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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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Verbindung von Gliedern aus allen Eintheilungsreihen nur an Einem
Beispiele aufzeigen: dem großen Fresco-Bilde der Schlacht des Constantin
nach Raphaels Composition ausgeführt von G. Romano im Vatican.
Hier ist vereinigt: aus der ersten Reihe mit der bildenden, näher
der malerisch sehenden Phantasie der Geist der dramatischdichtenden (großer
Entscheidungsmoment), aus der zweiten Reihe die geschichtliche Phan-
tasie mit Anklängen der rein menschlichen (Gruppe von Vater und Sohn),
aus der dritten die erhabene Phantasie mit Anklängen der einfach schönen
(der Jüngling in ebendieser Gruppe), aus der vierten die Wahl des ent-
scheidenden Moments mit der Umfassung breiten, massenhaften Stoffes;
aus der fünften kann keine Mischung ihrer Arten hinzutreten, sondern nur
die Technik des Fresko; alle diese Glieder aus verschiedenen Eintheilungs-
reihen, und zwar die aus den vier ersten selbst schon eine Verbindung
von je zwei Arten Einer enthaltend, verbinden sich nun unter sich zu einem
großen historischen Fresko-Schlachtgemälde.

§. 541.

Die Kunst durchwandert die Geschichte des Ideals und die hiedurch be-
dingten Veränderungen erscheinen ebenfalls in erster Linie als theils berechtigte,
theils unberechtigte Uebertragungen der in §. 404 aufgestellten Arten der Phantasie
aufeinander, sodann als verschiedene Verhältnisse der Durchdringung derselben
mit den in §. 403 und 402 aufgestellten Arten. Diese geschichtliche Entwich-
lung fordert in der Behandlung jeder Kunst einen besondern Abschnitt, allein
sie wirkt wesentlich bestimmend auf die Ausbildung der Zweige ein, und dazu
kommt noch als ein die Eintheilung derselben erweiterndes und erschwerendes Mo-
ment das Eindringen der zweiten Stoffwelt (§. 417. 418), so daß die logische
Eintheilung von der geschichtlichen durchkreuzt wird.

Das geschichtliche Leben der Kunst ist eine neue Quelle von Ueber-
tragungen der verschiedenen Arten der Phantasie auf einander, wie dieß
schon in der Darstellung der historischen Ideale §. 425 ff. vielfach nach-
gewiesen ist. Der Unterschied dieser Ideale hat seinen innersten Grund
in der ganzen Weltanschauung der Völker und Zeiten, aber indem er sich
Form gibt, erscheint er wesentlich in diesen Uebertritten, gemäß welchen
z. B. die Plastik von den Aegyptiern architektonisch, im Mittelalter malerisch
behandelt wird, das ernste Drama im classischen Ideal das Komische aus-
schließt, im modernen zuläßt, die landschaftliche Phantasie erst in dem
letzteren sich mit der bildenden verbindet in der Malerei, und die Behandlung
der Persönlichkeit in allen Idealen das Individuelle (§. 331 ff.) in ver-
schiedenen Graden ausbildet. Der §. sagt, diese Verbindungen seien

Verbindung von Gliedern aus allen Eintheilungsreihen nur an Einem
Beiſpiele aufzeigen: dem großen Fresco-Bilde der Schlacht des Conſtantin
nach Raphaels Compoſition ausgeführt von G. Romano im Vatican.
Hier iſt vereinigt: aus der erſten Reihe mit der bildenden, näher
der maleriſch ſehenden Phantaſie der Geiſt der dramatiſchdichtenden (großer
Entſcheidungsmoment), aus der zweiten Reihe die geſchichtliche Phan-
taſie mit Anklängen der rein menſchlichen (Gruppe von Vater und Sohn),
aus der dritten die erhabene Phantaſie mit Anklängen der einfach ſchönen
(der Jüngling in ebendieſer Gruppe), aus der vierten die Wahl des ent-
ſcheidenden Moments mit der Umfaſſung breiten, maſſenhaften Stoffes;
aus der fünften kann keine Miſchung ihrer Arten hinzutreten, ſondern nur
die Technik des Fresko; alle dieſe Glieder aus verſchiedenen Eintheilungs-
reihen, und zwar die aus den vier erſten ſelbſt ſchon eine Verbindung
von je zwei Arten Einer enthaltend, verbinden ſich nun unter ſich zu einem
großen hiſtoriſchen Fresko-Schlachtgemälde.

§. 541.

Die Kunſt durchwandert die Geſchichte des Ideals und die hiedurch be-
dingten Veränderungen erſcheinen ebenfalls in erſter Linie als theils berechtigte,
theils unberechtigte Uebertragungen der in §. 404 aufgeſtellten Arten der Phantaſie
aufeinander, ſodann als verſchiedene Verhältniſſe der Durchdringung derſelben
mit den in §. 403 und 402 aufgeſtellten Arten. Dieſe geſchichtliche Entwich-
lung fordert in der Behandlung jeder Kunſt einen beſondern Abſchnitt, allein
ſie wirkt weſentlich beſtimmend auf die Ausbildung der Zweige ein, und dazu
kommt noch als ein die Eintheilung derſelben erweiterndes und erſchwerendes Mo-
ment das Eindringen der zweiten Stoffwelt (§. 417. 418), ſo daß die logiſche
Eintheilung von der geſchichtlichen durchkreuzt wird.

Das geſchichtliche Leben der Kunſt iſt eine neue Quelle von Ueber-
tragungen der verſchiedenen Arten der Phantaſie auf einander, wie dieß
ſchon in der Darſtellung der hiſtoriſchen Ideale §. 425 ff. vielfach nach-
gewieſen iſt. Der Unterſchied dieſer Ideale hat ſeinen innerſten Grund
in der ganzen Weltanſchauung der Völker und Zeiten, aber indem er ſich
Form gibt, erſcheint er weſentlich in dieſen Uebertritten, gemäß welchen
z. B. die Plaſtik von den Aegyptiern architektoniſch, im Mittelalter maleriſch
behandelt wird, das ernſte Drama im claſſiſchen Ideal das Komiſche aus-
ſchließt, im modernen zuläßt, die landſchaftliche Phantaſie erſt in dem
letzteren ſich mit der bildenden verbindet in der Malerei, und die Behandlung
der Perſönlichkeit in allen Idealen das Individuelle (§. 331 ff.) in ver-
ſchiedenen Graden ausbildet. