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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Joch, während sie politisch im Todesschlummer lagen. Recht und Un-
recht, Beruf zur Völkererziehung und ertödtender Zwang, innerste Unwahr-
heit und Verdorbenheit, zur Niederlage bestimmt, waren in der französischen
Monarchie ebenso vereinigt, wie in der Classicität des goldenen Zeitalters:
Bildung, Klarheit, Form, Disciplin und zugleich hohle Lüge, Gespreiztheit,
Eleganz, antiken Schäfern, Helden, Göttern die Maske des Höflings
übergeworfen, abstracte Maschinerie, wo es für den Verstand der Aufklä-
rung längst keine Wunder mehr gab. Bereits trat allerdings auch die
komische Phantasie mit schneidender Kraft auf; aber abstract war doch
auch sie, schematisch in ihren Charakteren, generalisirend wie die Monar-
chie. Wir haben schon in §. 368 Anm. 3 die Culturformen dieses Volks
theatralisch genannt; so erscheinen diese dem Dritten, aber ebenso be-
handelt natürlich es selbst das Schöne: mit Energie wird auf den
Punkt hingedrückt, der in die Augen springen soll, aber auch ohne die
Uebergänge, die Continuität der Natur zu Rathe ziehen, es wird darauf
eigentlich geschlagen und geklopft wie in der Pantomime geklascht und
gestampft (Alles wird frappant). Dieser Geist der Pointirung ist äußerst
wohlthätig durch seine Bestimmtheit, Präcision, äußerst unästhetisch durch
das Afterbild der Anmuth und Kraft, das er hervorbringen muß, durch
die Aufhebung aller süßen Unwissenheit um sich und den Zuschauer, der
das Wesen des Schönen ausmacht. Und er steckt im antiken Kleide, das
so grundverschiedene Lebensform zu schmücken bestimmt war! Neuer Most
in alten Schläuchen, verdorbener pikanter Stoff in der antiken Vase.

§. 477.

Diesen Gegenschlag führen die Deutschen aus. Ihnen geht zuerst das
geistige Bewußtsein der Unendlichkeit des Ich auf; die innerlich wahrhaft
befreite Subjectivität tritt in die Phantasie als ein unsagbares Erzittern der
Empfindung, welche nicht nur, im Wetteifer mit der italienischen, die eigentlich
empfindende Art zur Vollendung erhebt, sondern sich zugleich vorzüglich in die
dichtende wirft, aber hier als eine aus der Objectivität sich zurückziehende weich-
liche Sehnsucht oder überhitzte Anspannung, als ein absichtlicher Cultus der Em-
pfindung die krankhafte und gestaltlose Form der Sentimentalität erzeugt.

An diese Stelle gehört der eigentliche Begriff der Sentimentalität.
Sie ist formell absichtliches Schwelgen in der Empfindung, "Empfindselig-
keit". Es kommt aber darauf an, was empfunden wird. Dieß ist die
innere subjective Unendlichkeit, welcher keine Existenz genügt. Das Wahre
in dieser Stimmung und das Unwahre ist hiemit zugleich ausgesprochen. Was
schon das romantische Ideal zum Prinzip hatte, wird jetzt reif, komm

Joch, während ſie politiſch im Todesſchlummer lagen. Recht und Un-
recht, Beruf zur Völkererziehung und ertödtender Zwang, innerſte Unwahr-
heit und Verdorbenheit, zur Niederlage beſtimmt, waren in der franzöſiſchen
Monarchie ebenſo vereinigt, wie in der Claſſicität des goldenen Zeitalters:
Bildung, Klarheit, Form, Diſciplin und zugleich hohle Lüge, Geſpreiztheit,
Eleganz, antiken Schäfern, Helden, Göttern die Maſke des Höflings
übergeworfen, abſtracte Maſchinerie, wo es für den Verſtand der Aufklä-
rung längſt keine Wunder mehr gab. Bereits trat allerdings auch die
komiſche Phantaſie mit ſchneidender Kraft auf; aber abſtract war doch
auch ſie, ſchematiſch in ihren Charakteren, generaliſirend wie die Monar-
chie. Wir haben ſchon in §. 368 Anm. 3 die Culturformen dieſes Volks
theatraliſch genannt; ſo erſcheinen dieſe dem Dritten, aber ebenſo be-
handelt natürlich es ſelbſt das Schöne: mit Energie wird auf den
Punkt hingedrückt, der in die Augen ſpringen ſoll, aber auch ohne die
Uebergänge, die Continuität der Natur zu Rathe ziehen, es wird darauf
eigentlich geſchlagen und geklopft wie in der Pantomime geklaſcht und
geſtampft (Alles wird frappant). Dieſer Geiſt der Pointirung iſt äußerſt
wohlthätig durch ſeine Beſtimmtheit, Präciſion, äußerſt unäſthetiſch durch
das Afterbild der Anmuth und Kraft, das er hervorbringen muß, durch
die Aufhebung aller ſüßen Unwiſſenheit um ſich und den Zuſchauer, der
das Weſen des Schönen ausmacht. Und er ſteckt im antiken Kleide, das
ſo grundverſchiedene Lebensform zu ſchmücken beſtimmt war! Neuer Moſt
in alten Schläuchen, verdorbener pikanter Stoff in der antiken Vaſe.

