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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Erhebung zu religiöser Bedeutung sein; vielmehr ihr dämmerndes Seelen-
leben war es, worin der Aegyptier ein Geheimniß ahnte. Den Orientalen
erscheint noch heute ein Wahnsinniger als ein höheres Wesen, das Traum-
leben der Seele galt dem ganzen Alterthum als Zustand, der einen Blick
gewähre in die Untiefe, woraus der wache Geist kommt. Das wache Ich
scheint durch die Reflexion von seinem Grunde sich zu trennen, ein Abfall
zu sein vom All. Gerade derjenigen Naturreligion, die auf der Schwelle
zur geistigen stand, mußte nun die Lebensform, welche zwischen der un-
beseelten Natur und dem Ich, gefesselt an das Dunkel des Instincts, in
der Mitte steht, unendlich bedeutungsvoll erscheinen. Das Thier scheint
so eben etwas sagen zu wollen und nicht zu können; ebenso diese Religion.
Dazu kam noch ein anderer Grund: das Thier ist einfach, Eine Haupt-
eigenschaft drängt sich hervor; wie für die verständige Fabel, ist es daher
für die dunkel suchende Symbolik ganz willkommen, ein vereinzeltes Mo-
ment der Idee auszudrücken. Nimmt man dazu den ersten Grund, so
hat man die zwei Seiten: das Thier eignet sich zum Symbol um seiner
Einfachheit willen, aber was es als Symbol bedeutet, scheint ihm als
dunkle Seele wirklich einzuwohnen. Daher war den Aegyptiern das Thier
wirklich zwar Symbol, aber es wurde auch unmittelbar als Dasein des
Gottes verehrt. Dieß ist mehr und weniger, als Symbol. Mehr: denn
allemal, wo die Bedeutung zur Seele eines concreten Wesens wird, ist
Fortschritt über das Symbol; weniger: denn das so von seiner Bedeu-
tung als lebendiger Seele warm durchdrungene Wesen soll zwar (auf dem
Standpunkte der Religion) geglaubt sein, als existire es, aber mit der
Einschränkung, daß es in einem Jenseits lebe, und diese Einschränkung
hebt unbewußt den Irrthum jenes Glaubens auf; nun versteht sich, daß
dieses ideale Wesen nur ein als absolut vorgestellter Mensch sein kann,
aber ein Thier und zwar nicht als blos vorgestellt, sondern auch in seiner
unmittelbaren Wirklichkeit als göttlich verehren ist tief unter der Sym-
bolik selbst, ist Fetischismus. Damit war es den Aegyptiern bitterer Ernst;
wenn der Apis krepirte, so war, bis ein neuer gefunden war, ein Jam-
mer, als müßte die Welt, ihres Gottes beraubt, untergehen. So ver-
einigt die ägyptische Phantasie sämmtliche Arten der Naturreligion von
der gröbsten bis zur Schwelle des Bruches mit aller Naturreligion in
sich, steht tief unter sich und sieht weit über sich; sie gleicht ganz der
eigenthümlichen Stellung, die der Affe an der Grenze zwischen Thier und
Mensch einnimmt.

§. 433.

1

Das jüdische Volk bricht mit der Naturreligion, läßt aber einen Rest von
ihr stehen, welcher zur Folge hat, daß sich der Dualismus nun auf das Ver-

Erhebung zu religiöſer Bedeutung ſein; vielmehr ihr dämmerndes Seelen-
leben war es, worin der Aegyptier ein Geheimniß ahnte. Den Orientalen
erſcheint noch heute ein Wahnſinniger als ein höheres Weſen, das Traum-
leben der Seele galt dem ganzen Alterthum als Zuſtand, der einen Blick
gewähre in die Untiefe, woraus der wache Geiſt kommt. Das wache Ich
ſcheint durch die Reflexion von ſeinem Grunde ſich zu trennen, ein Abfall
zu ſein vom All. Gerade derjenigen Naturreligion, die auf der Schwelle
zur geiſtigen ſtand, mußte nun die Lebensform, welche zwiſchen der un-
beſeelten Natur und dem Ich, gefeſſelt an das Dunkel des Inſtincts, in
der Mitte ſteht, unendlich bedeutungsvoll erſcheinen. Das Thier ſcheint
ſo eben etwas ſagen zu wollen und nicht zu können; ebenſo dieſe Religion.
Dazu kam noch ein anderer Grund: das Thier iſt einfach, Eine Haupt-
eigenſchaft drängt ſich hervor; wie für die verſtändige Fabel, iſt es daher
für die dunkel ſuchende Symbolik ganz willkommen, ein vereinzeltes Mo-
ment der Idee auszudrücken. Nimmt man dazu den erſten Grund, ſo
hat man die zwei Seiten: das Thier eignet ſich zum Symbol um ſeiner
Einfachheit willen, aber was es als Symbol bedeutet, ſcheint ihm als
dunkle Seele wirklich einzuwohnen. Daher war den Aegyptiern das Thier
wirklich zwar Symbol, aber es wurde auch unmittelbar als Daſein des
Gottes verehrt. Dieß iſt mehr und weniger, als Symbol. Mehr: denn
allemal, wo die Bedeutung zur Seele eines concreten Weſens wird, iſt
Fortſchritt über das Symbol; weniger: denn das ſo von ſeiner Bedeu-
tung als lebendiger Seele warm durchdrungene Weſen ſoll zwar (auf dem
Standpunkte der Religion) geglaubt ſein, als exiſtire es, aber mit der
Einſchränkung, daß es in einem Jenſeits lebe, und dieſe Einſchränkung
hebt unbewußt den Irrthum jenes Glaubens auf; nun verſteht ſich, daß
dieſes ideale Weſen nur ein als abſolut vorgeſtellter Menſch ſein kann,
aber ein Thier und zwar nicht als blos vorgeſtellt, ſondern auch in ſeiner
unmittelbaren Wirklichkeit als göttlich verehren iſt tief unter der Sym-
bolik ſelbſt, iſt Fetiſchiſmus. Damit war es den Aegyptiern bitterer Ernſt;
wenn der Apis krepirte, ſo war, bis ein neuer gefunden war, ein Jam-
mer, als müßte die Welt, ihres Gottes beraubt, untergehen. So ver-
einigt die ägyptiſche Phantaſie ſämmtliche Arten der Naturreligion von
der gröbſten bis zur Schwelle des Bruches mit aller Naturreligion in
ſich, ſteht tief unter ſich und ſieht weit über ſich; ſie gleicht ganz der
eigenthümlichen Stellung, die der Affe an der Grenze zwiſchen Thier und
Menſch einnimmt.

