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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Die letztgenannte Schwierigkeit ist die bedeutendste. Nichts ist ja
überhaupt schwerer, als das Allereinfachste; nichts ist auch der Phantasie
schwerer geworden, als einzusehen, daß sie zu ihrer Thätigkeit gar keinen
andern Stoff braucht, als den, der in Natur und Geschichte klar und
offen daliegt. Sie fällt immer wieder in den Irrthum zurück, sich der
Vermittlungen des Mythus zu bedienen, wie der Katholik die Heiligen zu
Fürbittern braucht. Die Welt ist ihr wiedergegeben und sie merkt es nicht,
sieht den Wald vor Bäumen nicht, sie hat Alles gewonnen und meint,
sie habe nichts. Mit dem alten Stabe, an dem sie ging, hat sie vorerst
allen Takt verloren, alle Sicherheit im Ergreifen der Stoffe; die Re-
flexion ersetzt ihr nicht den erschütterten Instinct. Es ist so bequem, seinen
Stoff schon halb zugerichtet aus zweiter Hand zu übernehmen, es ist so
unbequem, selbst an der Quelle zu schöpfen. Heute noch gilt das Auf-
stellen jener einfachen Aufgabe für ebenso destructiv, als das Beginnen
des Theologen, der das Positivste thut, was es gibt, der die Entstellungen
und Trübungen der sittlichen Weltansicht, welche die Ueberlieferung auf-
gehäuft hat, hinwegschafft. Wir haben einem Prozesse der Phantasie mit
sich selbst zugesehen, dieser Prozeß hat sich jetzt abgeschlossen: sie theilte
sich in eine allgemeine und besondere, diese empfieng von jener und gab
ihr verdoppelt zurück. Jetzt steht diese auf sich selbst, einfach an den Ur-
stoff gewiesen, jene leiht ihr keinen schon halb zubereiteten Auszug aus
diesem mehr, denn was sie von solchem Vorrath noch hat, ist eng, todt,
erschöpft. Es ist rein die allgemeine Phantasie concentrirt zu ihrer wahren
Bedeutung in der besondern; jene besteht freilich noch außer dieser, aber
nur als reine Empfänglichkeit, als verbreiteter Sinn, den die besondere
Phantasie voraussetzt und als Zuschauer für ihre Werke fordert. Diese
Vereinfachung, dieses Ende der Geschäftstheilung einzusehen fordert aber
Zeit und ist schwer.

a.
Vorstufe.
§. 470.

Die Befreiung der Subjectivität kann sich zuerst nur unter Einschränkun-
gen äußern, welche sie selbst noch in einem objectiven Charakter gefangen
halten, zunächst bei den Deutschen in dem Sinne, daß herübergerettet wird,
was von ursprünglicher, durch das Mittelalter in seiner geraden Entwicklung
gebrochener Volkskraft in ihrem Gemüthe lag, wie es denn auch das Volk ist,
das nun zunächst wieder als Organ der Phantasie auftritt. So faßt sich denn

Die letztgenannte Schwierigkeit iſt die bedeutendſte. Nichts iſt ja
überhaupt ſchwerer, als das Allereinfachſte; nichts iſt auch der Phantaſie
ſchwerer geworden, als einzuſehen, daß ſie zu ihrer Thätigkeit gar keinen
andern Stoff braucht, als den, der in Natur und Geſchichte klar und
offen daliegt. Sie fällt immer wieder in den Irrthum zurück, ſich der
Vermittlungen des Mythus zu bedienen, wie der Katholik die Heiligen zu
Fürbittern braucht. Die Welt iſt ihr wiedergegeben und ſie merkt es nicht,
ſieht den Wald vor Bäumen nicht, ſie hat Alles gewonnen und meint,
ſie habe nichts. Mit dem alten Stabe, an dem ſie ging, hat ſie vorerſt
allen Takt verloren, alle Sicherheit im Ergreifen der Stoffe; die Re-
flexion erſetzt ihr nicht den erſchütterten Inſtinct. Es iſt ſo bequem, ſeinen
Stoff ſchon halb zugerichtet aus zweiter Hand zu übernehmen, es iſt ſo
unbequem, ſelbſt an der Quelle zu ſchöpfen. Heute noch gilt das Auf-
ſtellen jener einfachen Aufgabe für ebenſo deſtructiv, als das Beginnen
des Theologen, der das Poſitivſte thut, was es gibt, der die Entſtellungen
und Trübungen der ſittlichen Weltanſicht, welche die Ueberlieferung auf-
gehäuft hat, hinwegſchafft. Wir haben einem Prozeſſe der Phantaſie mit
ſich ſelbſt zugeſehen, dieſer Prozeß hat ſich jetzt abgeſchloſſen: ſie theilte
ſich in eine allgemeine und beſondere, dieſe empfieng von jener und gab
ihr verdoppelt zurück. Jetzt ſteht dieſe auf ſich ſelbſt, einfach an den Ur-
ſtoff gewieſen, jene leiht ihr keinen ſchon halb zubereiteten Auszug aus
dieſem mehr, denn was ſie von ſolchem Vorrath noch hat, iſt eng, todt,
erſchöpft. Es iſt rein die allgemeine Phantaſie concentrirt zu ihrer wahren
Bedeutung in der beſondern; jene beſteht freilich noch außer dieſer, aber
nur als reine Empfänglichkeit, als verbreiteter Sinn, den die beſondere
Phantaſie vorausſetzt und als Zuſchauer für ihre Werke fordert. Dieſe
Vereinfachung, dieſes Ende der Geſchäftstheilung einzuſehen fordert aber
Zeit und iſt ſchwer.

