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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Gervinus hat von dieser Seite Recht, wenn er zeigt, wie gewissenlos es
in dieser Nebel- und Zauberwelt hergeht. Doch faßt sich die bodenlose
Masse dieser Sagen im Mysterium des h. Gral zu einem blendenden mysti-
schen Gipfel zusammen und schließt sich äußerlich und innerlich in einer
Verklärung ab, deren Schönheit freilich nicht in dem Stücke grünen Gla-
ses zu suchen ist, das kindisch zu einem Unendlichen erhoben wird, sondern
in dem tiefen Drange des ahnenden, seine eigene Wunderschätze außer-
halb seiner sich vorspiegelnden Gemüthes.

§. 463.

1

Die romanischen Völker bewahren in der Ausbildung dieses Ideals be-
stimmter die Erbschaft der objectiven Phantasie, gehen nicht zu dem tiefen Bruche
zwischen Gehalt und Erscheinung fort, verfallen aber auch zum Theile in die
2Fehler der Einbildungskraft §. 406, 2. Der deutsche Geist dagegen vertieft bei
eckiger Form und schwerer Härte der Individualität die massenhaften Stoffe
zu subjectiver Einheit und verklärter Innerlichkeit, geräth aber leichter in die
§. 406, 3, 4. genannten Fehler und in eine ungelöste Nebeneinanderstellung
idealen Ausdrucks und ängstlicher Naturnachahmung in der Form. Am rein-
3sten bildet er die Empfindung der Phantasie des messenden Sehens ein. In
allen andern Arten der Phantasie aber bleibt überall ein Rest typischer Ge-
bundenheit.

1. Die Baukunst, Malerei, Poesie der romanischen Völker wird uns
überall zeigen, daß sie sinnlicher, realistischer, objectiver bleiben, als die
Deutschen. Die Italiener, vorzüglich im Malerischen bedeutend, bleiben
bei aller innigen Süßigkeit des Ausdrucks geschmeidig, anmuthsvoll im
Formsinn, die Franzosen, mehr in der dichtenden Phantasie thätig, zeigen
in zwei verschiedenen Richtungen den objectiveren Sinn: in der empfin-
dend dichtenden erscheint der südfranzösische Geist ungleich sinnlicher, leiden-
schaftlicher, als der deutsche, in der bildend dichtenden der nordfranzösische
massenhaft in überfruchtbarer Aufzählung unendlicher Begebenheiten. Der
Spanier ist im Bauen und Dichten glänzend, feierlich, glühend und sehn-
suchtsvoll, man sieht den maurischen Einfluß. Die Sage vom Cid gehört
in ihrem Ursprung nach der ältern, mehr germanischen (gothischen), he-
roisch einfacheren Zeit an. Die germano-romanischen Engländer stehen
unter dem Einfluße der keltischen Britten und des Normannischen, dort
also des Nebelhaften, hier dessen, was wir so eben als nordfranzösisch
bezeichnet haben. Wie hier überall die Fehler der Einbildungskraft nahe
liegen, braucht keines Nachweises.

2. Man darf nur Wolframs von Eschenbach Parzipal mit den
französischen Epen desselben Inhalts vergleichen, so sieht man, wie der

Gervinus hat von dieſer Seite Recht, wenn er zeigt, wie gewiſſenlos es
in dieſer Nebel- und Zauberwelt hergeht. Doch faßt ſich die bodenloſe
Maſſe dieſer Sagen im Myſterium des h. Gral zu einem blendenden myſti-
ſchen Gipfel zuſammen und ſchließt ſich äußerlich und innerlich in einer
Verklärung ab, deren Schönheit freilich nicht in dem Stücke grünen Gla-
ſes zu ſuchen iſt, das kindiſch zu einem Unendlichen erhoben wird, ſondern
in dem tiefen Drange des ahnenden, ſeine eigene Wunderſchätze außer-
halb ſeiner ſich vorſpiegelnden Gemüthes.

§. 463.

1

Die romaniſchen Völker bewahren in der Ausbildung dieſes Ideals be-
ſtimmter die Erbſchaft der objectiven Phantaſie, gehen nicht zu dem tiefen Bruche
zwiſchen Gehalt und Erſcheinung fort, verfallen aber auch zum Theile in die
2Fehler der Einbildungskraft §. 406, 2. Der deutſche Geiſt dagegen vertieft bei
eckiger Form und ſchwerer Härte der Individualität die maſſenhaften Stoffe
zu ſubjectiver Einheit und verklärter Innerlichkeit, geräth aber leichter in die
§. 406, 3, 4. genannten Fehler und in eine ungelöste Nebeneinanderſtellung
idealen Ausdrucks und ängſtlicher Naturnachahmung in der Form. Am rein-
3ſten bildet er die Empfindung der Phantaſie des meſſenden Sehens ein. In
allen andern Arten der Phantaſie aber bleibt überall ein Reſt typiſcher Ge-
bundenheit.

