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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Ebendaher gehen uns hier auch diejenigen Formen nichts an, welche als
unreife an den Anfang, als Zeichen der Auflösung an das Ende der
Zeitalter gehören: Symbol und Allegorie; blos sofern sie auch im Bildungs-
wege der Phantasie des Einzelnen, nur schwächer angedeutet, hervortreten,
haben wir sie schon in der jetzigen Abtheilung, in der zweiten Unterabtheilung
derselben nämlich, welche von den Graden der Phantasie handeln wird,
zu berühren. Auch die eigentlichen Verirrungen der Phantasie werden
wir in Verfolgung dieser Arten überall zu den Seiten uns begleiten sehen,
und diese Verirrungen haben freilich auch ihre Zeitalter; doch nicht in
diesem Sinne, sondern nur in dem der allgemeinen Möglichkeit beschäftigen
sie uns jetzt. Wesentlich aber ist, daß die gegenwärtige Abtheilung den
Grund zu der Kunstlehre zu legen hat; denn die Verschiedenheit der
Künste realisirt sich durch die Verschiedenheit der Organisation der Phan-
tasie; es ist ja nicht das verschiedene Material, worauf sie beruht, sondern
dieser wählt Stein, jener Farbe u. s. w., weil er zum Voraus den natur-
schönen Stoff anders anschaut, als der Andere, und sich darnach ein an-
deres Ideal in der Phantasie schafft. Von dieser Seite eröffnet die jetzige
Abtheilung allerdings auch eine Aussicht auf die geschichtlichen Formen
des Ideals, die zwischen den eben erwähnten unreifen Anfängen und
überreifen Ausgängen in der Mitte liegen, denn eine gewisse Art anzu-
schauen liegt ihnen zu Grunde, daher bringen sie Alles unter den Stand-
punkt einer gewissen Kunst (das classische Ideal ist plastisch, das roman-
tische malerisch, musikalisch, das moderne poetisch); aber auch dieß kann
jetzt nur als Vorandeutung auftreten und es bleibt dabei, daß wir vom
Unterschiede der Epochen eigentlich noch nichts erfahren, sondern nur Un-
terschiede vor uns bringen, wie sie immer und überall sich hervorstellen
können. -- Der Schluß des §. spricht von einer gegenseitigen Berührung
der Eintheilungslinien, die uns sofort entstehen werden. Was damit ge-
meint ist, wird sich im Einzelnen zeigen.

§. 402.

Die erste Reihe entsteht dadurch, daß der Inhalt des ersten Theils des
Systems als Theilungsprinzip auftritt: einfach schöne, erhabene, komische
Phantasie. Diese drei Arten theilen sich wieder nach den verschiedenen Stufeu
der betreffenden Grundformen in Unterarten und es bilden sich, wo die eine
Art in die andere übergreift, dadurch neue Reihen; je reicher aber eine Phan-
tasie, desto mehr Stufen oder sogar Grundformen wird sie umfassen.

Für die einfach schöne Phantasie ist es nur dann schwierig Bei-
spiele zu finden, wenn man nicht erwägt, daß sie, obwohl die einfache,
die harmlose Schönheit und milde Grazie ihr Standpunkt und Boden ist,

Ebendaher gehen uns hier auch diejenigen Formen nichts an, welche als
unreife an den Anfang, als Zeichen der Auflöſung an das Ende der
Zeitalter gehören: Symbol und Allegorie; blos ſofern ſie auch im Bildungs-
wege der Phantaſie des Einzelnen, nur ſchwächer angedeutet, hervortreten,
haben wir ſie ſchon in der jetzigen Abtheilung, in der zweiten Unterabtheilung
derſelben nämlich, welche von den Graden der Phantaſie handeln wird,
zu berühren. Auch die eigentlichen Verirrungen der Phantaſie werden
wir in Verfolgung dieſer Arten überall zu den Seiten uns begleiten ſehen,
und dieſe Verirrungen haben freilich auch ihre Zeitalter; doch nicht in
dieſem Sinne, ſondern nur in dem der allgemeinen Möglichkeit beſchäftigen
ſie uns jetzt. Weſentlich aber iſt, daß die gegenwärtige Abtheilung den
Grund zu der Kunſtlehre zu legen hat; denn die Verſchiedenheit der
Künſte realiſirt ſich durch die Verſchiedenheit der Organiſation der Phan-
taſie; es iſt ja nicht das verſchiedene Material, worauf ſie beruht, ſondern
dieſer wählt Stein, jener Farbe u. ſ. w., weil er zum Voraus den natur-
ſchönen Stoff anders anſchaut, als der Andere, und ſich darnach ein an-
deres Ideal in der Phantaſie ſchafft. Von dieſer Seite eröffnet die jetzige
Abtheilung allerdings auch eine Ausſicht auf die geſchichtlichen Formen
des Ideals, die zwiſchen den eben erwähnten unreifen Anfängen und
überreifen Ausgängen in der Mitte liegen, denn eine gewiſſe Art anzu-
ſchauen liegt ihnen zu Grunde, daher bringen ſie Alles unter den Stand-
punkt einer gewiſſen Kunſt (das claſſiſche Ideal iſt plaſtiſch, das roman-
tiſche maleriſch, muſikaliſch, das moderne poetiſch); aber auch dieß kann
jetzt nur als Vorandeutung auftreten und es bleibt dabei, daß wir vom
Unterſchiede der Epochen eigentlich noch nichts erfahren, ſondern nur Un-
terſchiede vor uns bringen, wie ſie immer und überall ſich hervorſtellen
können. — Der Schluß des §. ſpricht von einer gegenſeitigen Berührung
der Eintheilungslinien, die uns ſofort entſtehen werden. Was damit ge-
meint iſt, wird ſich im Einzelnen zeigen.

