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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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denn die Ursachen, die ihm im Mittelalter entgegenstanden, dauern fort;
das eigentliche Sehen, das malerische Auge aber hat volles Gedeihen,
freilich mit Unterschied der Epochen. Daraus folgt auch hier, daß die
empfindende Phantasie das vorzüglich Bestimmende auch in diesem Ideale
sein muß, aber noch in anderem und engerem Sinne, als im romantischen.
Es wurde bemerkt, daß es mehr empfindend dichtende, als eigentlich em-
pfindende Phantasie war, worin die Innigkeit des Mittelalters sich aus-
sprach. Das Innere war erschlossen als unendliche Tiefe, aber der
Umfang war noch arm. Erst im freien Umgange mit der Welt rauschen
alle verborgenen Saiten des Innern, erst wer sich in das Leben einläßt,
kennt alle seine Qualen und Freuden, erst wer sich selbst angehört, trägt
in sich nicht nur jene tiefere Resonanz, sondern dem erst klingt auch bei
jeder Erfahrung das innere Echo, erst die mündige Subjectivität wird
feinfühlend. Jetzt erst muß sich daher auch das rechte Medium, der Ton,
für den Ausdruck dieser tausendstimmigen Innerlichkeit bilden. Je erfüllter
aber die Subjectivität, je gewisser sie nun erst eine Welt ist, desto ge-
wisser wird die Phantasie auch dahin drängen, sie darzustellen, wie sie
praktisch die Welt aus sich bestimmt; da wird die empfindende Phantasie
auf die dichtende übergetragen, in dieser wieder bildend, und dieß ist die
Phantasie, welche das Drama schafft. Es ist höchste Aufgabe der mo-
dernen Phantasie, die Welt als eine durch den Willen bewegte darzustellen.
Nun erst ist das Schicksal wahrhaft in den Menschen hereingetreten und
hier ist der Ort, wo das Tragische in seiner Tiefe als Dialektik der ge-
trennten Willen sich verwirklicht. In der eigentlich bildenden Phantasie
hat zwar das moderne Ideal, wie gesagt, immer noch das malerische
Sehen für sich, aber es ruht doch so sehr auf einem Weltzustand, worin
alles Unmittelbare durcharbeitet, in Frage gestellt, kritisirt, auf Zwecke
und Begriffe bezogen, geistig durchbohrt ist, daß sein eigenstes Gebiet nur
die dichtende Art sein kann als diejenige, wo alles Unmittelbare zurück-
geschlungen ist in die Phantasie, die sich in sich und um sich selbst bewegt,
und innerhalb dieser die dramatische.

§. 469.

Damit ist aber das Bild der modernen Phantasie keineswegs beschlossen.
Nicht nur ist ihre Reife abhängig von dem arbeitsvollen Gang der geschichtlichen
Bedingungen, auf denen sie ruht, sondern in ihrem eigenen Gebiete kann theils
die Aufgabe der wahren Aneignung des antiken Ideals nur in einem langen
Gährungsprozesse sich verwirklichen, theils bringt der unendliche Verlust (§. 466)
und unendliche Gewinn (§. 467) eine solche Erschütterung in ihr hervor, daß
sie geraume Zeit braucht, sich in ihrer neuen Welt zurechtzufinden. So hat
also auch sie ihre Geschichte, und noch ist diese nicht vollendet.


denn die Urſachen, die ihm im Mittelalter entgegenſtanden, dauern fort;
das eigentliche Sehen, das maleriſche Auge aber hat volles Gedeihen,
freilich mit Unterſchied der Epochen. Daraus folgt auch hier, daß die
empfindende Phantaſie das vorzüglich Beſtimmende auch in dieſem Ideale
ſein muß, aber noch in anderem und engerem Sinne, als im romantiſchen.
Es wurde bemerkt, daß es mehr empfindend dichtende, als eigentlich em-
pfindende Phantaſie war, worin die Innigkeit des Mittelalters ſich aus-
ſprach. Das Innere war erſchloſſen als unendliche Tiefe, aber der
Umfang war noch arm. Erſt im freien Umgange mit der Welt rauſchen
alle verborgenen Saiten des Innern, erſt wer ſich in das Leben einläßt,
kennt alle ſeine Qualen und Freuden, erſt wer ſich ſelbſt angehört, trägt
in ſich nicht nur jene tiefere Reſonanz, ſondern dem erſt klingt auch bei
jeder Erfahrung das innere Echo, erſt die mündige Subjectivität wird
feinfühlend. Jetzt erſt muß ſich daher auch das rechte Medium, der Ton,
für den Ausdruck dieſer tauſendſtimmigen Innerlichkeit bilden. Je erfüllter
aber die Subjectivität, je gewiſſer ſie nun erſt eine Welt iſt, deſto ge-
wiſſer wird die Phantaſie auch dahin drängen, ſie darzuſtellen, wie ſie
praktiſch die Welt aus ſich beſtimmt; da wird die empfindende Phantaſie
auf die dichtende übergetragen, in dieſer wieder bildend, und dieß iſt die
Phantaſie, welche das Drama ſchafft. Es iſt höchſte Aufgabe der mo-
dernen Phantaſie, die Welt als eine durch den Willen bewegte darzuſtellen.
Nun erſt iſt das Schickſal wahrhaft in den Menſchen hereingetreten und
hier iſt der Ort, wo das Tragiſche in ſeiner Tiefe als Dialektik der ge-
trennten Willen ſich verwirklicht. In der eigentlich bildenden Phantaſie
hat zwar das moderne Ideal, wie geſagt, immer noch das maleriſche
Sehen für ſich, aber es ruht doch ſo ſehr auf einem Weltzuſtand, worin
alles Unmittelbare durcharbeitet, in Frage geſtellt, kritiſirt, auf Zwecke
und Begriffe bezogen, geiſtig durchbohrt iſt, daß ſein eigenſtes Gebiet nur
die dichtende Art ſein kann als diejenige, wo alles Unmittelbare zurück-
geſchlungen iſt in die Phantaſie, die ſich in ſich und um ſich ſelbſt bewegt,
und innerhalb dieſer die dramatiſche.

