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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Das Ideal ist also Natur und nicht Natur: es ist gefunden und
geschaffen, der Künstler gibt "dankbar gegen die Natur, die auch ihn her-
vorbrachte, ihr eine zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine
menschlich vollendete zurück" (Göthe zu Diderot). Sein Bild ist das
wohlbekannte Alte und das unbekannte Neue, Fleisch und Blut von dieser
und doch Wesen aus einer andern Welt, von Geisterhauch umweht,
"gleich weit entfernt von logischen Wesen wie von bloßen Individuen;
der Künstler erhebt sich über das Wirkliche und bleibt innerhalb des Sinn-
lichen stehen" (Schiller an Göthe N. 360); "er scheidet am Wirklichen
aus das zufällig Wirkliche, an dem wir weder ein Gesetz der Natur noch
der Freiheit entdecken, d. h. das Gemeine" (Göthe Werke B. 49 S.
45) und verstärkt in's Unendliche seine ganze Eigenthümlichkeit als Con-
centration der ewigen Natur- und Freiheitsformen in ein Individuum;
dieses ist daher Repräsentant der bestimmten Idee. "Das Ideal
wandelt das Erscheinende auf allen Punkten seiner Oberfläche zum Auge
um, welches der Sitz der Seele ist und den Geist zur Erscheinung bringt;
-- es setzt seinen Fuß in die Sinnlichkeit und deren Naturgestalt hinein,
zieht ihn jedoch wie das Bereich des Aeußern zugleich zu sich zurück, --
dadurch steht es im Aeußerlichen" (als Kunstwerk, zunächst aber im Geiste
umgeben von Bildern des gemein Aeußerlichen,) "mit sich selbst zusam-
mengeschlossen frei auf sich beruhend da als sinnlich seelig in sich, seiner
sich freuend und genießend" (Hegel Aesth. B. 1, S. 197 ff.). Die Phan-
tasie als Idealbildend ist so die reine und volle Mitte des menschlichen
Geistes; dieser Begriff ist aber in Hegels Darstellung trotz der Trefflich-
keit der einzelnen Bestimmungen nicht zum Rechte getommen, weil er an
der Stelle, wo er die Phantasie eigentlich behandelt, in der Encyclopädie,
von ihr aussagt, die Intelligenz gebe in ihr einem aus ihr selbst ge-
nommenen
Gehalt bildliche Existenz (§. 457). Der Gehalt ist ja, wie
wir sehen, im Stoffe auch gegeben, und nur so eine reine Einheit des
Geistes mit der Natur möglich. Haben wir schon die Intelligenz, die
eigenen Gehalt schlechtweg frei erzeugt und dann in ein Bild legt, so sind
wir schon weit über die Phantasie hinaus: sie ist dem encyclopädischen
Fortschritte geopfert.

§. 399.

Da jede Idee eine Einheit von Momenten in sich begreift (§. 21), deren
reale Erscheinung aber im Naturschönen eine verworren sich verlaufende Masse
darstellt (§. 380, 1.) so wirkt die bindende und scheidende Thätigkeit der
Phantasie (§. 396) im Ideal als organische Gliederung, welche das Fließende
einschneidend theilt, das Zerstreute einigt, so das Viele als ein Geordnetes um

Das Ideal iſt alſo Natur und nicht Natur: es iſt gefunden und
geſchaffen, der Künſtler gibt „dankbar gegen die Natur, die auch ihn her-
vorbrachte, ihr eine zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine
menſchlich vollendete zurück“ (Göthe zu Diderot). Sein Bild iſt das
wohlbekannte Alte und das unbekannte Neue, Fleiſch und Blut von dieſer
und doch Weſen aus einer andern Welt, von Geiſterhauch umweht,
„gleich weit entfernt von logiſchen Weſen wie von bloßen Individuen;
der Künſtler erhebt ſich über das Wirkliche und bleibt innerhalb des Sinn-
lichen ſtehen“ (Schiller an Göthe N. 360); „er ſcheidet am Wirklichen
aus das zufällig Wirkliche, an dem wir weder ein Geſetz der Natur noch
der Freiheit entdecken, d. h. das Gemeine“ (Göthe Werke B. 49 S.
45) und verſtärkt in’s Unendliche ſeine ganze Eigenthümlichkeit als Con-
centration der ewigen Natur- und Freiheitsformen in ein Individuum;
dieſes iſt daher Repräſentant der beſtimmten Idee. „Das Ideal
wandelt das Erſcheinende auf allen Punkten ſeiner Oberfläche zum Auge
um, welches der Sitz der Seele iſt und den Geiſt zur Erſcheinung bringt;
— es ſetzt ſeinen Fuß in die Sinnlichkeit und deren Naturgeſtalt hinein,
zieht ihn jedoch wie das Bereich des Aeußern zugleich zu ſich zurück, —
dadurch ſteht es im Aeußerlichen“ (als Kunſtwerk, zunächſt aber im Geiſte
umgeben von Bildern des gemein Aeußerlichen,) „mit ſich ſelbſt zuſam-
mengeſchloſſen frei auf ſich beruhend da als ſinnlich ſeelig in ſich, ſeiner
ſich freuend und genießend“ (Hegel Aeſth. B. 1, S. 197 ff.). Die Phan-
taſie als Idealbildend iſt ſo die reine und volle Mitte des menſchlichen
Geiſtes; dieſer Begriff iſt aber in Hegels Darſtellung trotz der Trefflich-
keit der einzelnen Beſtimmungen nicht zum Rechte getommen, weil er an
der Stelle, wo er die Phantaſie eigentlich behandelt, in der Encyclopädie,
von ihr ausſagt, die Intelligenz gebe in ihr einem aus ihr ſelbſt ge-
nommenen
Gehalt bildliche Exiſtenz (§. 457). Der Gehalt iſt ja, wie
wir ſehen, im Stoffe auch gegeben, und nur ſo eine reine Einheit des
Geiſtes mit der Natur möglich. Haben wir ſchon die Intelligenz, die
eigenen Gehalt ſchlechtweg frei erzeugt und dann in ein Bild legt, ſo ſind
wir ſchon weit über die Phantaſie hinaus: ſie iſt dem encyclopädiſchen
Fortſchritte geopfert.

