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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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die empfindende Phantasie in ihrem eigenen und im dichtenden Gebiete zu
urkräftiger Innigkeit, jedoch ohne den Reichtum einer weltlich durchgebildeten
Freiheit des Gemüths, zusammen.

Man wird leicht die Blüthe der einfachen kirchlichen Musik und des
geistlichen Lieds, sowie des Volkslieds mit seiner reicheren melodischen
Welt, wie sie im sechzehnten Jahrhundert in Deutschland auftrat, aus
dem Gesagten erkennen. Dieß allgemeine, aus dem Herzen des Volks
erzitternde Tönen ist die Knospe des neuen Ideals, eine tief in sich zu-
sammengefaßte Innigkeit, aber, obwohl vieltönig in sich, doch eintönig,
wenn man sie mit dem freien Reichthum [ - 3 Zeichen fehlen]es Geistes vergleicht, den die
weltliche Bildung schon wirklich geschüttelt und von dunkler Gebundenheit
gelöst hat. Innigkeit, innere Unendlichkeit sagten wir auch vom Ideale
des Mittelalters aus; aus persönlicherer, mündigerer wiewohl noch nicht
zu voller Freiheit und Klarheit ausgebildeter Tiefe strömt jetzt die Quelle,
und weil es Ernst wird mit der Geltung der Einzelnen, strömt sie aus
der Masse derselben, ein Urborn der Volkskraft hervor. Wir haben hier
den Wechsel der Organe der Phantasie in einem neuen, weiteren Sinne,
wir haben die Stände zu unterscheiden, die wechselnd als Werkzeuge der
Phantasie auftreten. Die dichtende Phantasie war im Mittelalter eine
volksmäßige, so weit sie die alte Heldensage zum Stoffe hatte, der Adel
trieb die eigentlich romantische Dichtkunst, die bildende Kunst der Bürger.
Jetzt tritt die Dichtkunst in das Volk zurück, die Masse hat sich beseelt.

§. 471.

Die bildende Phantasie des deutschen Volkes muß zurücktreten, die bil-
dend dichtende wagt sich nicht an die nahe liegenden großen Stoffe, ergreift
aber mit derbem Behagen die neue Lust am Dasein in der rohen Kraft ihres
Siegs über eine Welt von Täuschungen. Daneben breitet sich jedoch das dunkle
Gespenst zu einer neuen Gesammtwirkung vereinigter alter Sagen aus, worin
sich die angstvollen Gefühle einer so ungeheuern Umwälzung Sprache geben
(vergl. §. 369).

Die Deutschen sind zu sehr im Gebiete des Geistes beschäftigt, um
nach den wenigen Erzeugnissen einzelner großer Maler, welche in die
Zeit der sich verbreitenden Reformation so herüberreichen, daß sie dieselbe
wirklich ihrer Richtung nach bezeichnen, noch bildend aufzutreten. Unter
diese bezeichnenden Richtungen gehört das Porträt und die Caricatur
(Todtentänze, Manuels satyrische Conceptionen). Die letztere zählen wir
zu den Erzeugnissen der satyrischen Stimmung, die wir als Symptom des

Vischers's Aesthetik. 2. Band. 33

die empfindende Phantaſie in ihrem eigenen und im dichtenden Gebiete zu
urkräftiger Innigkeit, jedoch ohne den Reichtum einer weltlich durchgebildeten
Freiheit des Gemüths, zuſammen.

Man wird leicht die Blüthe der einfachen kirchlichen Muſik und des
geiſtlichen Lieds, ſowie des Volkslieds mit ſeiner reicheren melodiſchen
Welt, wie ſie im ſechzehnten Jahrhundert in Deutſchland auftrat, aus
dem Geſagten erkennen. Dieß allgemeine, aus dem Herzen des Volks
erzitternde Tönen iſt die Knoſpe des neuen Ideals, eine tief in ſich zu-
ſammengefaßte Innigkeit, aber, obwohl vieltönig in ſich, doch eintönig,
wenn man ſie mit dem freien Reichthum [ – 3 Zeichen fehlen]es Geiſtes vergleicht, den die
weltliche Bildung ſchon wirklich geſchüttelt und von dunkler Gebundenheit
gelöst hat. Innigkeit, innere Unendlichkeit ſagten wir auch vom Ideale
des Mittelalters aus; aus perſönlicherer, mündigerer wiewohl noch nicht
zu voller Freiheit und Klarheit ausgebildeter Tiefe ſtrömt jetzt die Quelle,
und weil es Ernſt wird mit der Geltung der Einzelnen, ſtrömt ſie aus
der Maſſe derſelben, ein Urborn der Volkskraft hervor. Wir haben hier
den Wechſel der Organe der Phantaſie in einem neuen, weiteren Sinne,
wir haben die Stände zu unterſcheiden, die wechſelnd als Werkzeuge der
Phantaſie auftreten. Die dichtende Phantaſie war im Mittelalter eine
volksmäßige, ſo weit ſie die alte Heldenſage zum Stoffe hatte, der Adel
trieb die eigentlich romantiſche Dichtkunſt, die bildende Kunſt der Bürger.
Jetzt tritt die Dichtkunſt in das Volk zurück, die Maſſe hat ſich beſeelt.

