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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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zu sein, zeigt die Lehre von der Dreieinigkeit. Der große Riß in den
Naturzusammenhang der Welt, der mit der Geburt eines Gottessohnes
gesetzt ist, muß auch das Band und die Kette der natürlichen Fortpflan-
zung zerreißen: die Mutter Gottes bleibt Jungfrau, ja sie wird in den
Himmel erhoben, vergöttert und selbst der Dualismus männlicher und
weiblicher Gottheiten kehrt wieder. Es ist dieß nur consequent. Gott
ist masculinum, dieß fordert auch ein femininum.

§. 449.

Wie in diesem Anfang der mit Mythen verschmolzenen Sage die innere
Bewegung der Versöhnung des Menschen als wunderbare Vergangenheit gesetzt
ist, so wird die Vollendung dieser Bewegung als Auferstehung, Weltgericht,
Wiederbringung aller Dinge in die Zukunft hinausgestellt. Zwischen diesen
Polen eines doppelten Jenseits in der Zeit und denen des räumlichen Jenseits
von Himmel und Hölle schwebt mündig und unmündig die Welt. In der Mensch-
heit setzen sich die Wunder fort; in der mehr weltlichen wie in der religiösen
Sage ist wunderbare Ablösung vom Zusammenhang der erfahrungsmäßigen
Wirklichkeit Bedingung der Idealität. Die Seligen und Heiligen bevölkern
noch weiter den Himmel, die Verdammten die Hölle. Die Wunder sind we-
sentlich auch unmittelbare Wirkungen auf die umgebende Natur, welche, ohne-
dieß von alten, zu Geistern herabgesetzten Göttern wimmelnd, dem Zauber
einen offenen Schauplatz darbietet.

Man bemerke, daß wir erst noch beschäftigt sind, das Reich von
Phantasiebildungen kurz zu entwerfen, das in dieser Weltanschauung die
allgemeine Phantasie der besondern als Stoff vorbildet und zuarbeitet.
Von dem inneren Geiste, der alle diese Gestaltungen durchdringt, ist
noch nicht, war wenigstens nur erst beiläufig zu vorh. §. die Rede, auch
wird derselbe, wenn wir weiterhin auf ihn eingehen, nicht viele Worte
verlangen, denn er ist nur eine Uebersetzung dessen, was über den Cha-
rakter dieser Zeiten und Völker an sich in §. 354 ff. gesagt ist, in die
Phantasie. Im vorliegenden §. ist ein religiöser und ein "mehr welt-
licher" Sagenkreis unterschieden. Die Rittersage ist nur mehr weltlich,
als die Legende; auch der Ritter verdient sich das Himmelreich durch
devote Handlungen, wobei ihn Wunder unterstützen, und schließliche
Ascese. Die folgende Ausführung wird die wichtigsten Sagenkreise unter-
scheiden. Ausgezeichnete Frömmigkeit macht nach dem Tode nicht nur
selig, sondern heilig. Es entsteht dadurch um so mehr eine neue Bevöl-
kerung des Olymps, weil hier die Sage an Mythen, also Götter an-
knüpft. Die Aemter der Heiligen sind ganz erkennbar Aemter früherer

zu ſein, zeigt die Lehre von der Dreieinigkeit. Der große Riß in den
Naturzuſammenhang der Welt, der mit der Geburt eines Gottesſohnes
geſetzt iſt, muß auch das Band und die Kette der natürlichen Fortpflan-
zung zerreißen: die Mutter Gottes bleibt Jungfrau, ja ſie wird in den
Himmel erhoben, vergöttert und ſelbſt der Dualiſmus männlicher und
weiblicher Gottheiten kehrt wieder. Es iſt dieß nur conſequent. Gott
iſt masculinum, dieß fordert auch ein femininum.

§. 449.

Wie in dieſem Anfang der mit Mythen verſchmolzenen Sage die innere
Bewegung der Verſöhnung des Menſchen als wunderbare Vergangenheit geſetzt
iſt, ſo wird die Vollendung dieſer Bewegung als Auferſtehung, Weltgericht,
Wiederbringung aller Dinge in die Zukunft hinausgeſtellt. Zwiſchen dieſen
Polen eines doppelten Jenſeits in der Zeit und denen des räumlichen Jenſeits
von Himmel und Hölle ſchwebt mündig und unmündig die Welt. In der Menſch-
heit ſetzen ſich die Wunder fort; in der mehr weltlichen wie in der religiöſen
Sage iſt wunderbare Ablöſung vom Zuſammenhang der erfahrungsmäßigen
Wirklichkeit Bedingung der Idealität. Die Seligen und Heiligen bevölkern
noch weiter den Himmel, die Verdammten die Hölle. Die Wunder ſind we-
ſentlich auch unmittelbare Wirkungen auf die umgebende Natur, welche, ohne-
dieß von alten, zu Geiſtern herabgeſetzten Göttern wimmelnd, dem Zauber
einen offenen Schauplatz darbietet.