§. 399.

Da jede Idee eine Einheit von Momenten in ſich begreift (§. 21), deren
reale Erſcheinung aber im Naturſchönen eine verworren ſich verlaufende Maſſe
darſtellt (§. 380, 1.) ſo wirkt die bindende und ſcheidende Thätigkeit der
Phantaſie (§. 396) im Ideal als organiſche Gliederung, welche das Fließende
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[361/0075] Das Ideal iſt alſo Natur und nicht Natur: es iſt gefunden und geſchaffen, der Künſtler gibt „dankbar gegen die Natur, die auch ihn her- vorbrachte, ihr eine zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine menſchlich vollendete zurück“ (Göthe zu Diderot). Sein Bild iſt das wohlbekannte Alte und das unbekannte Neue, Fleiſch und Blut von dieſer und doch Weſen aus einer andern Welt, von Geiſterhauch umweht, „gleich weit entfernt von logiſchen Weſen wie von bloßen Individuen; der Künſtler erhebt ſich über das Wirkliche und bleibt innerhalb des Sinn- lichen ſtehen“ (Schiller an Göthe N. 360); „er ſcheidet am Wirklichen aus das zufällig Wirkliche, an dem wir weder ein Geſetz der Natur noch der Freiheit entdecken, d. h. das Gemeine“ (Göthe Werke B. 49 S. 45) und verſtärkt in’s Unendliche ſeine ganze Eigenthümlichkeit als Con- centration der ewigen Natur- und Freiheitsformen in ein Individuum; dieſes iſt daher Repräſentant der beſtimmten Idee. „Das Ideal wandelt das Erſcheinende auf allen Punkten ſeiner Oberfläche zum Auge um, welches der Sitz der Seele iſt und den Geiſt zur Erſcheinung bringt; — es ſetzt ſeinen Fuß in die Sinnlichkeit und deren Naturgeſtalt hinein, zieht ihn jedoch wie das Bereich des Aeußern zugleich zu ſich zurück, — dadurch ſteht es im Aeußerlichen“ (als Kunſtwerk, zunächſt aber im Geiſte umgeben von Bildern des gemein Aeußerlichen,) „mit ſich ſelbſt zuſam- mengeſchloſſen frei auf ſich beruhend da als ſinnlich ſeelig in ſich, ſeiner ſich freuend und genießend“ (Hegel Aeſth. B. 1, S. 197 ff.). Die Phan- taſie als Idealbildend iſt ſo die reine und volle Mitte des menſchlichen Geiſtes; dieſer Begriff iſt aber in Hegels Darſtellung trotz der Trefflich- keit der einzelnen Beſtimmungen nicht zum Rechte getommen, weil er an der Stelle, wo er die Phantaſie eigentlich behandelt, in der Encyclopädie, von ihr ausſagt, die Intelligenz gebe in ihr einem aus ihr ſelbſt ge- nommenen Gehalt bildliche Exiſtenz (§. 457). Der Gehalt iſt ja, wie wir ſehen, im Stoffe auch gegeben, und nur ſo eine reine Einheit des Geiſtes mit der Natur möglich. Haben wir ſchon die Intelligenz, die eigenen Gehalt ſchlechtweg frei erzeugt und dann in ein Bild legt, ſo ſind wir ſchon weit über die Phantaſie hinaus: ſie iſt dem encyclopädiſchen Fortſchritte geopfert. §. 399. Da jede Idee eine Einheit von Momenten in ſich begreift (§. 21), deren reale Erſcheinung aber im Naturſchönen eine verworren ſich verlaufende Maſſe darſtellt (§. 380, 1.) ſo wirkt die bindende und ſcheidende Thätigkeit der Phantaſie (§. 396) im Ideal als organiſche Gliederung, welche das Fließende einſchneidend theilt, das Zerſtreute einigt, ſo das Viele als ein Geordnetes um

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/75>, abgerufen am 28.03.2024.