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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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einer Umwandlung unterliegt, niemals gleichgültig; das innere Bilden
kann nimmermehr aus Häßlichem einfach Schönes, sondern nur aus furcht-
bar Häßlichem ein vollendetes furchtbar Häßliches, aus unschädlich Häß-
lichem ein komisch Häßliches u. s. w. machen, es kann nur immer den
Gegenstand innerhalb seiner eigenen und gegebenen Natur über sich selbst
und das Störende, was ihm noch anhängt, erheben. Vergl. §. 236 Anm. 3.

§. 382.

Das Subject hat also die Fähigkeit, zugleich mit der Anschauung ein1
Bild zu erzeugen, das vorher als Möglichkeit oder Urbild in ihm angelegt
gewesen sein muß, durch den entsprechenden naturschönen Gegenstand im Innern
zur Wirklichkeit gerufen wird und nun als inneres Richtmaaß diesen umbildet,
das der Idee Gemäße in ihm erhöht und das Ungemäße ausscheidet, ihn zur
reinen Schönheit erweitert und dem Geiste überhaupt als das Muster dient,
durch das er Schönes und nicht Schönes unterscheidet. In Wahrheit ist dem-2
nach das Subject der Schöpfer des Schönen und die gesammte Naturschönheit
verhält sich zu dieser Schöpfung als Object in dem Sinne des Stoffs einer
Thätigkeit, wodurch es in die § 233 geforderte Bestimmung eintritt.

1. Die Idealbildende Phantasie soll erst in der folgenden Unterabthei-
lung in ihre Momente auseinandergesetzt werden, wo sie denn in bestimmterer
Scheidung dem naturschönen Objecte gegenübertritt und wo die Frage
nach dem Vor und Nach erst ihre Schärfe bekommt. Die allgemeine
Phantasie tritt noch nicht vom Gegenstande zurück, um ihn in der Tiefe
zu verarbeiten und in geheimem Schaffen als Ideal wiederzugeben, nur
im Schauen selbst wächst ihr etwas im Innern, was sie als Correctiv des
Naturschönen anwendet, zugleich aber diesem selbst leiht, so daß sie das Schöne
unbefangen in den Gegenstand hineinschaut. Dieses Correctiv nennt der
§ Urbild; es wird nicht unzweckmäßig erscheinen, wenn wir diesen Aus-
druck im Unterschiede von: Ideal hier so brauchen, daß er das unent-
wickelte, noch erst virtualiter vorhandene reine Schauen bezeichnet. In
Plato's mythischem Ausdruck ist das innere Schauen des reinen Bildes
der Dinge aus der Präexistenz angeboren und das wirkliche, obwohl nicht
lautere, Schöne erinnert die Seele an dieß in einem früheren Daseyn
Geschaute, ein freudiger Schrecken ergreift sie. Das Unrichtige an dieser
Darstellung ist, daß das reine Schauen zum Voraus als etwas Fertiges,
nur Vergessenes erscheint: derselbe Einwurf, der überhaupt die Lehre von
den angebornen Ideen trifft. Schelling wiederholte im Bruno diese my-
thische Vorstellung, sofern sie etwas Oertliches hat, nur das Zeitverhält-
niß schied er aus; in Gott sind die zeitlos ewigen Urbilder der Dinge,

einer Umwandlung unterliegt, niemals gleichgültig; das innere Bilden
kann nimmermehr aus Häßlichem einfach Schönes, ſondern nur aus furcht-
bar Häßlichem ein vollendetes furchtbar Häßliches, aus unſchädlich Häß-
lichem ein komiſch Häßliches u. ſ. w. machen, es kann nur immer den
Gegenſtand innerhalb ſeiner eigenen und gegebenen Natur über ſich ſelbſt
und das Störende, was ihm noch anhängt, erheben. Vergl. §. 236 Anm. 3.

§. 382.

Das Subject hat alſo die Fähigkeit, zugleich mit der Anſchauung ein1
Bild zu erzeugen, das vorher als Möglichkeit oder Urbild in ihm angelegt
geweſen ſein muß, durch den entſprechenden naturſchönen Gegenſtand im Innern
zur Wirklichkeit gerufen wird und nun als inneres Richtmaaß dieſen umbildet,
das der Idee Gemäße in ihm erhöht und das Ungemäße ausſcheidet, ihn zur
reinen Schönheit erweitert und dem Geiſte überhaupt als das Muſter dient,
durch das er Schönes und nicht Schönes unterſcheidet. In Wahrheit iſt dem-2
nach das Subject der Schöpfer des Schönen und die geſammte Naturſchönheit
verhält ſich zu dieſer Schöpfung als Object in dem Sinne des Stoffs einer
Thätigkeit, wodurch es in die § 233 geforderte Beſtimmung eintritt.

