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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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hat im Traume wieder seine Kehrseite. Es ist leicht unmittelbar verfahren,
wenn zur Vermittlung die Bedingungen gar nicht vorhanden sind, wenn keine
Vermittlung zu überwinden ist; die Unmittelbarkeit ist dann ein unfreies
Einsinken in die Natur; das Einsinken des Ich in sich ist ein Einsinken
in sich als Natur. So ergibt sich denn von selbst, was den Traumbildern
zum Schönen fehlt. Im Schlaf fällt die Subjectivität in ihren Natur-
grund zurück, der Gegensatz von Geist und Leib erlischt in die dunkel
webende Einheit der Seele; dennoch kann der Gegensatz nicht schlechthin
aufhören, er setzt sich fort, aber so, daß er selbst die Form der Unmittel-
barkeit annimmt, der Geist reagirt gegen die Natur innerhalb derselben,
tritt als Selbst seiner Natur so gegenüber, daß auch dieses Selbst Natur
ist, vergl. Rosenkranz Psychologie zweite Aufl. 113 ff. Selbst Natur ge-
worden stellt der Geist seiner Natur eine zweite Schein-Natur gegenüber,
er will noch thätig sein, die Organe seines wachen Lebens sind ihm aber
entzogen, er kann nach außen nicht wirken, so benützt er gleichsam die
Zwischenzeit, sich im Innern eine Schaubühne, ein Theater aufzuschlagen,
worin er, so gut es geht, sich unterhält. Weil ihm aber der wahre Ge-
gensatz fehlt, sowohl innerhalb seiner selbst, der Gegensatz von Subject
und Object im Bewußtsein nämlich, als auch außerhalb seiner, der Ge-
gensatz seiner Welt und der wirklichen, wodurch er jene an dieser ver-
gleichend messen und beobachten könnte, ob er die Erscheinungen der Natur
in der Umwandlung, die er mit ihnen vornimmt, nicht über ihre unab-
änderlichen Grundformen und Gesetze hinausgetrieben, so nimmt seine
Gestaltenwelt den allgemeinen Charakter der völlig gesetz- und zusammen-
hanglos Raum und Zeit und alle organische Einheit der Erscheinungen
in wilder Jagd maaßlos überspringenden Geisterhaftigkeit an. Noch mehr
als von den Bildern der Einbildungskraft gilt es daher von den seinen,
daß sie zwar in Bewegung und Mischung die Natur überbieten, aber
keine qualitative Umwandlung derselben, also keine Schönheit darstellen.
Wohl nimmt der Geist seinen übrigen Gehalt, also, wenn er in Anlage
oder wirklicher Bildung ein edler ist, auch seinen Adel in den Traum mit
und es tauchen daher in seltenen Fällen entzückende, in Wonne noch in's
Wachen nachzitternde Bilder auf; allein auch hier umschwebt nur Unend-
lichkeit der Ahnung, nicht arbeitet wahrhaft geistige Unendlichkeit sie zur
klaren Form aus. So wenig ist der Geist seiner mächtig, daß er in
demselben Zusammenhang zu den häßlichsten, eckelhaftesten Bildern der
Wollust und jeder Schändlichkeit übergehen kann, wo er sich dann noch
ungleich stoffartiger verhält, als in der wachen Einbildungskraft, ja dem
brünstigen Thiere gleicht. Insbesondere sind wir im Traume durch die
Unendlichkeit und Einfachheit, welche hier namentlich die Angst annimmt, über
die Maßen feig. Freie Verarbeitung durch Denken aber können die Traumbilder

hat im Traume wieder ſeine Kehrſeite. Es iſt leicht unmittelbar verfahren,
wenn zur Vermittlung die Bedingungen gar nicht vorhanden ſind, wenn keine
Vermittlung zu überwinden iſt; die Unmittelbarkeit iſt dann ein unfreies
Einſinken in die Natur; das Einſinken des Ich in ſich iſt ein Einſinken
in ſich als Natur. So ergibt ſich denn von ſelbſt, was den Traumbildern
zum Schönen fehlt. Im Schlaf fällt die Subjectivität in ihren Natur-
grund zurück, der Gegenſatz von Geiſt und Leib erliſcht in die dunkel
webende Einheit der Seele; dennoch kann der Gegenſatz nicht ſchlechthin
aufhören, er ſetzt ſich fort, aber ſo, daß er ſelbſt die Form der Unmittel-
barkeit annimmt, der Geiſt reagirt gegen die Natur innerhalb derſelben,
tritt als Selbſt ſeiner Natur ſo gegenüber, daß auch dieſes Selbſt Natur
iſt, vergl. Roſenkranz Pſychologie zweite Aufl. 113 ff. Selbſt Natur ge-
worden ſtellt der Geiſt ſeiner Natur eine zweite Schein-Natur gegenüber,
er will noch thätig ſein, die Organe ſeines wachen Lebens ſind ihm aber
entzogen, er kann nach außen nicht wirken, ſo benützt er gleichſam die
Zwiſchenzeit, ſich im Innern eine Schaubühne, ein Theater aufzuſchlagen,
worin er, ſo gut es geht, ſich unterhält. Weil ihm aber der wahre Ge-
genſatz fehlt, ſowohl innerhalb ſeiner ſelbſt, der Gegenſatz von Subject
und Object im Bewußtſein nämlich, als auch außerhalb ſeiner, der Ge-
genſatz ſeiner Welt und der wirklichen, wodurch er jene an dieſer ver-
gleichend meſſen und beobachten könnte, ob er die Erſcheinungen der Natur
in der Umwandlung, die er mit ihnen vornimmt, nicht über ihre unab-
änderlichen Grundformen und Geſetze hinausgetrieben, ſo nimmt ſeine
Geſtaltenwelt den allgemeinen Charakter der völlig geſetz- und zuſammen-
hanglos Raum und Zeit und alle organiſche Einheit der Erſcheinungen
in wilder Jagd maaßlos überſpringenden Geiſterhaftigkeit an. Noch mehr
als von den Bildern der Einbildungskraft gilt es daher von den ſeinen,
daß ſie zwar in Bewegung und Miſchung die Natur überbieten, aber
keine qualitative Umwandlung derſelben, alſo keine Schönheit darſtellen.
Wohl nimmt der Geiſt ſeinen übrigen Gehalt, alſo, wenn er in Anlage
oder wirklicher Bildung ein edler iſt, auch ſeinen Adel in den Traum mit
und es tauchen daher in ſeltenen Fällen entzückende, in Wonne noch in’s
Wachen nachzitternde Bilder auf; allein auch hier umſchwebt nur Unend-
lichkeit der Ahnung, nicht arbeitet wahrhaft geiſtige Unendlichkeit ſie zur
klaren Form aus. So wenig iſt der Geiſt ſeiner mächtig, daß er in
demſelben Zuſammenhang zu den häßlichſten, eckelhafteſten Bildern der
Wolluſt und jeder Schändlichkeit übergehen kann, wo er ſich dann noch
ungleich ſtoffartiger verhält, als in der wachen Einbildungskraft, ja dem
brünſtigen Thiere gleicht. Insbeſondere ſind wir im Traume durch die
Unendlichkeit und Einfachheit, welche hier namentlich die Angſt annimmt, über
die Maßen feig. Freie Verarbeitung durch Denken aber können die Traumbilder