§. 469.

Damit iſt aber das Bild der modernen Phantaſie keineswegs beſchloſſen.
Nicht nur iſt ihre Reife abhängig von dem arbeitsvollen Gang der geſchichtlichen
Bedingungen, auf denen ſie ruht, ſondern in ihrem eigenen Gebiete kann theils
die Aufgabe der wahren Aneignung des antiken Ideals nur in einem langen
Gährungsprozeſſe ſich verwirklichen, theils bringt der unendliche Verluſt (§. 466)
und unendliche Gewinn (§. 467) eine ſolche Erſchütterung in ihr hervor, daß
ſie geraume Zeit braucht, ſich in ihrer neuen Welt zurechtzufinden. So hat
alſo auch ſie ihre Geſchichte, und noch iſt dieſe nicht vollendet.


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[505/0219] denn die Urſachen, die ihm im Mittelalter entgegenſtanden, dauern fort; das eigentliche Sehen, das maleriſche Auge aber hat volles Gedeihen, freilich mit Unterſchied der Epochen. Daraus folgt auch hier, daß die empfindende Phantaſie das vorzüglich Beſtimmende auch in dieſem Ideale ſein muß, aber noch in anderem und engerem Sinne, als im romantiſchen. Es wurde bemerkt, daß es mehr empfindend dichtende, als eigentlich em- pfindende Phantaſie war, worin die Innigkeit des Mittelalters ſich aus- ſprach. Das Innere war erſchloſſen als unendliche Tiefe, aber der Umfang war noch arm. Erſt im freien Umgange mit der Welt rauſchen alle verborgenen Saiten des Innern, erſt wer ſich in das Leben einläßt, kennt alle ſeine Qualen und Freuden, erſt wer ſich ſelbſt angehört, trägt in ſich nicht nur jene tiefere Reſonanz, ſondern dem erſt klingt auch bei jeder Erfahrung das innere Echo, erſt die mündige Subjectivität wird feinfühlend. Jetzt erſt muß ſich daher auch das rechte Medium, der Ton, für den Ausdruck dieſer tauſendſtimmigen Innerlichkeit bilden. Je erfüllter aber die Subjectivität, je gewiſſer ſie nun erſt eine Welt iſt, deſto ge- wiſſer wird die Phantaſie auch dahin drängen, ſie darzuſtellen, wie ſie praktiſch die Welt aus ſich beſtimmt; da wird die empfindende Phantaſie auf die dichtende übergetragen, in dieſer wieder bildend, und dieß iſt die Phantaſie, welche das Drama ſchafft. Es iſt höchſte Aufgabe der mo- dernen Phantaſie, die Welt als eine durch den Willen bewegte darzuſtellen. Nun erſt iſt das Schickſal wahrhaft in den Menſchen hereingetreten und hier iſt der Ort, wo das Tragiſche in ſeiner Tiefe als Dialektik der ge- trennten Willen ſich verwirklicht. In der eigentlich bildenden Phantaſie hat zwar das moderne Ideal, wie geſagt, immer noch das maleriſche Sehen für ſich, aber es ruht doch ſo ſehr auf einem Weltzuſtand, worin alles Unmittelbare durcharbeitet, in Frage geſtellt, kritiſirt, auf Zwecke und Begriffe bezogen, geiſtig durchbohrt iſt, daß ſein eigenſtes Gebiet nur die dichtende Art ſein kann als diejenige, wo alles Unmittelbare zurück- geſchlungen iſt in die Phantaſie, die ſich in ſich und um ſich ſelbſt bewegt, und innerhalb dieſer die dramatiſche. §. 469. Damit iſt aber das Bild der modernen Phantaſie keineswegs beſchloſſen. Nicht nur iſt ihre Reife abhängig von dem arbeitsvollen Gang der geſchichtlichen Bedingungen, auf denen ſie ruht, ſondern in ihrem eigenen Gebiete kann theils die Aufgabe der wahren Aneignung des antiken Ideals nur in einem langen Gährungsprozeſſe ſich verwirklichen, theils bringt der unendliche Verluſt (§. 466) und unendliche Gewinn (§. 467) eine ſolche Erſchütterung in ihr hervor, daß ſie geraume Zeit braucht, ſich in ihrer neuen Welt zurechtzufinden. So hat alſo auch ſie ihre Geſchichte, und noch iſt dieſe nicht vollendet.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 505. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/219>, abgerufen am 25.04.2024.