1. Die Idealbildende Phantaſie ſoll erſt in der folgenden Unterabthei-
lung in ihre Momente auseinandergeſetzt werden, wo ſie denn in beſtimmterer
Scheidung dem naturſchönen Objecte gegenübertritt und wo die Frage
nach dem Vor und Nach erſt ihre Schärfe bekommt. Die allgemeine
Phantaſie tritt noch nicht vom Gegenſtande zurück, um ihn in der Tiefe
zu verarbeiten und in geheimem Schaffen als Ideal wiederzugeben, nur
im Schauen ſelbſt wächſt ihr etwas im Innern, was ſie als Correctiv des
Naturſchönen anwendet, zugleich aber dieſem ſelbſt leiht, ſo daß ſie das Schöne
unbefangen in den Gegenſtand hineinſchaut. Dieſes Correctiv nennt der
§ Urbild; es wird nicht unzweckmäßig erſcheinen, wenn wir dieſen Aus-
druck im Unterſchiede von: Ideal hier ſo brauchen, daß er das unent-
wickelte, noch erſt virtualiter vorhandene reine Schauen bezeichnet. In
Plato’s mythiſchem Ausdruck iſt das innere Schauen des reinen Bildes
der Dinge aus der Präexiſtenz angeboren und das wirkliche, obwohl nicht
lautere, Schöne erinnert die Seele an dieß in einem früheren Daſeyn
Geſchaute, ein freudiger Schrecken ergreift ſie. Das Unrichtige an dieſer
Darſtellung iſt, daß das reine Schauen zum Voraus als etwas Fertiges,
nur Vergeſſenes erſcheint: derſelbe Einwurf, der überhaupt die Lehre von
den angebornen Ideen trifft. Schelling wiederholte im Bruno dieſe my-
thiſche Vorſtellung, ſofern ſie etwas Oertliches hat, nur das Zeitverhält-
niß ſchied er aus; in Gott ſind die zeitlos ewigen Urbilder der Dinge,

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[311/0025] einer Umwandlung unterliegt, niemals gleichgültig; das innere Bilden kann nimmermehr aus Häßlichem einfach Schönes, ſondern nur aus furcht- bar Häßlichem ein vollendetes furchtbar Häßliches, aus unſchädlich Häß- lichem ein komiſch Häßliches u. ſ. w. machen, es kann nur immer den Gegenſtand innerhalb ſeiner eigenen und gegebenen Natur über ſich ſelbſt und das Störende, was ihm noch anhängt, erheben. Vergl. §. 236 Anm. 3. §. 382. Das Subject hat alſo die Fähigkeit, zugleich mit der Anſchauung ein Bild zu erzeugen, das vorher als Möglichkeit oder Urbild in ihm angelegt geweſen ſein muß, durch den entſprechenden naturſchönen Gegenſtand im Innern zur Wirklichkeit gerufen wird und nun als inneres Richtmaaß dieſen umbildet, das der Idee Gemäße in ihm erhöht und das Ungemäße ausſcheidet, ihn zur reinen Schönheit erweitert und dem Geiſte überhaupt als das Muſter dient, durch das er Schönes und nicht Schönes unterſcheidet. In Wahrheit iſt dem- nach das Subject der Schöpfer des Schönen und die geſammte Naturſchönheit verhält ſich zu dieſer Schöpfung als Object in dem Sinne des Stoffs einer Thätigkeit, wodurch es in die § 233 geforderte Beſtimmung eintritt. 1. Die Idealbildende Phantaſie ſoll erſt in der folgenden Unterabthei- lung in ihre Momente auseinandergeſetzt werden, wo ſie denn in beſtimmterer Scheidung dem naturſchönen Objecte gegenübertritt und wo die Frage nach dem Vor und Nach erſt ihre Schärfe bekommt. Die allgemeine Phantaſie tritt noch nicht vom Gegenſtande zurück, um ihn in der Tiefe zu verarbeiten und in geheimem Schaffen als Ideal wiederzugeben, nur im Schauen ſelbſt wächſt ihr etwas im Innern, was ſie als Correctiv des Naturſchönen anwendet, zugleich aber dieſem ſelbſt leiht, ſo daß ſie das Schöne unbefangen in den Gegenſtand hineinſchaut. Dieſes Correctiv nennt der § Urbild; es wird nicht unzweckmäßig erſcheinen, wenn wir dieſen Aus- druck im Unterſchiede von: Ideal hier ſo brauchen, daß er das unent- wickelte, noch erſt virtualiter vorhandene reine Schauen bezeichnet. In Plato’s mythiſchem Ausdruck iſt das innere Schauen des reinen Bildes der Dinge aus der Präexiſtenz angeboren und das wirkliche, obwohl nicht lautere, Schöne erinnert die Seele an dieß in einem früheren Daſeyn Geſchaute, ein freudiger Schrecken ergreift ſie. Das Unrichtige an dieſer Darſtellung iſt, daß das reine Schauen zum Voraus als etwas Fertiges, nur Vergeſſenes erſcheint: derſelbe Einwurf, der überhaupt die Lehre von den angebornen Ideen trifft. Schelling wiederholte im Bruno dieſe my- thiſche Vorſtellung, ſofern ſie etwas Oertliches hat, nur das Zeitverhält- niß ſchied er aus; in Gott ſind die zeitlos ewigen Urbilder der Dinge,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/25>, abgerufen am 23.04.2024.