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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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diejenige sei, in welcher das Böse sich darstelle, und in §. 406, [a]. die
schlechte Gesinnung als innerer Grund der häßlichen Phantasie gesetzt;
die symbolische Phantasie aber ist ja unschuldig, da ein solches Bild auf eine
ehrwürdige Idee hindeuten soll. Allein eine Zuchtlosigkeit kommt hier doch
zum Vorschein und der scheußliche Gottesdienst, der dazu gehörte und den
wir namentlich bei Syrern und Phöniziern finden, erscheint allerdings als
Verwilderung des Menschen, weil wir auch der Menschheit vor der Bil-
dung ein Gefühl und Ahnung des sittlichen Maaßes, das sich zum schönen ge-
stalten müßte, zutrauen dürfen; es gibt in gewissem Sinn doch eine Sünde
vor dem Sündenfall und ein wüstes Wühlen im Schmutze, wo schon An-
sätze der reineren Anschauung sind, die es Lügen strafen. Auch eigentlich
wilde Völker bilden Larven und Fratzen, die eine Ausartung mitten in
der rohen Natur selbst zu erkennen geben; die liebe Natur hat auch ihre
Laster der Cultur. So bewährt sich, was am Schluß der Anmerkung
zu §. 424 gesagt ist. Aber auch das Häßliche, wo es hingehört, das Häß-
liche der bösen Götter, ist nicht wahrhaft ästhetisch häßlich; der zähne-
fletschende Siwa mit dem Halsbande von Schädeln, der Drache Ariman
u. s. w. sind gespenstisch schauderhaft, ohne sich, wie der christliche Teufel,
komisch oder durch eine Untiefe geistig bösen Ausdrucks in das wahrhaft
Furchtbare aufzulösen; denn das Böse selbst ist ja wieder nur die zer-
störende Naturmacht und das Häßliche muß das Auge verletzen, um diese
Leerheit zuzudecken. -- Daß in dieser Welt Alles dunkel bleibt, folgt
von selbst; dunkel nicht nur für die späte Nachwelt, sondern für die Mit-
welt und den hervorbringenden Geist selbst. Das Schöne aber soll sich
selbst erklären.

Wir werden den Begriff des Typus in der Kunstlehre wieder
aufnehmen müssen, aber sein innerer Grund liegt in der Fesslung der
Phantasie durch den unfreien Schein der Religion. Unreife Formen er-
scheinen gerade wegen ihres Dunkels ehrwürdig und heilig, da entsteht
eine Scheue, oder, wie in Aegypten, eigentliche Priestersatzung, welche die
Phantasie auf dem Standpunkte einer bis zu einem gewissen Grade vor-
gedrungenen Entwicklung hemmt. Natürlich ist es dann die Ausführung,
worin man den Fortschritt nicht zuläßt, aber das Phantasiebild selbst, das
dieser darstellen wollte, gilt für frivol. Gebundenheit in allem Ueberschwel-
len ist der weitere Charakter dieser Phantasie.

§. 431.

1

Die indische Phantasie legt das stärkste Gewicht auf den dunkeln Ab-
grund der höchsten Einheit (§. 429) und indem die Bewegung aus ihm und
zu ihm das erste Gesetz einer reich hervorsprudelnden Gestaltenwelt ist, so ver-

diejenige ſei, in welcher das Böſe ſich darſtelle, und in §. 406, [a]. die
ſchlechte Geſinnung als innerer Grund der häßlichen Phantaſie geſetzt;
die ſymboliſche Phantaſie aber iſt ja unſchuldig, da ein ſolches Bild auf eine
ehrwürdige Idee hindeuten ſoll. Allein eine Zuchtloſigkeit kommt hier doch
zum Vorſchein und der ſcheußliche Gottesdienſt, der dazu gehörte und den
wir namentlich bei Syrern und Phöniziern finden, erſcheint allerdings als
Verwilderung des Menſchen, weil wir auch der Menſchheit vor der Bil-
dung ein Gefühl und Ahnung des ſittlichen Maaßes, das ſich zum ſchönen ge-
ſtalten müßte, zutrauen dürfen; es gibt in gewiſſem Sinn doch eine Sünde
vor dem Sündenfall und ein wüſtes Wühlen im Schmutze, wo ſchon An-
ſätze der reineren Anſchauung ſind, die es Lügen ſtrafen. Auch eigentlich
wilde Völker bilden Larven und Fratzen, die eine Ausartung mitten in
der rohen Natur ſelbſt zu erkennen geben; die liebe Natur hat auch ihre
Laſter der Cultur. So bewährt ſich, was am Schluß der Anmerkung
zu §. 424 geſagt iſt. Aber auch das Häßliche, wo es hingehört, das Häß-
liche der böſen Götter, iſt nicht wahrhaft äſthetiſch häßlich; der zähne-
fletſchende Siwa mit dem Halsbande von Schädeln, der Drache Ariman
u. ſ. w. ſind geſpenſtiſch ſchauderhaft, ohne ſich, wie der chriſtliche Teufel,
komiſch oder durch eine Untiefe geiſtig böſen Ausdrucks in das wahrhaft
Furchtbare aufzulöſen; denn das Böſe ſelbſt iſt ja wieder nur die zer-
ſtörende Naturmacht und das Häßliche muß das Auge verletzen, um dieſe
Leerheit zuzudecken. — Daß in dieſer Welt Alles dunkel bleibt, folgt
von ſelbſt; dunkel nicht nur für die ſpäte Nachwelt, ſondern für die Mit-
welt und den hervorbringenden Geiſt ſelbſt. Das Schöne aber ſoll ſich
ſelbſt erklären.

