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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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nes Stück Landschaft, ein trauliches Thal, ein stiller See gibt den Hin-
tergrund zu einer Gruppe heiliger Personen, man sieht deutlich, dieser
Sinn ist erschlossen. Die Naturgeister, welche die Romantik aus dem
Heidenthum stehen ließ, können in ihrer geisterhaften Unbestimmtheit nicht
so ganz das Naturleben in sich herübernehmen und vertreten, wie bei
den Alten; Gott, die Engel, Teufel, haben es ebenfalls zu sehr mit dem
menschlichen Leben zu thun, als daß die Natur nicht neben ihnen freige-
lassen da stünde. Das Mythische hindert also den Blick weniger, als im
Alterthum; dazu kommt die veränderte Natur desselben, wie sie zum vor-
hergehenden §. Anm. 1 dargestellt ist. Ein Odem geht von den göttlichen
Gestalten aus und weht heimlich, träumerisch durch die Lüfte, durch Berg
und Thal, Wasser und Busch. Dennoch kann das eigentliche Mittelalter die
Landschaft noch nicht zur selbständigen Schönheit ausbilden, weil alles
Interesse mit religiöser Ausschließlichkeit auf das ewige Heil der menschli-
chen Seele geht; sie kann nur eine schmale Perspective zur menschlichen
Erscheinung bilden. Aehnlich verhält es sich mit dem thierischen Leben.
Das Thier wird gemüthvoll hineingezogen in das neue Leben der Liebe,
es ist, als dürfe an der Kindschaft Gottes, an der Erlösung auch die
seufzende Creatur Theil nehmen; dadurch eben ist aber der Blick von die-
ser Lebensform als einer selbständigen abgezogen, es ist ganz wenig Sinn
für die Bestimmtheit seiner Gestalt vorhanden, es gilt nur in dieser
Hinüberziehung auf das Himmelreich. Das Mittelalter ist in Darstellung
von Thieren äußerst schwach, während selbst die unreife orientalische Phan-
tasie im Alterthum es darin schon weit brachte; auch ein Raphael hat noch
wenig thierischen Formsinn und macht schlechtere Pferde, als selbst die
alterthümlich hart gezeichneten in den alten etrurischen Gräbern, an denen
doch selbst die schwierigen Theile des Fußes: Köthe, Fessel, Krone, Huf,
schon mit einem Verständniß gegeben sind, welches zeigt, wie viel Sinn
für diese edle, ihrem eigenen Charakter so verwandte Thiergattung die
alten Völker hatten.

§. 452.

Aufgeschlossen sind also die innern Schätze des subjectiven Lebens mit
der Einschränkung auf die letzten und tiefsten Interessen, mit Ausschluß also
eines organischen öffentlichen Lebens. Ueberall bildet der innere Vorgang den
eigentlichen Gehalt des Schönen, im Sinn einer Seelengeschichte wird sein Reich
durchmessen und vorzüglich jene stillen Kreise werden gesucht, in welchen der
Wechseltausch der Liebe sich entfaltet. Jetzt erst hat aber auch die Individua-
lität ihre unendliche Geltung erhalten, sie ist in ihrer auf sich gestellten Eigen-
heit die Form Gottes, ist eine Welt.


nes Stück Landſchaft, ein trauliches Thal, ein ſtiller See gibt den Hin-
tergrund zu einer Gruppe heiliger Perſonen, man ſieht deutlich, dieſer
Sinn iſt erſchloſſen. Die Naturgeiſter, welche die Romantik aus dem
Heidenthum ſtehen ließ, können in ihrer geiſterhaften Unbeſtimmtheit nicht
ſo ganz das Naturleben in ſich herübernehmen und vertreten, wie bei
den Alten; Gott, die Engel, Teufel, haben es ebenfalls zu ſehr mit dem
menſchlichen Leben zu thun, als daß die Natur nicht neben ihnen freige-
laſſen da ſtünde. Das Mythiſche hindert alſo den Blick weniger, als im
Alterthum; dazu kommt die veränderte Natur deſſelben, wie ſie zum vor-
hergehenden §. Anm. 1 dargeſtellt iſt. Ein Odem geht von den göttlichen
Geſtalten aus und weht heimlich, träumeriſch durch die Lüfte, durch Berg
und Thal, Waſſer und Buſch. Dennoch kann das eigentliche Mittelalter die
Landſchaft noch nicht zur ſelbſtändigen Schönheit ausbilden, weil alles
Intereſſe mit religiöſer Ausſchließlichkeit auf das ewige Heil der menſchli-
chen Seele geht; ſie kann nur eine ſchmale Perſpective zur menſchlichen
Erſcheinung bilden. Aehnlich verhält es ſich mit dem thieriſchen Leben.
Das Thier wird gemüthvoll hineingezogen in das neue Leben der Liebe,
es iſt, als dürfe an der Kindſchaft Gottes, an der Erlöſung auch die
ſeufzende Creatur Theil nehmen; dadurch eben iſt aber der Blick von die-
ſer Lebensform als einer ſelbſtändigen abgezogen, es iſt ganz wenig Sinn
für die Beſtimmtheit ſeiner Geſtalt vorhanden, es gilt nur in dieſer
Hinüberziehung auf das Himmelreich. Das Mittelalter iſt in Darſtellung
von Thieren äußerſt ſchwach, während ſelbſt die unreife orientaliſche Phan-
taſie im Alterthum es darin ſchon weit brachte; auch ein Raphael hat noch
wenig thieriſchen Formſinn und macht ſchlechtere Pferde, als ſelbſt die
alterthümlich hart gezeichneten in den alten etruriſchen Gräbern, an denen
doch ſelbſt die ſchwierigen Theile des Fußes: Köthe, Feſſel, Krone, Huf,
ſchon mit einem Verſtändniß gegeben ſind, welches zeigt, wie viel Sinn
für dieſe edle, ihrem eigenen Charakter ſo verwandte Thiergattung die
alten Völker hatten.

