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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Formen das Erotische, so macht Göthe eine Liebesgeschichte zum Mittel-
punkte einer geschichtlichen Handlung im Götz und Egmont. Zugleich
kann aber dieselbe Phantasie, obwohl auf das einfach Schöne gestellt,
den Bildungsgang der Individualität mit Vorliebe zum Gegenstand ma-
chen und dieser geht vielfach ins Erhabene, sie wird ihn aber mit dem
Elemente schöner Sitte umgeben und zur schönen Rundung der Persönlich-
keit führen: wiederum Göthe. Schiller ist vorzüglich für das Erhabene
des Subjects und das Schicksal in der Geschichte organisirt, doch gelingt
ihm auch Volksleben und Culturform, aber mehr drastisch bewegte (Sol-
datenleben), als einfach schöne (ländliche -- im Tell), und auch im Roman,
also dem Gebiete des rein Menschlichen, wirft er sich auf den drastischen
Streit geschichtlicher Mächte (Geisterseher). Kaulbach ist für große geschicht-
liche Stoffe im Sinne des Erhabenen organisirt, aber ebenderselbe be-
handelt mit tiefer Komik die Thierwelt als Parodie der menschlichen, mit
ergreifender Charakteristik psychologisch erschütterndes Genre. Wir ent-
halten uns weiterer Griffe in ein Feld unendlicher Mischungsverhältnisse.

Je reicher nun eine Phantasie, desto mehr wird sie nicht nur Arten
und Unterarten des einfach Schönen, Erhabenen, Komischen, nicht nur
Arten und Unterarten der landschaftlichen, thierischen, menschlichen Phantasie
umfassen, sondern desto mehr wird sie auch fähig sein, erstens, einen Stoff
aus derselben Sphäre letzterer Art einfach schön, erhaben oder komisch
(wenn er dazu sich darbietet, denn das muß er und er kann es, wenn er
mannigfach verschlungen ist) anzuschauen; zweitens, mehrere Stoffe nach-
einander wechselnd unter den einen oder andern Standpunct zu bringen,
drittens, in einem Ganzen der Phantasie mit den Betrachtungsweisen zu
wechseln. Aristophanes verbindet wunderbar diese Stimmungen in An-
schauung des griechischen Lebens, reicher aber in der Fülle der Phantasie,
welche alle Lebensformen in wechselnder Tonleiter aller ästhetischen Grund-
formen (§. 402) durchläuft, ist keiner, als Shakespeare.

§. 404.

Das dritte Prinzip der Eintheilung liegt in den Momenten der Phan-
tasie selbst. Dieses begründet zwei Eintheilungsreihen: zuerst eine solche, wo
jedesmal die ganze und ungetheilte Phantasie vorausgesetzt ist, die sich aber
wesentlich auf den Standpunkt eines oder des andern ihrer Momente stellt,
und zwar entweder auf die Anschauung (§. 385) und Einbildungskraft (§. 387 ff.),
oder auf die Empfindung (§. 385) und Stimmung (§. 394), oder auf die eigent-
liche Phantasie (§. 392) als reine innere Formthätigkeit. So entsteht eine
bildende, eine empfindende, eine dichtende Phantasie. Die erste ist
unter den anschauenden Sinnen (§. 71) auf das Auge, und zwar entweder

Formen das Erotiſche, ſo macht Göthe eine Liebesgeſchichte zum Mittel-
punkte einer geſchichtlichen Handlung im Götz und Egmont. Zugleich
kann aber dieſelbe Phantaſie, obwohl auf das einfach Schöne geſtellt,
den Bildungsgang der Individualität mit Vorliebe zum Gegenſtand ma-
chen und dieſer geht vielfach ins Erhabene, ſie wird ihn aber mit dem
Elemente ſchöner Sitte umgeben und zur ſchönen Rundung der Perſönlich-
keit führen: wiederum Göthe. Schiller iſt vorzüglich für das Erhabene
des Subjects und das Schickſal in der Geſchichte organiſirt, doch gelingt
ihm auch Volksleben und Culturform, aber mehr draſtiſch bewegte (Sol-
datenleben), als einfach ſchöne (ländliche — im Tell), und auch im Roman,
alſo dem Gebiete des rein Menſchlichen, wirft er ſich auf den draſtiſchen
Streit geſchichtlicher Mächte (Geiſterſeher). Kaulbach iſt für große geſchicht-
liche Stoffe im Sinne des Erhabenen organiſirt, aber ebenderſelbe be-
handelt mit tiefer Komik die Thierwelt als Parodie der menſchlichen, mit
ergreifender Charakteriſtik pſychologiſch erſchütterndes Genre. Wir ent-
halten uns weiterer Griffe in ein Feld unendlicher Miſchungsverhältniſſe.

