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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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§. 27, 3.). Dadurch theilt sie sich sogleich in zwei große Abschnitte, die Epoche
der religiös bestimmten und der weltlich freien Phantasie.

Man könnte gegen das, was der vorh. §. aufstellt, sagen, die Be-
freiung der Phantasie zur reinen Anschauung und Umbildung der ursprüng-
lichen Stoffwelt sei nicht eine Lösung von der Religion, sondern eine
Förderung durch die wahre Religion; schon die Reformation, die doch
eine Verjüngung der Religion gewesen sei, habe der Phantasie ihre
eigentlichen Stoffe ohne Rückhalt freigegeben. So sagt Göthe von Shakes-
peare, er habe den Vortheil genossen, in einem protestantischen Lande
wirken zu dürfen, wo der bigotte Wahn eine Zeit lang schwieg, so daß
"einem wahren Naturfrommen", wie ihm, die Freiheit blieb, sein reines
Inneres ohne Bezug auf irgend eine bestimmte Religion religiös zu ent-
wickeln. Allein wenn Shakespeare für das Positive im Protestantismus
irgend ein spezifisch religiöses Interesse gehabt und in seine Werke gelegt
hätte, so sähe es mit diesen ganz anders aus. Nennt Göthe und nen-
nen mit ihm Viele die Phantasie, welche rein von der Anschauung der
ursprünglichen Stoffwelt ausgeht und ohne alle Dazwischenkunft des Bil-
des, womit ihr die Religion zuvorkommt, sie umschafft, religiös, so kann
dieß zu einer Untersuchung führen, die vielleicht ein Wortstreit scheint,
in Wahrheit aber zu der Frage auffordert, ob es eine Religion ohne
das Hinüberzeichnen (§. 61) geben könne. Darauf aber kann es keine
Antwort geben als die, daß die Zukunft es lehren müsse. Bis dahin
nennen wir die weltlich freie Phantasie ausdrücklich die nicht religiöse,
und enthalten uns auch, sie die protestantische zu nennen. Die zwei Ab-
schnitte, die der §. aufstellt, werden sich aber nun näher bestimmen und
einer weiteren Gliederung Platz machen.

§. 421.

Die allgemeine Phantasie ist näher die Phantasie eines Volks in der Be-
wegung seines geschichtlichen Lebens. Würde die zweite Stoffwelt nicht da-
zwischen treten, so wäre die Geschichte des Ideals nichts Anderes, als die
Geschichte der Phantasie, wie sie sich in den Volksgeistern und ihren Epochen
(§. 341--378) bestimmen muß, und dieser Bestimmtheit gemäß eben die
Stoffe auffaßt, welche jedem derselben sein Gesichtskreis zeigt. So aber theilt
sich die Phantasie vor der Auflösung jenes Bundes in Ideale, welche durch
verschiedene Religionsformen bestimmt sind, und erst nach derselben ist ein
Ideal möglich, worin die Volksgeister nach den Bildungsstufen ihrer Zeit un-
mittelbar sich und ihre ursprüngliche Stoffwelt niederlegen.


§. 27, 3.). Dadurch theilt ſie ſich ſogleich in zwei große Abſchnitte, die Epoche
der religiös beſtimmten und der weltlich freien Phantaſie.

Man könnte gegen das, was der vorh. §. aufſtellt, ſagen, die Be-
freiung der Phantaſie zur reinen Anſchauung und Umbildung der urſprüng-
lichen Stoffwelt ſei nicht eine Löſung von der Religion, ſondern eine
Förderung durch die wahre Religion; ſchon die Reformation, die doch
eine Verjüngung der Religion geweſen ſei, habe der Phantaſie ihre
eigentlichen Stoffe ohne Rückhalt freigegeben. So ſagt Göthe von Shakes-
peare, er habe den Vortheil genoſſen, in einem proteſtantiſchen Lande
wirken zu dürfen, wo der bigotte Wahn eine Zeit lang ſchwieg, ſo daß
„einem wahren Naturfrommen“, wie ihm, die Freiheit blieb, ſein reines
Inneres ohne Bezug auf irgend eine beſtimmte Religion religiös zu ent-
wickeln. Allein wenn Shakespeare für das Poſitive im Proteſtantismus
irgend ein ſpezifiſch religiöſes Intereſſe gehabt und in ſeine Werke gelegt
hätte, ſo ſähe es mit dieſen ganz anders aus. Nennt Göthe und nen-
nen mit ihm Viele die Phantaſie, welche rein von der Anſchauung der
urſprünglichen Stoffwelt ausgeht und ohne alle Dazwiſchenkunft des Bil-
des, womit ihr die Religion zuvorkommt, ſie umſchafft, religiös, ſo kann
dieß zu einer Unterſuchung führen, die vielleicht ein Wortſtreit ſcheint,
in Wahrheit aber zu der Frage auffordert, ob es eine Religion ohne
das Hinüberzeichnen (§. 61) geben könne. Darauf aber kann es keine
Antwort geben als die, daß die Zukunft es lehren müſſe. Bis dahin
nennen wir die weltlich freie Phantaſie ausdrücklich die nicht religiöſe,
und enthalten uns auch, ſie die proteſtantiſche zu nennen. Die zwei Ab-
ſchnitte, die der §. aufſtellt, werden ſich aber nun näher beſtimmen und
einer weiteren Gliederung Platz machen.