§. 452.

Aufgeſchloſſen ſind alſo die innern Schätze des ſubjectiven Lebens mit
der Einſchränkung auf die letzten und tiefſten Intereſſen, mit Ausſchluß alſo
eines organiſchen öffentlichen Lebens. Ueberall bildet der innere Vorgang den
eigentlichen Gehalt des Schönen, im Sinn einer Seelengeſchichte wird ſein Reich
durchmeſſen und vorzüglich jene ſtillen Kreiſe werden geſucht, in welchen der
Wechſeltauſch der Liebe ſich entfaltet. Jetzt erſt hat aber auch die Individua-
lität ihre unendliche Geltung erhalten, ſie iſt in ihrer auf ſich geſtellten Eigen-
heit die Form Gottes, iſt eine Welt.


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[480/0194] nes Stück Landſchaft, ein trauliches Thal, ein ſtiller See gibt den Hin- tergrund zu einer Gruppe heiliger Perſonen, man ſieht deutlich, dieſer Sinn iſt erſchloſſen. Die Naturgeiſter, welche die Romantik aus dem Heidenthum ſtehen ließ, können in ihrer geiſterhaften Unbeſtimmtheit nicht ſo ganz das Naturleben in ſich herübernehmen und vertreten, wie bei den Alten; Gott, die Engel, Teufel, haben es ebenfalls zu ſehr mit dem menſchlichen Leben zu thun, als daß die Natur nicht neben ihnen freige- laſſen da ſtünde. Das Mythiſche hindert alſo den Blick weniger, als im Alterthum; dazu kommt die veränderte Natur deſſelben, wie ſie zum vor- hergehenden §. Anm. 1 dargeſtellt iſt. Ein Odem geht von den göttlichen Geſtalten aus und weht heimlich, träumeriſch durch die Lüfte, durch Berg und Thal, Waſſer und Buſch. Dennoch kann das eigentliche Mittelalter die Landſchaft noch nicht zur ſelbſtändigen Schönheit ausbilden, weil alles Intereſſe mit religiöſer Ausſchließlichkeit auf das ewige Heil der menſchli- chen Seele geht; ſie kann nur eine ſchmale Perſpective zur menſchlichen Erſcheinung bilden. Aehnlich verhält es ſich mit dem thieriſchen Leben. Das Thier wird gemüthvoll hineingezogen in das neue Leben der Liebe, es iſt, als dürfe an der Kindſchaft Gottes, an der Erlöſung auch die ſeufzende Creatur Theil nehmen; dadurch eben iſt aber der Blick von die- ſer Lebensform als einer ſelbſtändigen abgezogen, es iſt ganz wenig Sinn für die Beſtimmtheit ſeiner Geſtalt vorhanden, es gilt nur in dieſer Hinüberziehung auf das Himmelreich. Das Mittelalter iſt in Darſtellung von Thieren äußerſt ſchwach, während ſelbſt die unreife orientaliſche Phan- taſie im Alterthum es darin ſchon weit brachte; auch ein Raphael hat noch wenig thieriſchen Formſinn und macht ſchlechtere Pferde, als ſelbſt die alterthümlich hart gezeichneten in den alten etruriſchen Gräbern, an denen doch ſelbſt die ſchwierigen Theile des Fußes: Köthe, Feſſel, Krone, Huf, ſchon mit einem Verſtändniß gegeben ſind, welches zeigt, wie viel Sinn für dieſe edle, ihrem eigenen Charakter ſo verwandte Thiergattung die alten Völker hatten. §. 452. Aufgeſchloſſen ſind alſo die innern Schätze des ſubjectiven Lebens mit der Einſchränkung auf die letzten und tiefſten Intereſſen, mit Ausſchluß alſo eines organiſchen öffentlichen Lebens. Ueberall bildet der innere Vorgang den eigentlichen Gehalt des Schönen, im Sinn einer Seelengeſchichte wird ſein Reich durchmeſſen und vorzüglich jene ſtillen Kreiſe werden geſucht, in welchen der Wechſeltauſch der Liebe ſich entfaltet. Jetzt erſt hat aber auch die Individua- lität ihre unendliche Geltung erhalten, ſie iſt in ihrer auf ſich geſtellten Eigen- heit die Form Gottes, iſt eine Welt.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 480. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/194>, abgerufen am 18.04.2024.