Je reicher nun eine Phantaſie, deſto mehr wird ſie nicht nur Arten
und Unterarten des einfach Schönen, Erhabenen, Komiſchen, nicht nur
Arten und Unterarten der landſchaftlichen, thieriſchen, menſchlichen Phantaſie
umfaſſen, ſondern deſto mehr wird ſie auch fähig ſein, erſtens, einen Stoff
aus derſelben Sphäre letzterer Art einfach ſchön, erhaben oder komiſch
(wenn er dazu ſich darbietet, denn das muß er und er kann es, wenn er
mannigfach verſchlungen iſt) anzuſchauen; zweitens, mehrere Stoffe nach-
einander wechſelnd unter den einen oder andern Standpunct zu bringen,
drittens, in einem Ganzen der Phantaſie mit den Betrachtungsweiſen zu
wechſeln. Ariſtophanes verbindet wunderbar dieſe Stimmungen in An-
ſchauung des griechiſchen Lebens, reicher aber in der Fülle der Phantaſie,
welche alle Lebensformen in wechſelnder Tonleiter aller äſthetiſchen Grund-
formen (§. 402) durchläuft, iſt keiner, als Shakespeare.

§. 404.

Das dritte Prinzip der Eintheilung liegt in den Momenten der Phan-
taſie ſelbſt. Dieſes begründet zwei Eintheilungsreihen: zuerſt eine ſolche, wo
jedesmal die ganze und ungetheilte Phantaſie vorausgeſetzt iſt, die ſich aber
weſentlich auf den Standpunkt eines oder des andern ihrer Momente ſtellt,
und zwar entweder auf die Anſchauung (§. 385) und Einbildungskraft (§. 387 ff.),
oder auf die Empfindung (§. 385) und Stimmung (§. 394), oder auf die eigent-
liche Phantaſie (§. 392) als reine innere Formthätigkeit. So entſteht eine
bildende, eine empfindende, eine dichtende Phantaſie. Die erſte iſt
unter den anſchauenden Sinnen (§. 71) auf das Auge, und zwar entweder

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[378/0092] Formen das Erotiſche, ſo macht Göthe eine Liebesgeſchichte zum Mittel- punkte einer geſchichtlichen Handlung im Götz und Egmont. Zugleich kann aber dieſelbe Phantaſie, obwohl auf das einfach Schöne geſtellt, den Bildungsgang der Individualität mit Vorliebe zum Gegenſtand ma- chen und dieſer geht vielfach ins Erhabene, ſie wird ihn aber mit dem Elemente ſchöner Sitte umgeben und zur ſchönen Rundung der Perſönlich- keit führen: wiederum Göthe. Schiller iſt vorzüglich für das Erhabene des Subjects und das Schickſal in der Geſchichte organiſirt, doch gelingt ihm auch Volksleben und Culturform, aber mehr draſtiſch bewegte (Sol- datenleben), als einfach ſchöne (ländliche — im Tell), und auch im Roman, alſo dem Gebiete des rein Menſchlichen, wirft er ſich auf den draſtiſchen Streit geſchichtlicher Mächte (Geiſterſeher). Kaulbach iſt für große geſchicht- liche Stoffe im Sinne des Erhabenen organiſirt, aber ebenderſelbe be- handelt mit tiefer Komik die Thierwelt als Parodie der menſchlichen, mit ergreifender Charakteriſtik pſychologiſch erſchütterndes Genre. Wir ent- halten uns weiterer Griffe in ein Feld unendlicher Miſchungsverhältniſſe. Je reicher nun eine Phantaſie, deſto mehr wird ſie nicht nur Arten und Unterarten des einfach Schönen, Erhabenen, Komiſchen, nicht nur Arten und Unterarten der landſchaftlichen, thieriſchen, menſchlichen Phantaſie umfaſſen, ſondern deſto mehr wird ſie auch fähig ſein, erſtens, einen Stoff aus derſelben Sphäre letzterer Art einfach ſchön, erhaben oder komiſch (wenn er dazu ſich darbietet, denn das muß er und er kann es, wenn er mannigfach verſchlungen iſt) anzuſchauen; zweitens, mehrere Stoffe nach- einander wechſelnd unter den einen oder andern Standpunct zu bringen, drittens, in einem Ganzen der Phantaſie mit den Betrachtungsweiſen zu wechſeln. Ariſtophanes verbindet wunderbar dieſe Stimmungen in An- ſchauung des griechiſchen Lebens, reicher aber in der Fülle der Phantaſie, welche alle Lebensformen in wechſelnder Tonleiter aller äſthetiſchen Grund- formen (§. 402) durchläuft, iſt keiner, als Shakespeare. §. 404. Das dritte Prinzip der Eintheilung liegt in den Momenten der Phan- taſie ſelbſt. Dieſes begründet zwei Eintheilungsreihen: zuerſt eine ſolche, wo jedesmal die ganze und ungetheilte Phantaſie vorausgeſetzt iſt, die ſich aber weſentlich auf den Standpunkt eines oder des andern ihrer Momente ſtellt, und zwar entweder auf die Anſchauung (§. 385) und Einbildungskraft (§. 387 ff.), oder auf die Empfindung (§. 385) und Stimmung (§. 394), oder auf die eigent- liche Phantaſie (§. 392) als reine innere Formthätigkeit. So entſteht eine bildende, eine empfindende, eine dichtende Phantaſie. Die erſte iſt unter den anſchauenden Sinnen (§. 71) auf das Auge, und zwar entweder

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/92>, abgerufen am 28.03.2024.