Man bemerke, daß wir erſt noch beſchäftigt ſind, das Reich von
Phantaſiebildungen kurz zu entwerfen, das in dieſer Weltanſchauung die
allgemeine Phantaſie der beſondern als Stoff vorbildet und zuarbeitet.
Von dem inneren Geiſte, der alle dieſe Geſtaltungen durchdringt, iſt
noch nicht, war wenigſtens nur erſt beiläufig zu vorh. §. die Rede, auch
wird derſelbe, wenn wir weiterhin auf ihn eingehen, nicht viele Worte
verlangen, denn er iſt nur eine Ueberſetzung deſſen, was über den Cha-
rakter dieſer Zeiten und Völker an ſich in §. 354 ff. geſagt iſt, in die
Phantaſie. Im vorliegenden §. iſt ein religiöſer und ein „mehr welt-
licher“ Sagenkreis unterſchieden. Die Ritterſage iſt nur mehr weltlich,
als die Legende; auch der Ritter verdient ſich das Himmelreich durch
devote Handlungen, wobei ihn Wunder unterſtützen, und ſchließliche
Aſceſe. Die folgende Ausführung wird die wichtigſten Sagenkreiſe unter-
ſcheiden. Ausgezeichnete Frömmigkeit macht nach dem Tode nicht nur
ſelig, ſondern heilig. Es entſteht dadurch um ſo mehr eine neue Bevöl-
kerung des Olymps, weil hier die Sage an Mythen, alſo Götter an-
knüpft. Die Aemter der Heiligen ſind ganz erkennbar Aemter früherer

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[476/0190] zu ſein, zeigt die Lehre von der Dreieinigkeit. Der große Riß in den Naturzuſammenhang der Welt, der mit der Geburt eines Gottesſohnes geſetzt iſt, muß auch das Band und die Kette der natürlichen Fortpflan- zung zerreißen: die Mutter Gottes bleibt Jungfrau, ja ſie wird in den Himmel erhoben, vergöttert und ſelbſt der Dualiſmus männlicher und weiblicher Gottheiten kehrt wieder. Es iſt dieß nur conſequent. Gott iſt masculinum, dieß fordert auch ein femininum. §. 449. Wie in dieſem Anfang der mit Mythen verſchmolzenen Sage die innere Bewegung der Verſöhnung des Menſchen als wunderbare Vergangenheit geſetzt iſt, ſo wird die Vollendung dieſer Bewegung als Auferſtehung, Weltgericht, Wiederbringung aller Dinge in die Zukunft hinausgeſtellt. Zwiſchen dieſen Polen eines doppelten Jenſeits in der Zeit und denen des räumlichen Jenſeits von Himmel und Hölle ſchwebt mündig und unmündig die Welt. In der Menſch- heit ſetzen ſich die Wunder fort; in der mehr weltlichen wie in der religiöſen Sage iſt wunderbare Ablöſung vom Zuſammenhang der erfahrungsmäßigen Wirklichkeit Bedingung der Idealität. Die Seligen und Heiligen bevölkern noch weiter den Himmel, die Verdammten die Hölle. Die Wunder ſind we- ſentlich auch unmittelbare Wirkungen auf die umgebende Natur, welche, ohne- dieß von alten, zu Geiſtern herabgeſetzten Göttern wimmelnd, dem Zauber einen offenen Schauplatz darbietet. Man bemerke, daß wir erſt noch beſchäftigt ſind, das Reich von Phantaſiebildungen kurz zu entwerfen, das in dieſer Weltanſchauung die allgemeine Phantaſie der beſondern als Stoff vorbildet und zuarbeitet. Von dem inneren Geiſte, der alle dieſe Geſtaltungen durchdringt, iſt noch nicht, war wenigſtens nur erſt beiläufig zu vorh. §. die Rede, auch wird derſelbe, wenn wir weiterhin auf ihn eingehen, nicht viele Worte verlangen, denn er iſt nur eine Ueberſetzung deſſen, was über den Cha- rakter dieſer Zeiten und Völker an ſich in §. 354 ff. geſagt iſt, in die Phantaſie. Im vorliegenden §. iſt ein religiöſer und ein „mehr welt- licher“ Sagenkreis unterſchieden. Die Ritterſage iſt nur mehr weltlich, als die Legende; auch der Ritter verdient ſich das Himmelreich durch devote Handlungen, wobei ihn Wunder unterſtützen, und ſchließliche Aſceſe. Die folgende Ausführung wird die wichtigſten Sagenkreiſe unter- ſcheiden. Ausgezeichnete Frömmigkeit macht nach dem Tode nicht nur ſelig, ſondern heilig. Es entſteht dadurch um ſo mehr eine neue Bevöl- kerung des Olymps, weil hier die Sage an Mythen, alſo Götter an- knüpft. Die Aemter der Heiligen ſind ganz erkennbar Aemter früherer

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/190>, abgerufen am 23.04.2024.