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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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a.
Vorstufe.
§. 459.

Während christlicher Mythus und Sage sich von einfachen Anfängen fort-
bilden, nimmt die einheimisch deutsche Heldensage, die den ächt germanischen
Charakter in seiner wortarmen Tiefe und rauhen Selbständigkeit zwar hart,
aber groß und mit einer der griechischen Objectivität verwandten Geradheit der
Motive entfaltet, fortwachsend Bestandtheile aus neuen und anderen Verhält-
nissen in sich auf. Die erste Verbindung christlich universeller und volksmäßig
germanischer Sage erkennt man in der Carls-Sage.

Der religiöse Mythus hat mit den Evangelien schon eine Abrun-
dung gefunden, allein die früheren Jahrhunderte des Mittelalters erwei-
tern mehr und mehr den christlichen Olymp aus den Beiträgen aller
vorchristlichen Religionen. Die germanische trägt insbesondere in die
Vorstellung des Weltuntergangs die erhabenen Bilder der Götterdämme-
rung ein. Als völliger Gegensatz steht die aus heidnischer Vorzeit her-
übergenommene deutsche Heldensage der neuen geistigen Welt gegenüber.
Kein Volk hat eine der griechischen so ebenbürtige Heldensage aufzuwei-
sen wie das deutsche. Der Dualismus des deutschen Charakters ist zwar
darin bereits ausgesprochen, aber dieser Dualismus hat seine Stadien.
Hier erscheint zwar bereits das Innere nicht in seinem Aeußeren erschöpft,
die Menschen können nicht reden, sie haben keine Geschmeidigkeit, keine
Leichtigkeit, ja Dieterich muß erst von seinem greisen Waffenmeister geschla-
gen werden, bis er sich zum Kampf im Rosengarten entschließt, doch dann
fahren ihm vor Kampfwuth Flammen aus dem Mund. Es ist also wohl
ein Gehalt, der nicht ganz und voll über seine Schwelle dringen kann,
aber in diesem Gehalte selbst ist nicht der weitere Bruch der einfachen
realen Motive gediegener Sitte mit ganz transcendenten Motiven, welche
jene zu opfern geböten. Liebe, Rache, Haß gehen geradezu, von keiner
subjectiven Moral gebrochen, ein Fluß ohne Wehre, ihren Weg. Daher
sind diese Menschen naiv und ganz, aus Einem Stücke freilich rauhen
Gesteins gehauen, tüchtige und grobe Gesundheit des sittlichen Lebens
findet in ihnen ihre einfachen typischen Vertreter, welche in derben Grund-
zügen die Hauptcharaktere des Nationalgeistes darstellen. Heidnische My-
thologie spielte im ursprünglichen Sagenbilde natürlich eine stärkere Rolle,
doch schon in diesem haben die Personen das Ungebeugte und Undurch-
dringliche, sich selbst ihr Schicksal zu sein und die Folgen ihrer Thaten

α.
Vorſtufe.
§. 459.

Während chriſtlicher Mythus und Sage ſich von einfachen Anfängen fort-
bilden, nimmt die einheimiſch deutſche Heldenſage, die den ächt germaniſchen
Charakter in ſeiner wortarmen Tiefe und rauhen Selbſtändigkeit zwar hart,
aber groß und mit einer der griechiſchen Objectivität verwandten Geradheit der
Motive entfaltet, fortwachſend Beſtandtheile aus neuen und anderen Verhält-
niſſen in ſich auf. Die erſte Verbindung chriſtlich univerſeller und volksmäßig
germaniſcher Sage erkennt man in der Carls-Sage.