§. 477.

Dieſen Gegenſchlag führen die Deutſchen aus. Ihnen geht zuerſt das
geiſtige Bewußtſein der Unendlichkeit des Ich auf; die innerlich wahrhaft
befreite Subjectivität tritt in die Phantaſie als ein unſagbares Erzittern der
Empfindung, welche nicht nur, im Wetteifer mit der italieniſchen, die eigentlich
empfindende Art zur Vollendung erhebt, ſondern ſich zugleich vorzüglich in die
dichtende wirft, aber hier als eine aus der Objectivität ſich zurückziehende weich-
liche Sehnſucht oder überhitzte Anſpannung, als ein abſichtlicher Cultus der Em-
pfindung die krankhafte und geſtaltloſe Form der Sentimentalität erzeugt.

An dieſe Stelle gehört der eigentliche Begriff der Sentimentalität.
Sie iſt formell abſichtliches Schwelgen in der Empfindung, „Empfindſelig-
keit“. Es kommt aber darauf an, was empfunden wird. Dieß iſt die
innere ſubjective Unendlichkeit, welcher keine Exiſtenz genügt. Das Wahre
in dieſer Stimmung und das Unwahre iſt hiemit zugleich ausgeſprochen. Was
ſchon das romantiſche Ideal zum Prinzip hatte, wird jetzt reif, komm

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[513/0227] Joch, während ſie politiſch im Todesſchlummer lagen. Recht und Un- recht, Beruf zur Völkererziehung und ertödtender Zwang, innerſte Unwahr- heit und Verdorbenheit, zur Niederlage beſtimmt, waren in der franzöſiſchen Monarchie ebenſo vereinigt, wie in der Claſſicität des goldenen Zeitalters: Bildung, Klarheit, Form, Diſciplin und zugleich hohle Lüge, Geſpreiztheit, Eleganz, antiken Schäfern, Helden, Göttern die Maſke des Höflings übergeworfen, abſtracte Maſchinerie, wo es für den Verſtand der Aufklä- rung längſt keine Wunder mehr gab. Bereits trat allerdings auch die komiſche Phantaſie mit ſchneidender Kraft auf; aber abſtract war doch auch ſie, ſchematiſch in ihren Charakteren, generaliſirend wie die Monar- chie. Wir haben ſchon in §. 368 Anm. 3 die Culturformen dieſes Volks theatraliſch genannt; ſo erſcheinen dieſe dem Dritten, aber ebenſo be- handelt natürlich es ſelbſt das Schöne: mit Energie wird auf den Punkt hingedrückt, der in die Augen ſpringen ſoll, aber auch ohne die Uebergänge, die Continuität der Natur zu Rathe ziehen, es wird darauf eigentlich geſchlagen und geklopft wie in der Pantomime geklaſcht und geſtampft (Alles wird frappant). Dieſer Geiſt der Pointirung iſt äußerſt wohlthätig durch ſeine Beſtimmtheit, Präciſion, äußerſt unäſthetiſch durch das Afterbild der Anmuth und Kraft, das er hervorbringen muß, durch die Aufhebung aller ſüßen Unwiſſenheit um ſich und den Zuſchauer, der das Weſen des Schönen ausmacht. Und er ſteckt im antiken Kleide, das ſo grundverſchiedene Lebensform zu ſchmücken beſtimmt war! Neuer Moſt in alten Schläuchen, verdorbener pikanter Stoff in der antiken Vaſe. §. 477. Dieſen Gegenſchlag führen die Deutſchen aus. Ihnen geht zuerſt das geiſtige Bewußtſein der Unendlichkeit des Ich auf; die innerlich wahrhaft befreite Subjectivität tritt in die Phantaſie als ein unſagbares Erzittern der Empfindung, welche nicht nur, im Wetteifer mit der italieniſchen, die eigentlich empfindende Art zur Vollendung erhebt, ſondern ſich zugleich vorzüglich in die dichtende wirft, aber hier als eine aus der Objectivität ſich zurückziehende weich- liche Sehnſucht oder überhitzte Anſpannung, als ein abſichtlicher Cultus der Em- pfindung die krankhafte und geſtaltloſe Form der Sentimentalität erzeugt. An dieſe Stelle gehört der eigentliche Begriff der Sentimentalität. Sie iſt formell abſichtliches Schwelgen in der Empfindung, „Empfindſelig- keit“. Es kommt aber darauf an, was empfunden wird. Dieß iſt die innere ſubjective Unendlichkeit, welcher keine Exiſtenz genügt. Das Wahre in dieſer Stimmung und das Unwahre iſt hiemit zugleich ausgeſprochen. Was ſchon das romantiſche Ideal zum Prinzip hatte, wird jetzt reif, komm

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/227>, abgerufen am 18.04.2024.