1. Die Baukunſt, Malerei, Poeſie der romaniſchen Völker wird uns
überall zeigen, daß ſie ſinnlicher, realiſtiſcher, objectiver bleiben, als die
Deutſchen. Die Italiener, vorzüglich im Maleriſchen bedeutend, bleiben
bei aller innigen Süßigkeit des Ausdrucks geſchmeidig, anmuthsvoll im
Formſinn, die Franzoſen, mehr in der dichtenden Phantaſie thätig, zeigen
in zwei verſchiedenen Richtungen den objectiveren Sinn: in der empfin-
dend dichtenden erſcheint der ſüdfranzöſiſche Geiſt ungleich ſinnlicher, leiden-
ſchaftlicher, als der deutſche, in der bildend dichtenden der nordfranzöſiſche
maſſenhaft in überfruchtbarer Aufzählung unendlicher Begebenheiten. Der
Spanier iſt im Bauen und Dichten glänzend, feierlich, glühend und ſehn-
ſuchtsvoll, man ſieht den mauriſchen Einfluß. Die Sage vom Cid gehört
in ihrem Urſprung nach der ältern, mehr germaniſchen (gothiſchen), he-
roiſch einfacheren Zeit an. Die germano-romaniſchen Engländer ſtehen
unter dem Einfluße der keltiſchen Britten und des Normanniſchen, dort
alſo des Nebelhaften, hier deſſen, was wir ſo eben als nordfranzöſiſch
bezeichnet haben. Wie hier überall die Fehler der Einbildungskraft nahe
liegen, braucht keines Nachweiſes.

2. Man darf nur Wolframs von Eſchenbach Parzipal mit den
franzöſiſchen Epen deſſelben Inhalts vergleichen, ſo ſieht man, wie der

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[496/0210] Gervinus hat von dieſer Seite Recht, wenn er zeigt, wie gewiſſenlos es in dieſer Nebel- und Zauberwelt hergeht. Doch faßt ſich die bodenloſe Maſſe dieſer Sagen im Myſterium des h. Gral zu einem blendenden myſti- ſchen Gipfel zuſammen und ſchließt ſich äußerlich und innerlich in einer Verklärung ab, deren Schönheit freilich nicht in dem Stücke grünen Gla- ſes zu ſuchen iſt, das kindiſch zu einem Unendlichen erhoben wird, ſondern in dem tiefen Drange des ahnenden, ſeine eigene Wunderſchätze außer- halb ſeiner ſich vorſpiegelnden Gemüthes. §. 463. Die romaniſchen Völker bewahren in der Ausbildung dieſes Ideals be- ſtimmter die Erbſchaft der objectiven Phantaſie, gehen nicht zu dem tiefen Bruche zwiſchen Gehalt und Erſcheinung fort, verfallen aber auch zum Theile in die Fehler der Einbildungskraft §. 406, 2. Der deutſche Geiſt dagegen vertieft bei eckiger Form und ſchwerer Härte der Individualität die maſſenhaften Stoffe zu ſubjectiver Einheit und verklärter Innerlichkeit, geräth aber leichter in die §. 406, 3, 4. genannten Fehler und in eine ungelöste Nebeneinanderſtellung idealen Ausdrucks und ängſtlicher Naturnachahmung in der Form. Am rein- ſten bildet er die Empfindung der Phantaſie des meſſenden Sehens ein. In allen andern Arten der Phantaſie aber bleibt überall ein Reſt typiſcher Ge- bundenheit. 1. Die Baukunſt, Malerei, Poeſie der romaniſchen Völker wird uns überall zeigen, daß ſie ſinnlicher, realiſtiſcher, objectiver bleiben, als die Deutſchen. Die Italiener, vorzüglich im Maleriſchen bedeutend, bleiben bei aller innigen Süßigkeit des Ausdrucks geſchmeidig, anmuthsvoll im Formſinn, die Franzoſen, mehr in der dichtenden Phantaſie thätig, zeigen in zwei verſchiedenen Richtungen den objectiveren Sinn: in der empfin- dend dichtenden erſcheint der ſüdfranzöſiſche Geiſt ungleich ſinnlicher, leiden- ſchaftlicher, als der deutſche, in der bildend dichtenden der nordfranzöſiſche maſſenhaft in überfruchtbarer Aufzählung unendlicher Begebenheiten. Der Spanier iſt im Bauen und Dichten glänzend, feierlich, glühend und ſehn- ſuchtsvoll, man ſieht den mauriſchen Einfluß. Die Sage vom Cid gehört in ihrem Urſprung nach der ältern, mehr germaniſchen (gothiſchen), he- roiſch einfacheren Zeit an. Die germano-romaniſchen Engländer ſtehen unter dem Einfluße der keltiſchen Britten und des Normanniſchen, dort alſo des Nebelhaften, hier deſſen, was wir ſo eben als nordfranzöſiſch bezeichnet haben. Wie hier überall die Fehler der Einbildungskraft nahe liegen, braucht keines Nachweiſes. 2. Man darf nur Wolframs von Eſchenbach Parzipal mit den franzöſiſchen Epen deſſelben Inhalts vergleichen, ſo ſieht man, wie der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 496. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/210>, abgerufen am 19.04.2024.