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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Verfalls zum Ausgang des mittelalterlichen Ideals zogen. Was wir nun
weiter als Durchbruch der entfesselten Volkskraft in der bildend dichtenden
Form aufführen, ist allerdings ebenfalls meist Theil eines satyrischen
Ganzen, wie bei Fischart, später unter den Verwüstungen des dreißigjährigen
Kriegs bei Moscherosch und And., erscheint aber in dieser Umhüllung eben
als das positiv Neue. Diese sprudelnde grobe Kraft als Träger einer
neuen sittlich gesunden und freien Weltansicht, dieser lärmende Pfaffen-
und Adelshaß, diese Appellation an die alten guten Sitten ist freilich
etwas so Stoffartiges, daß wir fast nur wiederholen, was in §. 369 ge-
sagt ist. Zu einer reinen Formthätigkeit kann es in dieser Zeit der Kämpfe
in Deutschland nicht kommen; sonst hätte die humanistische Bildung an
den großen Begebenheiten der alten Geschichte und des sich auflösenden
Mittelalters Stoffe gehabt, die sich freier und harmonischer umbilden
ließen. -- Die Sagen, von denen die Rede ist, sind namentlich die von
Faust und vom ewigen Juden.

§. 472.

Inzwischen wirft sich in der feurigeren und weltlich entschlosseneren Natur
des germano-romanischen Englands mit raschem Schwunge die Phantasie in
die höchste Aufgabe des modernen Ideals, die dritte Form der dichtenden
Phantasie, und frei von Mythen, den Vortheil alter Sage benützend, aber zu-
gleich mit gewaltigem Geiste die ursprüngliche Stoffwelt in ihren größten Er-
scheinungen ergreifend stellt sie die sittliche Weltordnung als gegenwärtig von
innen wirkendes Gesetz einer am Marke des Mittelalters genährten, willens-
starken und doch drangvoll entfesselten Charakterwelt dar, während sie ebenso
kühn in die Tiefen des Komischen steigt: ein Vorsprung von unendlicher Wirkung.

In einer Seelengeschichte des Ideals darf der ungeheure Schritt
nicht vergessen werden, den das englische Drama, Shakespeare an der
Spitze, gethan hat. Hier ist wie mit Einem Sprunge die neue Welt der
Phantasie da, ein freies Universum, das sich um sich selbst bewegt. Das
Schicksal ist immanent in einer Menschenwelt, welche die germanische Ur-
kraft der Nibelungengestalten bewahrt und der neuen Zeit gerettet über-
liefert, ohne dem neuen Geist der leidenschaftlich entfesselten Subjectivität,
welcher zwar die selbstbewußte Idee des Allgemeinen noch fehlt, ewas zu
vergeben. Dieser Geist findet die rechten Stoffe; er beutet nicht nur die
engeren Sphären des Privatlebens aus, die Geschichte öffnet ihm ihre
Schätze, das Alterthum, die dunkle germanische Urzeit, sagenhaft, doch
so behandelt, daß im Fortgange die mythischen Motive sich in rein mensch-
liche, psychologische verwandeln, der blutige Todeskampf des Mittelalters.

Verfalls zum Ausgang des mittelalterlichen Ideals zogen. Was wir nun
weiter als Durchbruch der entfeſſelten Volkskraft in der bildend dichtenden
Form aufführen, iſt allerdings ebenfalls meiſt Theil eines ſatyriſchen
Ganzen, wie bei Fiſchart, ſpäter unter den Verwüſtungen des dreißigjährigen
Kriegs bei Moſcheroſch und And., erſcheint aber in dieſer Umhüllung eben
als das poſitiv Neue. Dieſe ſprudelnde grobe Kraft als Träger einer
neuen ſittlich geſunden und freien Weltanſicht, dieſer lärmende Pfaffen-
und Adelshaß, dieſe Appellation an die alten guten Sitten iſt freilich
etwas ſo Stoffartiges, daß wir faſt nur wiederholen, was in §. 369 ge-
ſagt iſt. Zu einer reinen Formthätigkeit kann es in dieſer Zeit der Kämpfe
in Deutſchland nicht kommen; ſonſt hätte die humaniſtiſche Bildung an
den großen Begebenheiten der alten Geſchichte und des ſich auflöſenden
Mittelalters Stoffe gehabt, die ſich freier und harmoniſcher umbilden
ließen. — Die Sagen, von denen die Rede iſt, ſind namentlich die von
Fauſt und vom ewigen Juden.

§. 472.

Inzwiſchen wirft ſich in der feurigeren und weltlich entſchloſſeneren Natur
des germano-romaniſchen Englands mit raſchem Schwunge die Phantaſie in
die höchſte Aufgabe des modernen Ideals, die dritte Form der dichtenden
Phantaſie, und frei von Mythen, den Vortheil alter Sage benützend, aber zu-
gleich mit gewaltigem Geiſte die urſprüngliche Stoffwelt in ihren größten Er-
ſcheinungen ergreifend ſtellt ſie die ſittliche Weltordnung als gegenwärtig von
innen wirkendes Geſetz einer am Marke des Mittelalters genährten, willens-
ſtarken und doch drangvoll entfeſſelten Charakterwelt dar, während ſie ebenſo
kühn in die Tiefen des Komiſchen ſteigt: ein Vorſprung von unendlicher Wirkung.