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[332/0046] hat im Traume wieder ſeine Kehrſeite. Es iſt leicht unmittelbar verfahren, wenn zur Vermittlung die Bedingungen gar nicht vorhanden ſind, wenn keine Vermittlung zu überwinden iſt; die Unmittelbarkeit iſt dann ein unfreies Einſinken in die Natur; das Einſinken des Ich in ſich iſt ein Einſinken in ſich als Natur. So ergibt ſich denn von ſelbſt, was den Traumbildern zum Schönen fehlt. Im Schlaf fällt die Subjectivität in ihren Natur- grund zurück, der Gegenſatz von Geiſt und Leib erliſcht in die dunkel webende Einheit der Seele; dennoch kann der Gegenſatz nicht ſchlechthin aufhören, er ſetzt ſich fort, aber ſo, daß er ſelbſt die Form der Unmittel- barkeit annimmt, der Geiſt reagirt gegen die Natur innerhalb derſelben, tritt als Selbſt ſeiner Natur ſo gegenüber, daß auch dieſes Selbſt Natur iſt, vergl. Roſenkranz Pſychologie zweite Aufl. 113 ff. Selbſt Natur ge- worden ſtellt der Geiſt ſeiner Natur eine zweite Schein-Natur gegenüber, er will noch thätig ſein, die Organe ſeines wachen Lebens ſind ihm aber entzogen, er kann nach außen nicht wirken, ſo benützt er gleichſam die Zwiſchenzeit, ſich im Innern eine Schaubühne, ein Theater aufzuſchlagen, worin er, ſo gut es geht, ſich unterhält. Weil ihm aber der wahre Ge- genſatz fehlt, ſowohl innerhalb ſeiner ſelbſt, der Gegenſatz von Subject und Object im Bewußtſein nämlich, als auch außerhalb ſeiner, der Ge- genſatz ſeiner Welt und der wirklichen, wodurch er jene an dieſer ver- gleichend meſſen und beobachten könnte, ob er die Erſcheinungen der Natur in der Umwandlung, die er mit ihnen vornimmt, nicht über ihre unab- änderlichen Grundformen und Geſetze hinausgetrieben, ſo nimmt ſeine Geſtaltenwelt den allgemeinen Charakter der völlig geſetz- und zuſammen- hanglos Raum und Zeit und alle organiſche Einheit der Erſcheinungen in wilder Jagd maaßlos überſpringenden Geiſterhaftigkeit an. Noch mehr als von den Bildern der Einbildungskraft gilt es daher von den ſeinen, daß ſie zwar in Bewegung und Miſchung die Natur überbieten, aber keine qualitative Umwandlung derſelben, alſo keine Schönheit darſtellen. Wohl nimmt der Geiſt ſeinen übrigen Gehalt, alſo, wenn er in Anlage oder wirklicher Bildung ein edler iſt, auch ſeinen Adel in den Traum mit und es tauchen daher in ſeltenen Fällen entzückende, in Wonne noch in’s Wachen nachzitternde Bilder auf; allein auch hier umſchwebt nur Unend- lichkeit der Ahnung, nicht arbeitet wahrhaft geiſtige Unendlichkeit ſie zur klaren Form aus. So wenig iſt der Geiſt ſeiner mächtig, daß er in demſelben Zuſammenhang zu den häßlichſten, eckelhafteſten Bildern der Wolluſt und jeder Schändlichkeit übergehen kann, wo er ſich dann noch ungleich ſtoffartiger verhält, als in der wachen Einbildungskraft, ja dem brünſtigen Thiere gleicht. Insbeſondere ſind wir im Traume durch die Unendlichkeit und Einfachheit, welche hier namentlich die Angſt annimmt, über die Maßen feig. Freie Verarbeitung durch Denken aber können die Traumbilder

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/46>, abgerufen am 29.03.2024.