§. 402.

Die erſte Reihe entſteht dadurch, daß der Inhalt des erſten Theils des
Syſtems als Theilungsprinzip auftritt: einfach ſchöne, erhabene, komiſche
Phantaſie. Dieſe drei Arten theilen ſich wieder nach den verſchiedenen Stufeu
der betreffenden Grundformen in Unterarten und es bilden ſich, wo die eine
Art in die andere übergreift, dadurch neue Reihen; je reicher aber eine Phan-
taſie, deſto mehr Stufen oder ſogar Grundformen wird ſie umfaſſen.

Für die einfach ſchöne Phantaſie iſt es nur dann ſchwierig Bei-
ſpiele zu finden, wenn man nicht erwägt, daß ſie, obwohl die einfache,
die harmloſe Schönheit und milde Grazie ihr Standpunkt und Boden iſt,

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[371/0085] Ebendaher gehen uns hier auch diejenigen Formen nichts an, welche als unreife an den Anfang, als Zeichen der Auflöſung an das Ende der Zeitalter gehören: Symbol und Allegorie; blos ſofern ſie auch im Bildungs- wege der Phantaſie des Einzelnen, nur ſchwächer angedeutet, hervortreten, haben wir ſie ſchon in der jetzigen Abtheilung, in der zweiten Unterabtheilung derſelben nämlich, welche von den Graden der Phantaſie handeln wird, zu berühren. Auch die eigentlichen Verirrungen der Phantaſie werden wir in Verfolgung dieſer Arten überall zu den Seiten uns begleiten ſehen, und dieſe Verirrungen haben freilich auch ihre Zeitalter; doch nicht in dieſem Sinne, ſondern nur in dem der allgemeinen Möglichkeit beſchäftigen ſie uns jetzt. Weſentlich aber iſt, daß die gegenwärtige Abtheilung den Grund zu der Kunſtlehre zu legen hat; denn die Verſchiedenheit der Künſte realiſirt ſich durch die Verſchiedenheit der Organiſation der Phan- taſie; es iſt ja nicht das verſchiedene Material, worauf ſie beruht, ſondern dieſer wählt Stein, jener Farbe u. ſ. w., weil er zum Voraus den natur- ſchönen Stoff anders anſchaut, als der Andere, und ſich darnach ein an- deres Ideal in der Phantaſie ſchafft. Von dieſer Seite eröffnet die jetzige Abtheilung allerdings auch eine Ausſicht auf die geſchichtlichen Formen des Ideals, die zwiſchen den eben erwähnten unreifen Anfängen und überreifen Ausgängen in der Mitte liegen, denn eine gewiſſe Art anzu- ſchauen liegt ihnen zu Grunde, daher bringen ſie Alles unter den Stand- punkt einer gewiſſen Kunſt (das claſſiſche Ideal iſt plaſtiſch, das roman- tiſche maleriſch, muſikaliſch, das moderne poetiſch); aber auch dieß kann jetzt nur als Vorandeutung auftreten und es bleibt dabei, daß wir vom Unterſchiede der Epochen eigentlich noch nichts erfahren, ſondern nur Un- terſchiede vor uns bringen, wie ſie immer und überall ſich hervorſtellen können. — Der Schluß des §. ſpricht von einer gegenſeitigen Berührung der Eintheilungslinien, die uns ſofort entſtehen werden. Was damit ge- meint iſt, wird ſich im Einzelnen zeigen. §. 402. Die erſte Reihe entſteht dadurch, daß der Inhalt des erſten Theils des Syſtems als Theilungsprinzip auftritt: einfach ſchöne, erhabene, komiſche Phantaſie. Dieſe drei Arten theilen ſich wieder nach den verſchiedenen Stufeu der betreffenden Grundformen in Unterarten und es bilden ſich, wo die eine Art in die andere übergreift, dadurch neue Reihen; je reicher aber eine Phan- taſie, deſto mehr Stufen oder ſogar Grundformen wird ſie umfaſſen. Für die einfach ſchöne Phantaſie iſt es nur dann ſchwierig Bei- ſpiele zu finden, wenn man nicht erwägt, daß ſie, obwohl die einfache, die harmloſe Schönheit und milde Grazie ihr Standpunkt und Boden iſt,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/85>, abgerufen am 25.04.2024.