In einer Seelengeſchichte des Ideals darf der ungeheure Schritt
nicht vergeſſen werden, den das engliſche Drama, Shakespeare an der
Spitze, gethan hat. Hier iſt wie mit Einem Sprunge die neue Welt der
Phantaſie da, ein freies Univerſum, das ſich um ſich ſelbſt bewegt. Das
Schickſal iſt immanent in einer Menſchenwelt, welche die germaniſche Ur-
kraft der Nibelungengeſtalten bewahrt und der neuen Zeit gerettet über-
liefert, ohne dem neuen Geiſt der leidenſchaftlich entfeſſelten Subjectivität,
welcher zwar die ſelbſtbewußte Idee des Allgemeinen noch fehlt, ewas zu
vergeben. Dieſer Geiſt findet die rechten Stoffe; er beutet nicht nur die
engeren Sphären des Privatlebens aus, die Geſchichte öffnet ihm ihre
Schätze, das Alterthum, die dunkle germaniſche Urzeit, ſagenhaft, doch
ſo behandelt, daß im Fortgange die mythiſchen Motive ſich in rein menſch-
liche, pſychologiſche verwandeln, der blutige Todeskampf des Mittelalters.

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[508/0222] Verfalls zum Ausgang des mittelalterlichen Ideals zogen. Was wir nun weiter als Durchbruch der entfeſſelten Volkskraft in der bildend dichtenden Form aufführen, iſt allerdings ebenfalls meiſt Theil eines ſatyriſchen Ganzen, wie bei Fiſchart, ſpäter unter den Verwüſtungen des dreißigjährigen Kriegs bei Moſcheroſch und And., erſcheint aber in dieſer Umhüllung eben als das poſitiv Neue. Dieſe ſprudelnde grobe Kraft als Träger einer neuen ſittlich geſunden und freien Weltanſicht, dieſer lärmende Pfaffen- und Adelshaß, dieſe Appellation an die alten guten Sitten iſt freilich etwas ſo Stoffartiges, daß wir faſt nur wiederholen, was in §. 369 ge- ſagt iſt. Zu einer reinen Formthätigkeit kann es in dieſer Zeit der Kämpfe in Deutſchland nicht kommen; ſonſt hätte die humaniſtiſche Bildung an den großen Begebenheiten der alten Geſchichte und des ſich auflöſenden Mittelalters Stoffe gehabt, die ſich freier und harmoniſcher umbilden ließen. — Die Sagen, von denen die Rede iſt, ſind namentlich die von Fauſt und vom ewigen Juden. §. 472. Inzwiſchen wirft ſich in der feurigeren und weltlich entſchloſſeneren Natur des germano-romaniſchen Englands mit raſchem Schwunge die Phantaſie in die höchſte Aufgabe des modernen Ideals, die dritte Form der dichtenden Phantaſie, und frei von Mythen, den Vortheil alter Sage benützend, aber zu- gleich mit gewaltigem Geiſte die urſprüngliche Stoffwelt in ihren größten Er- ſcheinungen ergreifend ſtellt ſie die ſittliche Weltordnung als gegenwärtig von innen wirkendes Geſetz einer am Marke des Mittelalters genährten, willens- ſtarken und doch drangvoll entfeſſelten Charakterwelt dar, während ſie ebenſo kühn in die Tiefen des Komiſchen ſteigt: ein Vorſprung von unendlicher Wirkung. In einer Seelengeſchichte des Ideals darf der ungeheure Schritt nicht vergeſſen werden, den das engliſche Drama, Shakespeare an der Spitze, gethan hat. Hier iſt wie mit Einem Sprunge die neue Welt der Phantaſie da, ein freies Univerſum, das ſich um ſich ſelbſt bewegt. Das Schickſal iſt immanent in einer Menſchenwelt, welche die germaniſche Ur- kraft der Nibelungengeſtalten bewahrt und der neuen Zeit gerettet über- liefert, ohne dem neuen Geiſt der leidenſchaftlich entfeſſelten Subjectivität, welcher zwar die ſelbſtbewußte Idee des Allgemeinen noch fehlt, ewas zu vergeben. Dieſer Geiſt findet die rechten Stoffe; er beutet nicht nur die engeren Sphären des Privatlebens aus, die Geſchichte öffnet ihm ihre Schätze, das Alterthum, die dunkle germaniſche Urzeit, ſagenhaft, doch ſo behandelt, daß im Fortgange die mythiſchen Motive ſich in rein menſch- liche, pſychologiſche verwandeln, der blutige Todeskampf des Mittelalters.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 508. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/222>, abgerufen am 25.04.2024.