§. 421.

Die allgemeine Phantaſie iſt näher die Phantaſie eines Volks in der Be-
wegung ſeines geſchichtlichen Lebens. Würde die zweite Stoffwelt nicht da-
zwiſchen treten, ſo wäre die Geſchichte des Ideals nichts Anderes, als die
Geſchichte der Phantaſie, wie ſie ſich in den Volksgeiſtern und ihren Epochen
(§. 341—378) beſtimmen muß, und dieſer Beſtimmtheit gemäß eben die
Stoffe auffaßt, welche jedem derſelben ſein Geſichtskreis zeigt. So aber theilt
ſich die Phantaſie vor der Auflöſung jenes Bundes in Ideale, welche durch
verſchiedene Religionsformen beſtimmt ſind, und erſt nach derſelben iſt ein
Ideal möglich, worin die Volksgeiſter nach den Bildungsſtufen ihrer Zeit un-
mittelbar ſich und ihre urſprüngliche Stoffwelt niederlegen.


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[408/0122] §. 27, 3.). Dadurch theilt ſie ſich ſogleich in zwei große Abſchnitte, die Epoche der religiös beſtimmten und der weltlich freien Phantaſie. Man könnte gegen das, was der vorh. §. aufſtellt, ſagen, die Be- freiung der Phantaſie zur reinen Anſchauung und Umbildung der urſprüng- lichen Stoffwelt ſei nicht eine Löſung von der Religion, ſondern eine Förderung durch die wahre Religion; ſchon die Reformation, die doch eine Verjüngung der Religion geweſen ſei, habe der Phantaſie ihre eigentlichen Stoffe ohne Rückhalt freigegeben. So ſagt Göthe von Shakes- peare, er habe den Vortheil genoſſen, in einem proteſtantiſchen Lande wirken zu dürfen, wo der bigotte Wahn eine Zeit lang ſchwieg, ſo daß „einem wahren Naturfrommen“, wie ihm, die Freiheit blieb, ſein reines Inneres ohne Bezug auf irgend eine beſtimmte Religion religiös zu ent- wickeln. Allein wenn Shakespeare für das Poſitive im Proteſtantismus irgend ein ſpezifiſch religiöſes Intereſſe gehabt und in ſeine Werke gelegt hätte, ſo ſähe es mit dieſen ganz anders aus. Nennt Göthe und nen- nen mit ihm Viele die Phantaſie, welche rein von der Anſchauung der urſprünglichen Stoffwelt ausgeht und ohne alle Dazwiſchenkunft des Bil- des, womit ihr die Religion zuvorkommt, ſie umſchafft, religiös, ſo kann dieß zu einer Unterſuchung führen, die vielleicht ein Wortſtreit ſcheint, in Wahrheit aber zu der Frage auffordert, ob es eine Religion ohne das Hinüberzeichnen (§. 61) geben könne. Darauf aber kann es keine Antwort geben als die, daß die Zukunft es lehren müſſe. Bis dahin nennen wir die weltlich freie Phantaſie ausdrücklich die nicht religiöſe, und enthalten uns auch, ſie die proteſtantiſche zu nennen. Die zwei Ab- ſchnitte, die der §. aufſtellt, werden ſich aber nun näher beſtimmen und einer weiteren Gliederung Platz machen. §. 421. Die allgemeine Phantaſie iſt näher die Phantaſie eines Volks in der Be- wegung ſeines geſchichtlichen Lebens. Würde die zweite Stoffwelt nicht da- zwiſchen treten, ſo wäre die Geſchichte des Ideals nichts Anderes, als die Geſchichte der Phantaſie, wie ſie ſich in den Volksgeiſtern und ihren Epochen (§. 341—378) beſtimmen muß, und dieſer Beſtimmtheit gemäß eben die Stoffe auffaßt, welche jedem derſelben ſein Geſichtskreis zeigt. So aber theilt ſich die Phantaſie vor der Auflöſung jenes Bundes in Ideale, welche durch verſchiedene Religionsformen beſtimmt ſind, und erſt nach derſelben iſt ein Ideal möglich, worin die Volksgeiſter nach den Bildungsſtufen ihrer Zeit un- mittelbar ſich und ihre urſprüngliche Stoffwelt niederlegen.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/122>, abgerufen am 25.04.2024.