α.
Vorſtufe.
§. 470.

Die Befreiung der Subjectivität kann ſich zuerſt nur unter Einſchränkun-
gen äußern, welche ſie ſelbſt noch in einem objectiven Charakter gefangen
halten, zunächſt bei den Deutſchen in dem Sinne, daß herübergerettet wird,
was von urſprünglicher, durch das Mittelalter in ſeiner geraden Entwicklung
gebrochener Volkskraft in ihrem Gemüthe lag, wie es denn auch das Volk iſt,
das nun zunächſt wieder als Organ der Phantaſie auftritt. So faßt ſich denn

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[506/0220] Die letztgenannte Schwierigkeit iſt die bedeutendſte. Nichts iſt ja überhaupt ſchwerer, als das Allereinfachſte; nichts iſt auch der Phantaſie ſchwerer geworden, als einzuſehen, daß ſie zu ihrer Thätigkeit gar keinen andern Stoff braucht, als den, der in Natur und Geſchichte klar und offen daliegt. Sie fällt immer wieder in den Irrthum zurück, ſich der Vermittlungen des Mythus zu bedienen, wie der Katholik die Heiligen zu Fürbittern braucht. Die Welt iſt ihr wiedergegeben und ſie merkt es nicht, ſieht den Wald vor Bäumen nicht, ſie hat Alles gewonnen und meint, ſie habe nichts. Mit dem alten Stabe, an dem ſie ging, hat ſie vorerſt allen Takt verloren, alle Sicherheit im Ergreifen der Stoffe; die Re- flexion erſetzt ihr nicht den erſchütterten Inſtinct. Es iſt ſo bequem, ſeinen Stoff ſchon halb zugerichtet aus zweiter Hand zu übernehmen, es iſt ſo unbequem, ſelbſt an der Quelle zu ſchöpfen. Heute noch gilt das Auf- ſtellen jener einfachen Aufgabe für ebenſo deſtructiv, als das Beginnen des Theologen, der das Poſitivſte thut, was es gibt, der die Entſtellungen und Trübungen der ſittlichen Weltanſicht, welche die Ueberlieferung auf- gehäuft hat, hinwegſchafft. Wir haben einem Prozeſſe der Phantaſie mit ſich ſelbſt zugeſehen, dieſer Prozeß hat ſich jetzt abgeſchloſſen: ſie theilte ſich in eine allgemeine und beſondere, dieſe empfieng von jener und gab ihr verdoppelt zurück. Jetzt ſteht dieſe auf ſich ſelbſt, einfach an den Ur- ſtoff gewieſen, jene leiht ihr keinen ſchon halb zubereiteten Auszug aus dieſem mehr, denn was ſie von ſolchem Vorrath noch hat, iſt eng, todt, erſchöpft. Es iſt rein die allgemeine Phantaſie concentrirt zu ihrer wahren Bedeutung in der beſondern; jene beſteht freilich noch außer dieſer, aber nur als reine Empfänglichkeit, als verbreiteter Sinn, den die beſondere Phantaſie vorausſetzt und als Zuſchauer für ihre Werke fordert. Dieſe Vereinfachung, dieſes Ende der Geſchäftstheilung einzuſehen fordert aber Zeit und iſt ſchwer. α. Vorſtufe. §. 470. Die Befreiung der Subjectivität kann ſich zuerſt nur unter Einſchränkun- gen äußern, welche ſie ſelbſt noch in einem objectiven Charakter gefangen halten, zunächſt bei den Deutſchen in dem Sinne, daß herübergerettet wird, was von urſprünglicher, durch das Mittelalter in ſeiner geraden Entwicklung gebrochener Volkskraft in ihrem Gemüthe lag, wie es denn auch das Volk iſt, das nun zunächſt wieder als Organ der Phantaſie auftritt. So faßt ſich denn

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 506. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/220>, abgerufen am 25.04.2024.