Wir werden den Begriff des Typus in der Kunſtlehre wieder
aufnehmen müſſen, aber ſein innerer Grund liegt in der Feſſlung der
Phantaſie durch den unfreien Schein der Religion. Unreife Formen er-
ſcheinen gerade wegen ihres Dunkels ehrwürdig und heilig, da entſteht
eine Scheue, oder, wie in Aegypten, eigentliche Prieſterſatzung, welche die
Phantaſie auf dem Standpunkte einer bis zu einem gewiſſen Grade vor-
gedrungenen Entwicklung hemmt. Natürlich iſt es dann die Ausführung,
worin man den Fortſchritt nicht zuläßt, aber das Phantaſiebild ſelbſt, das
dieſer darſtellen wollte, gilt für frivol. Gebundenheit in allem Ueberſchwel-
len iſt der weitere Charakter dieſer Phantaſie.

§. 431.

1

Die indiſche Phantaſie legt das ſtärkſte Gewicht auf den dunkeln Ab-
grund der höchſten Einheit (§. 429) und indem die Bewegung aus ihm und
zu ihm das erſte Geſetz einer reich hervorſprudelnden Geſtaltenwelt iſt, ſo ver-

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[432/0146] diejenige ſei, in welcher das Böſe ſich darſtelle, und in §. 406, a. die ſchlechte Geſinnung als innerer Grund der häßlichen Phantaſie geſetzt; die ſymboliſche Phantaſie aber iſt ja unſchuldig, da ein ſolches Bild auf eine ehrwürdige Idee hindeuten ſoll. Allein eine Zuchtloſigkeit kommt hier doch zum Vorſchein und der ſcheußliche Gottesdienſt, der dazu gehörte und den wir namentlich bei Syrern und Phöniziern finden, erſcheint allerdings als Verwilderung des Menſchen, weil wir auch der Menſchheit vor der Bil- dung ein Gefühl und Ahnung des ſittlichen Maaßes, das ſich zum ſchönen ge- ſtalten müßte, zutrauen dürfen; es gibt in gewiſſem Sinn doch eine Sünde vor dem Sündenfall und ein wüſtes Wühlen im Schmutze, wo ſchon An- ſätze der reineren Anſchauung ſind, die es Lügen ſtrafen. Auch eigentlich wilde Völker bilden Larven und Fratzen, die eine Ausartung mitten in der rohen Natur ſelbſt zu erkennen geben; die liebe Natur hat auch ihre Laſter der Cultur. So bewährt ſich, was am Schluß der Anmerkung zu §. 424 geſagt iſt. Aber auch das Häßliche, wo es hingehört, das Häß- liche der böſen Götter, iſt nicht wahrhaft äſthetiſch häßlich; der zähne- fletſchende Siwa mit dem Halsbande von Schädeln, der Drache Ariman u. ſ. w. ſind geſpenſtiſch ſchauderhaft, ohne ſich, wie der chriſtliche Teufel, komiſch oder durch eine Untiefe geiſtig böſen Ausdrucks in das wahrhaft Furchtbare aufzulöſen; denn das Böſe ſelbſt iſt ja wieder nur die zer- ſtörende Naturmacht und das Häßliche muß das Auge verletzen, um dieſe Leerheit zuzudecken. — Daß in dieſer Welt Alles dunkel bleibt, folgt von ſelbſt; dunkel nicht nur für die ſpäte Nachwelt, ſondern für die Mit- welt und den hervorbringenden Geiſt ſelbſt. Das Schöne aber ſoll ſich ſelbſt erklären. Wir werden den Begriff des Typus in der Kunſtlehre wieder aufnehmen müſſen, aber ſein innerer Grund liegt in der Feſſlung der Phantaſie durch den unfreien Schein der Religion. Unreife Formen er- ſcheinen gerade wegen ihres Dunkels ehrwürdig und heilig, da entſteht eine Scheue, oder, wie in Aegypten, eigentliche Prieſterſatzung, welche die Phantaſie auf dem Standpunkte einer bis zu einem gewiſſen Grade vor- gedrungenen Entwicklung hemmt. Natürlich iſt es dann die Ausführung, worin man den Fortſchritt nicht zuläßt, aber das Phantaſiebild ſelbſt, das dieſer darſtellen wollte, gilt für frivol. Gebundenheit in allem Ueberſchwel- len iſt der weitere Charakter dieſer Phantaſie. §. 431. Die indiſche Phantaſie legt das ſtärkſte Gewicht auf den dunkeln Ab- grund der höchſten Einheit (§. 429) und indem die Bewegung aus ihm und zu ihm das erſte Geſetz einer reich hervorſprudelnden Geſtaltenwelt iſt, ſo ver-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/146>, abgerufen am 25.04.2024.