§. 471.

Die bildende Phantaſie des deutſchen Volkes muß zurücktreten, die bil-
dend dichtende wagt ſich nicht an die nahe liegenden großen Stoffe, ergreift
aber mit derbem Behagen die neue Luſt am Daſein in der rohen Kraft ihres
Siegs über eine Welt von Täuſchungen. Daneben breitet ſich jedoch das dunkle
Geſpenſt zu einer neuen Geſammtwirkung vereinigter alter Sagen aus, worin
ſich die angſtvollen Gefühle einer ſo ungeheuern Umwälzung Sprache geben
(vergl. §. 369).

Die Deutſchen ſind zu ſehr im Gebiete des Geiſtes beſchäftigt, um
nach den wenigen Erzeugniſſen einzelner großer Maler, welche in die
Zeit der ſich verbreitenden Reformation ſo herüberreichen, daß ſie dieſelbe
wirklich ihrer Richtung nach bezeichnen, noch bildend aufzutreten. Unter
dieſe bezeichnenden Richtungen gehört das Porträt und die Caricatur
(Todtentänze, Manuels ſatyriſche Conceptionen). Die letztere zählen wir
zu den Erzeugniſſen der ſatyriſchen Stimmung, die wir als Symptom des

Viſchers’s Aeſthetik. 2. Band. 33
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[507/0221] die empfindende Phantaſie in ihrem eigenen und im dichtenden Gebiete zu urkräftiger Innigkeit, jedoch ohne den Reichtum einer weltlich durchgebildeten Freiheit des Gemüths, zuſammen. Man wird leicht die Blüthe der einfachen kirchlichen Muſik und des geiſtlichen Lieds, ſowie des Volkslieds mit ſeiner reicheren melodiſchen Welt, wie ſie im ſechzehnten Jahrhundert in Deutſchland auftrat, aus dem Geſagten erkennen. Dieß allgemeine, aus dem Herzen des Volks erzitternde Tönen iſt die Knoſpe des neuen Ideals, eine tief in ſich zu- ſammengefaßte Innigkeit, aber, obwohl vieltönig in ſich, doch eintönig, wenn man ſie mit dem freien Reichthum ___es Geiſtes vergleicht, den die weltliche Bildung ſchon wirklich geſchüttelt und von dunkler Gebundenheit gelöst hat. Innigkeit, innere Unendlichkeit ſagten wir auch vom Ideale des Mittelalters aus; aus perſönlicherer, mündigerer wiewohl noch nicht zu voller Freiheit und Klarheit ausgebildeter Tiefe ſtrömt jetzt die Quelle, und weil es Ernſt wird mit der Geltung der Einzelnen, ſtrömt ſie aus der Maſſe derſelben, ein Urborn der Volkskraft hervor. Wir haben hier den Wechſel der Organe der Phantaſie in einem neuen, weiteren Sinne, wir haben die Stände zu unterſcheiden, die wechſelnd als Werkzeuge der Phantaſie auftreten. Die dichtende Phantaſie war im Mittelalter eine volksmäßige, ſo weit ſie die alte Heldenſage zum Stoffe hatte, der Adel trieb die eigentlich romantiſche Dichtkunſt, die bildende Kunſt der Bürger. Jetzt tritt die Dichtkunſt in das Volk zurück, die Maſſe hat ſich beſeelt. §. 471. Die bildende Phantaſie des deutſchen Volkes muß zurücktreten, die bil- dend dichtende wagt ſich nicht an die nahe liegenden großen Stoffe, ergreift aber mit derbem Behagen die neue Luſt am Daſein in der rohen Kraft ihres Siegs über eine Welt von Täuſchungen. Daneben breitet ſich jedoch das dunkle Geſpenſt zu einer neuen Geſammtwirkung vereinigter alter Sagen aus, worin ſich die angſtvollen Gefühle einer ſo ungeheuern Umwälzung Sprache geben (vergl. §. 369). Die Deutſchen ſind zu ſehr im Gebiete des Geiſtes beſchäftigt, um nach den wenigen Erzeugniſſen einzelner großer Maler, welche in die Zeit der ſich verbreitenden Reformation ſo herüberreichen, daß ſie dieſelbe wirklich ihrer Richtung nach bezeichnen, noch bildend aufzutreten. Unter dieſe bezeichnenden Richtungen gehört das Porträt und die Caricatur (Todtentänze, Manuels ſatyriſche Conceptionen). Die letztere zählen wir zu den Erzeugniſſen der ſatyriſchen Stimmung, die wir als Symptom des Viſchers’s Aeſthetik. 2. Band. 33

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 507. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/221>, abgerufen am 25.04.2024.