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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Wir hätten also nach Obigem zwei große Hauptperioden bekommen,
die erste vor, die zweite nach dem Ende des Mittelalters. Die erste
würde sich von der zweiten dadurch unterscheiden, daß ihre einzelnen Ab-
schnitte nach den Religionen der Völker, nicht unmittelbar nach dem Cha-
rakter und der Geschichte derselben, sich bestimmen und nennen müßten;
statt orientalisch: symbolisch, statt griechisch: mythisch, statt mittelalterlich:
christlich phantastisch; die zweite dagegen darf nur das, was über die
Völker und Zeiten gesagt ist, wieder auffassen, und sagen: weil diese so
waren, mußte ihre Phantasie auch so sein. Wirklich ist der Weg dort
ungleich weitläufiger; da darf man nicht einfach sagen z. B.: wie die
Völker des Mittelalters innerlich, dualistisch, winterlich u. s. w. waren,
so muß also auch ihre Phantasie dem entsprechend beschaffen gewesen sein,
sondern man muß das Mittelalter als die mystische und phantastische
Form des Christenthums bezeichnen, man muß den religiösen Kreis seiner
Phantasie darstellen. Hier dagegen, in der Darstellung des modernen
Ideals, kann man sich zwar mit der Frage beschäftigen, ob und wie die
Phantasie sich noch an veraltete religiöse Kreise wenden könne, etwa so,
daß sie moderne Ideen darin niederlege, z. B. communistische in eine Er-
zählung des N. T., moralische, politische in die alten Götter? aber solche
Fragen enthalten im Zweifel schon ihre Verneinung; diese Zeit hat einmal
keinen selbsterzeugten religiösen Gehalt mehr und ihr Ideal ist einfach als
Summe ihrer allgemeinen Bildungszustände zu fassen. -- Uebrigens ver-
steht sich, daß die Phantasie der Völker, sei sie nun religiös bestimmt
oder weltlich frei, nicht blos die Stoffe ihrer eigenen Geschichte und Na-
tur verarbeitet. Auch verhältnißmäßig abgeschlossene Völker treten, na-
mentlich durch den Krieg, mit fremden in Verbindung, mehr und mehr
erweitert sich bei den gebildeten der Gesichtskreis über die ganze Erde
und die Geschichte ihrer Bewohner. Zum Ideal eines Volks und einer
Zeit gehört also auch die Weise und der Umfang der Anschauung des
Fremden. Daher heißt es im §.: "die Stoffe, welche jedem derselben
sein Gesichtskreis zeigt."

§. 422.

Die religiös bestimmte Phantasie theilt sich jedoch wieder in zwei gänzlich
entgegengesetzte Hauptformen, deren zweite gerade darauf begründet ist, daß sie
nur durch einen Widerspruch die neue Weltanschauung, die ihr aufgegangen,
abermals zu einer zweiten Stoffwelt verdichtet. Dieser Gegensatz ist entscheidend
genug, um vielmehr drei große Abschnitte aufzustellen, und so ordnet denn die
Wissenschaft, da sie überhaupt das Unfreie im Scheine und als Grund der Re-
ligionen den Charakter der Völker und Zeiten erkennt, die Geschichte des

Wir hätten alſo nach Obigem zwei große Hauptperioden bekommen,
die erſte vor, die zweite nach dem Ende des Mittelalters. Die erſte
würde ſich von der zweiten dadurch unterſcheiden, daß ihre einzelnen Ab-
ſchnitte nach den Religionen der Völker, nicht unmittelbar nach dem Cha-
rakter und der Geſchichte derſelben, ſich beſtimmen und nennen müßten;
ſtatt orientaliſch: ſymboliſch, ſtatt griechiſch: mythiſch, ſtatt mittelalterlich:
chriſtlich phantaſtiſch; die zweite dagegen darf nur das, was über die
Völker und Zeiten geſagt iſt, wieder auffaſſen, und ſagen: weil dieſe ſo
waren, mußte ihre Phantaſie auch ſo ſein. Wirklich iſt der Weg dort
ungleich weitläufiger; da darf man nicht einfach ſagen z. B.: wie die
Völker des Mittelalters innerlich, dualiſtiſch, winterlich u. ſ. w. waren,
ſo muß alſo auch ihre Phantaſie dem entſprechend beſchaffen geweſen ſein,
ſondern man muß das Mittelalter als die myſtiſche und phantaſtiſche
Form des Chriſtenthums bezeichnen, man muß den religiöſen Kreis ſeiner
Phantaſie darſtellen. Hier dagegen, in der Darſtellung des modernen
Ideals, kann man ſich zwar mit der Frage beſchäftigen, ob und wie die
Phantaſie ſich noch an veraltete religiöſe Kreiſe wenden könne, etwa ſo,
daß ſie moderne Ideen darin niederlege, z. B. communiſtiſche in eine Er-
zählung des N. T., moraliſche, politiſche in die alten Götter? aber ſolche
Fragen enthalten im Zweifel ſchon ihre Verneinung; dieſe Zeit hat einmal
keinen ſelbſterzeugten religiöſen Gehalt mehr und ihr Ideal iſt einfach als
Summe ihrer allgemeinen Bildungszuſtände zu faſſen. — Uebrigens ver-
ſteht ſich, daß die Phantaſie der Völker, ſei ſie nun religiös beſtimmt
oder weltlich frei, nicht blos die Stoffe ihrer eigenen Geſchichte und Na-
tur verarbeitet. Auch verhältnißmäßig abgeſchloſſene Völker treten, na-
mentlich durch den Krieg, mit fremden in Verbindung, mehr und mehr
erweitert ſich bei den gebildeten der Geſichtskreis über die ganze Erde
und die Geſchichte ihrer Bewohner. Zum Ideal eines Volks und einer
Zeit gehört alſo auch die Weiſe und der Umfang der Anſchauung des
Fremden. Daher heißt es im §.: „die Stoffe, welche jedem derſelben
ſein Geſichtskreis zeigt.“

