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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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b.
Die besondere Phantasie.
§. 384.

Diese Thätigkeit (§. 382) des reinen Schauens heißt Phantasie. Das
wahre Wesen derselben ist jedoch erst da wirklich, wo sie als vollkommener
Prozeß ihre Momente in klarer Scheidung auseinanderhält und wieder vereinigt.
In dieser Bestimmtheit erst ist sie wahrhaft schöpferisch, tritt aber auch als be-
sondere Gabe weniger vom Zufalle der Naturanlage Begünstigter aus dem Bo-
den der allgemeinen Phantasie hervor.

"Besondere Phantasie" hat (vergl. § 379 Anm.) einen doppelten
Sinn; zuerst: die Phantasie in klarer Scheidung ihrer besondern Mo-
mente, dann ebendaher in klarer Scheidung des inneren Bildes von dem
naturschönen Gegenstande, der nun, wie sich zeigen wird, nicht mehr mit
diesem, das ihm zu Hilfe kommt, einfach verwechselt wird; dieß eben ist
der zweite, vom ersten freie, frei geschaffene Schein. In dieser Bestimmt-
heit ist aber die Phantasie zugleich eine besondere Naturgabe Weniger,
ein geistiger Unterschied, er als Anlage wesentlich ein Natur-Unterschied
ist. Dieß Zufällige des Angebornen hat die Wissenschaft nicht weiter zu
begründen und zu erklären. Zu § 379 ist gesagt, daß die Momente der
Phantasie auch in der allgemeinen vorhanden seien, aber, weil stumpfer
und ungeschiedener ineinander verlaufend, nicht alle in gleichem Maaße.
Dieß wird sich nun finden, wir werden je am betreffenden Orte aufzeigen,
wie weit die allgemeine Phantasie mitgeht, wie weit nicht.

a.
Die Anschauung.
§. 385.

Voraus geht die Anschauung als die thätige Erfassung einer Erschei-
nung durch den Geist, der sich als Aufmerksamkeit in die sinnliche Wahrneh-
mung legt und, während er mit scharfem Maaße die Form ergreift, sich mit
inniger Empfindung in den ganzen Gegenstand und ihn in sich vertieft. Es ist
dieß zunächst die gewöhnliche Anschauung, aber sie arbeitet nicht nur durch die
vergeistigende Thätigkeit der sinnlichen Wahrnehmung überhaupt (§ 380, 1.),

Vischer's Aesthetik. 2. Band. 21
b.
Die beſondere Phantaſie.
§. 384.

Dieſe Thätigkeit (§. 382) des reinen Schauens heißt Phantaſie. Das
wahre Weſen derſelben iſt jedoch erſt da wirklich, wo ſie als vollkommener
Prozeß ihre Momente in klarer Scheidung auseinanderhält und wieder vereinigt.
In dieſer Beſtimmtheit erſt iſt ſie wahrhaft ſchöpferiſch, tritt aber auch als be-
ſondere Gabe weniger vom Zufalle der Naturanlage Begünſtigter aus dem Bo-
den der allgemeinen Phantaſie hervor.

„Beſondere Phantaſie“ hat (vergl. § 379 Anm.) einen doppelten
Sinn; zuerſt: die Phantaſie in klarer Scheidung ihrer beſondern Mo-
mente, dann ebendaher in klarer Scheidung des inneren Bildes von dem
naturſchönen Gegenſtande, der nun, wie ſich zeigen wird, nicht mehr mit
dieſem, das ihm zu Hilfe kommt, einfach verwechſelt wird; dieß eben iſt
der zweite, vom erſten freie, frei geſchaffene Schein. In dieſer Beſtimmt-
heit iſt aber die Phantaſie zugleich eine beſondere Naturgabe Weniger,
ein geiſtiger Unterſchied, er als Anlage weſentlich ein Natur-Unterſchied
iſt. Dieß Zufällige des Angebornen hat die Wiſſenſchaft nicht weiter zu
begründen und zu erklären. Zu § 379 iſt geſagt, daß die Momente der
Phantaſie auch in der allgemeinen vorhanden ſeien, aber, weil ſtumpfer
und ungeſchiedener ineinander verlaufend, nicht alle in gleichem Maaße.
Dieß wird ſich nun finden, wir werden je am betreffenden Orte aufzeigen,
wie weit die allgemeine Phantaſie mitgeht, wie weit nicht.

α.
Die Anſchauung.
§. 385.

Voraus geht die Anſchauung als die thätige Erfaſſung einer Erſchei-
nung durch den Geiſt, der ſich als Aufmerkſamkeit in die ſinnliche Wahrneh-
mung legt und, während er mit ſcharfem Maaße die Form ergreift, ſich mit
inniger Empfindung in den ganzen Gegenſtand und ihn in ſich vertieft. Es iſt
dieß zunächſt die gewöhnliche Anſchauung, aber ſie arbeitet nicht nur durch die
vergeiſtigende Thätigkeit der ſinnlichen Wahrnehmung überhaupt (§ 380, 1.),

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 21
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[315/0029] b. Die beſondere Phantaſie. §. 384. Dieſe Thätigkeit (§. 382) des reinen Schauens heißt Phantaſie. Das wahre Weſen derſelben iſt jedoch erſt da wirklich, wo ſie als vollkommener Prozeß ihre Momente in klarer Scheidung auseinanderhält und wieder vereinigt. In dieſer Beſtimmtheit erſt iſt ſie wahrhaft ſchöpferiſch, tritt aber auch als be- ſondere Gabe weniger vom Zufalle der Naturanlage Begünſtigter aus dem Bo- den der allgemeinen Phantaſie hervor. „Beſondere Phantaſie“ hat (vergl. § 379 Anm.) einen doppelten Sinn; zuerſt: die Phantaſie in klarer Scheidung ihrer beſondern Mo- mente, dann ebendaher in klarer Scheidung des inneren Bildes von dem naturſchönen Gegenſtande, der nun, wie ſich zeigen wird, nicht mehr mit dieſem, das ihm zu Hilfe kommt, einfach verwechſelt wird; dieß eben iſt der zweite, vom erſten freie, frei geſchaffene Schein. In dieſer Beſtimmt- heit iſt aber die Phantaſie zugleich eine beſondere Naturgabe Weniger, ein geiſtiger Unterſchied, er als Anlage weſentlich ein Natur-Unterſchied iſt. Dieß Zufällige des Angebornen hat die Wiſſenſchaft nicht weiter zu begründen und zu erklären. Zu § 379 iſt geſagt, daß die Momente der Phantaſie auch in der allgemeinen vorhanden ſeien, aber, weil ſtumpfer und ungeſchiedener ineinander verlaufend, nicht alle in gleichem Maaße. Dieß wird ſich nun finden, wir werden je am betreffenden Orte aufzeigen, wie weit die allgemeine Phantaſie mitgeht, wie weit nicht. α. Die Anſchauung. §. 385. Voraus geht die Anſchauung als die thätige Erfaſſung einer Erſchei- nung durch den Geiſt, der ſich als Aufmerkſamkeit in die ſinnliche Wahrneh- mung legt und, während er mit ſcharfem Maaße die Form ergreift, ſich mit inniger Empfindung in den ganzen Gegenſtand und ihn in ſich vertieft. Es iſt dieß zunächſt die gewöhnliche Anſchauung, aber ſie arbeitet nicht nur durch die vergeiſtigende Thätigkeit der ſinnlichen Wahrnehmung überhaupt (§ 380, 1.), Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 21

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/29>, abgerufen am 29.03.2024.