat. Dieß ganze Doppeltſetzen iſt aber eben nichts Anderes, als die ſchon oben als weſent- liches Moment aufgenommene „Durchlöcherung“. 3. Es bedarf keines Beweiſes, daß dieſe Epoche der Phantaſie ſich in der bildenden Art bewegen, daß ſie vorzüglich auf das Auge organiſirt ſein wird. Dieß ſoll ſich im Einzelnen erſt näher beſtimmen und erſt dann zugleich die Beziehung dieſes Ideals zu den übrigen allgemeinen Arten der Phantaſie (§. 402. 403) zur Sprache gebracht werden. Es verſteht ſich, daß die empfindende und dichtende nicht fehlt, aber der Standpunkt der bildenden wirkt beſtimmend in dieſe hinüber. α. Die vorbereitende ſymboliſche Phantaſie des Morgenlandes. §. 426. Dualiſtiſch und ohne wahre Perſönlichkeit, wie der ganze Charakter des Orients (vergl. §. 343), iſt auch ſeine Phantaſie. Der Mangel der Perſön- lichkeit äußert ſich zunächſt überhaupt darin, daß ſie unter den in §. 403 auf- geſtellten Arten auf diejenigen beſchränkt iſt, welche nur die Sphäre der unor- ganiſchen Schönheit und der organiſchen bis zur thieriſchen umfaſſen. Ebendeß- wegen aber, weil dieſe Phantaſie kein anderes Bild hat, um die abſolute Idee

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/130>, abgerufen am 20.04.2024.