§. 422.

Die religiös beſtimmte Phantaſie theilt ſich jedoch wieder in zwei gänzlich
entgegengeſetzte Hauptformen, deren zweite gerade darauf begründet iſt, daß ſie
nur durch einen Widerſpruch die neue Weltanſchauung, die ihr aufgegangen,
abermals zu einer zweiten Stoffwelt verdichtet. Dieſer Gegenſatz iſt entſcheidend
genug, um vielmehr drei große Abſchnitte aufzuſtellen, und ſo ordnet denn die
Wiſſenſchaft, da ſie überhaupt das Unfreie im Scheine und als Grund der Re-
ligionen den Charakter der Völker und Zeiten erkennt, die Geſchichte des

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[409/0123] Wir hätten alſo nach Obigem zwei große Hauptperioden bekommen, die erſte vor, die zweite nach dem Ende des Mittelalters. Die erſte würde ſich von der zweiten dadurch unterſcheiden, daß ihre einzelnen Ab- ſchnitte nach den Religionen der Völker, nicht unmittelbar nach dem Cha- rakter und der Geſchichte derſelben, ſich beſtimmen und nennen müßten; ſtatt orientaliſch: ſymboliſch, ſtatt griechiſch: mythiſch, ſtatt mittelalterlich: chriſtlich phantaſtiſch; die zweite dagegen darf nur das, was über die Völker und Zeiten geſagt iſt, wieder auffaſſen, und ſagen: weil dieſe ſo waren, mußte ihre Phantaſie auch ſo ſein. Wirklich iſt der Weg dort ungleich weitläufiger; da darf man nicht einfach ſagen z. B.: wie die Völker des Mittelalters innerlich, dualiſtiſch, winterlich u. ſ. w. waren, ſo muß alſo auch ihre Phantaſie dem entſprechend beſchaffen geweſen ſein, ſondern man muß das Mittelalter als die myſtiſche und phantaſtiſche Form des Chriſtenthums bezeichnen, man muß den religiöſen Kreis ſeiner Phantaſie darſtellen. Hier dagegen, in der Darſtellung des modernen Ideals, kann man ſich zwar mit der Frage beſchäftigen, ob und wie die Phantaſie ſich noch an veraltete religiöſe Kreiſe wenden könne, etwa ſo, daß ſie moderne Ideen darin niederlege, z. B. communiſtiſche in eine Er- zählung des N. T., moraliſche, politiſche in die alten Götter? aber ſolche Fragen enthalten im Zweifel ſchon ihre Verneinung; dieſe Zeit hat einmal keinen ſelbſterzeugten religiöſen Gehalt mehr und ihr Ideal iſt einfach als Summe ihrer allgemeinen Bildungszuſtände zu faſſen. — Uebrigens ver- ſteht ſich, daß die Phantaſie der Völker, ſei ſie nun religiös beſtimmt oder weltlich frei, nicht blos die Stoffe ihrer eigenen Geſchichte und Na- tur verarbeitet. Auch verhältnißmäßig abgeſchloſſene Völker treten, na- mentlich durch den Krieg, mit fremden in Verbindung, mehr und mehr erweitert ſich bei den gebildeten der Geſichtskreis über die ganze Erde und die Geſchichte ihrer Bewohner. Zum Ideal eines Volks und einer Zeit gehört alſo auch die Weiſe und der Umfang der Anſchauung des Fremden. Daher heißt es im §.: „die Stoffe, welche jedem derſelben ſein Geſichtskreis zeigt.“ §. 422. Die religiös beſtimmte Phantaſie theilt ſich jedoch wieder in zwei gänzlich entgegengeſetzte Hauptformen, deren zweite gerade darauf begründet iſt, daß ſie nur durch einen Widerſpruch die neue Weltanſchauung, die ihr aufgegangen, abermals zu einer zweiten Stoffwelt verdichtet. Dieſer Gegenſatz iſt entſcheidend genug, um vielmehr drei große Abſchnitte aufzuſtellen, und ſo ordnet denn die Wiſſenſchaft, da ſie überhaupt das Unfreie im Scheine und als Grund der Re- ligionen den Charakter der Völker und Zeiten erkennt, die Geſchichte des

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/123>, abgerufen am 29.03.2024.