Der religiöſe Mythus hat mit den Evangelien ſchon eine Abrun-
dung gefunden, allein die früheren Jahrhunderte des Mittelalters erwei-
tern mehr und mehr den chriſtlichen Olymp aus den Beiträgen aller
vorchriſtlichen Religionen. Die germaniſche trägt insbeſondere in die
Vorſtellung des Weltuntergangs die erhabenen Bilder der Götterdämme-
rung ein. Als völliger Gegenſatz ſteht die aus heidniſcher Vorzeit her-
übergenommene deutſche Heldenſage der neuen geiſtigen Welt gegenüber.
Kein Volk hat eine der griechiſchen ſo ebenbürtige Heldenſage aufzuwei-
ſen wie das deutſche. Der Dualiſmus des deutſchen Charakters iſt zwar
darin bereits ausgeſprochen, aber dieſer Dualiſmus hat ſeine Stadien.
Hier erſcheint zwar bereits das Innere nicht in ſeinem Aeußeren erſchöpft,
die Menſchen können nicht reden, ſie haben keine Geſchmeidigkeit, keine
Leichtigkeit, ja Dieterich muß erſt von ſeinem greiſen Waffenmeiſter geſchla-
gen werden, bis er ſich zum Kampf im Roſengarten entſchließt, doch dann
fahren ihm vor Kampfwuth Flammen aus dem Mund. Es iſt alſo wohl
ein Gehalt, der nicht ganz und voll über ſeine Schwelle dringen kann,
aber in dieſem Gehalte ſelbſt iſt nicht der weitere Bruch der einfachen
realen Motive gediegener Sitte mit ganz tranſcendenten Motiven, welche
jene zu opfern geböten. Liebe, Rache, Haß gehen geradezu, von keiner
ſubjectiven Moral gebrochen, ein Fluß ohne Wehre, ihren Weg. Daher
ſind dieſe Menſchen naiv und ganz, aus Einem Stücke freilich rauhen
Geſteins gehauen, tüchtige und grobe Geſundheit des ſittlichen Lebens
findet in ihnen ihre einfachen typiſchen Vertreter, welche in derben Grund-
zügen die Hauptcharaktere des Nationalgeiſtes darſtellen. Heidniſche My-
thologie ſpielte im urſprünglichen Sagenbilde natürlich eine ſtärkere Rolle,
doch ſchon in dieſem haben die Perſonen das Ungebeugte und Undurch-
dringliche, ſich ſelbſt ihr Schickſal zu ſein und die Folgen ihrer Thaten

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[490/0204] α. Vorſtufe. §. 459. Während chriſtlicher Mythus und Sage ſich von einfachen Anfängen fort- bilden, nimmt die einheimiſch deutſche Heldenſage, die den ächt germaniſchen Charakter in ſeiner wortarmen Tiefe und rauhen Selbſtändigkeit zwar hart, aber groß und mit einer der griechiſchen Objectivität verwandten Geradheit der Motive entfaltet, fortwachſend Beſtandtheile aus neuen und anderen Verhält- niſſen in ſich auf. Die erſte Verbindung chriſtlich univerſeller und volksmäßig germaniſcher Sage erkennt man in der Carls-Sage. Der religiöſe Mythus hat mit den Evangelien ſchon eine Abrun- dung gefunden, allein die früheren Jahrhunderte des Mittelalters erwei- tern mehr und mehr den chriſtlichen Olymp aus den Beiträgen aller vorchriſtlichen Religionen. Die germaniſche trägt insbeſondere in die Vorſtellung des Weltuntergangs die erhabenen Bilder der Götterdämme- rung ein. Als völliger Gegenſatz ſteht die aus heidniſcher Vorzeit her- übergenommene deutſche Heldenſage der neuen geiſtigen Welt gegenüber. Kein Volk hat eine der griechiſchen ſo ebenbürtige Heldenſage aufzuwei- ſen wie das deutſche. Der Dualiſmus des deutſchen Charakters iſt zwar darin bereits ausgeſprochen, aber dieſer Dualiſmus hat ſeine Stadien. Hier erſcheint zwar bereits das Innere nicht in ſeinem Aeußeren erſchöpft, die Menſchen können nicht reden, ſie haben keine Geſchmeidigkeit, keine Leichtigkeit, ja Dieterich muß erſt von ſeinem greiſen Waffenmeiſter geſchla- gen werden, bis er ſich zum Kampf im Roſengarten entſchließt, doch dann fahren ihm vor Kampfwuth Flammen aus dem Mund. Es iſt alſo wohl ein Gehalt, der nicht ganz und voll über ſeine Schwelle dringen kann, aber in dieſem Gehalte ſelbſt iſt nicht der weitere Bruch der einfachen realen Motive gediegener Sitte mit ganz tranſcendenten Motiven, welche jene zu opfern geböten. Liebe, Rache, Haß gehen geradezu, von keiner ſubjectiven Moral gebrochen, ein Fluß ohne Wehre, ihren Weg. Daher ſind dieſe Menſchen naiv und ganz, aus Einem Stücke freilich rauhen Geſteins gehauen, tüchtige und grobe Geſundheit des ſittlichen Lebens findet in ihnen ihre einfachen typiſchen Vertreter, welche in derben Grund- zügen die Hauptcharaktere des Nationalgeiſtes darſtellen. Heidniſche My- thologie ſpielte im urſprünglichen Sagenbilde natürlich eine ſtärkere Rolle, doch ſchon in dieſem haben die Perſonen das Ungebeugte und Undurch- dringliche, ſich ſelbſt ihr Schickſal zu ſein und die Folgen ihrer Thaten

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/204>, abgerufen am 19.04.2024.