§. 433.

1

Das jüdiſche Volk bricht mit der Naturreligion, läßt aber einen Reſt von
ihr ſtehen, welcher zur Folge hat, daß ſich der Dualiſmus nun auf das Ver-

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[440/0154] Erhebung zu religiöſer Bedeutung ſein; vielmehr ihr dämmerndes Seelen- leben war es, worin der Aegyptier ein Geheimniß ahnte. Den Orientalen erſcheint noch heute ein Wahnſinniger als ein höheres Weſen, das Traum- leben der Seele galt dem ganzen Alterthum als Zuſtand, der einen Blick gewähre in die Untiefe, woraus der wache Geiſt kommt. Das wache Ich ſcheint durch die Reflexion von ſeinem Grunde ſich zu trennen, ein Abfall zu ſein vom All. Gerade derjenigen Naturreligion, die auf der Schwelle zur geiſtigen ſtand, mußte nun die Lebensform, welche zwiſchen der un- beſeelten Natur und dem Ich, gefeſſelt an das Dunkel des Inſtincts, in der Mitte ſteht, unendlich bedeutungsvoll erſcheinen. Das Thier ſcheint ſo eben etwas ſagen zu wollen und nicht zu können; ebenſo dieſe Religion. Dazu kam noch ein anderer Grund: das Thier iſt einfach, Eine Haupt- eigenſchaft drängt ſich hervor; wie für die verſtändige Fabel, iſt es daher für die dunkel ſuchende Symbolik ganz willkommen, ein vereinzeltes Mo- ment der Idee auszudrücken. Nimmt man dazu den erſten Grund, ſo hat man die zwei Seiten: das Thier eignet ſich zum Symbol um ſeiner Einfachheit willen, aber was es als Symbol bedeutet, ſcheint ihm als dunkle Seele wirklich einzuwohnen. Daher war den Aegyptiern das Thier wirklich zwar Symbol, aber es wurde auch unmittelbar als Daſein des Gottes verehrt. Dieß iſt mehr und weniger, als Symbol. Mehr: denn allemal, wo die Bedeutung zur Seele eines concreten Weſens wird, iſt Fortſchritt über das Symbol; weniger: denn das ſo von ſeiner Bedeu- tung als lebendiger Seele warm durchdrungene Weſen ſoll zwar (auf dem Standpunkte der Religion) geglaubt ſein, als exiſtire es, aber mit der Einſchränkung, daß es in einem Jenſeits lebe, und dieſe Einſchränkung hebt unbewußt den Irrthum jenes Glaubens auf; nun verſteht ſich, daß dieſes ideale Weſen nur ein als abſolut vorgeſtellter Menſch ſein kann, aber ein Thier und zwar nicht als blos vorgeſtellt, ſondern auch in ſeiner unmittelbaren Wirklichkeit als göttlich verehren iſt tief unter der Sym- bolik ſelbſt, iſt Fetiſchiſmus. Damit war es den Aegyptiern bitterer Ernſt; wenn der Apis krepirte, ſo war, bis ein neuer gefunden war, ein Jam- mer, als müßte die Welt, ihres Gottes beraubt, untergehen. So ver- einigt die ägyptiſche Phantaſie ſämmtliche Arten der Naturreligion von der gröbſten bis zur Schwelle des Bruches mit aller Naturreligion in ſich, ſteht tief unter ſich und ſieht weit über ſich; ſie gleicht ganz der eigenthümlichen Stellung, die der Affe an der Grenze zwiſchen Thier und Menſch einnimmt. §. 433. Das jüdiſche Volk bricht mit der Naturreligion, läßt aber einen Reſt von ihr ſtehen, welcher zur Folge hat, daß ſich der Dualiſmus nun auf das Ver-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/154>, abgerufen am 18.04.2024.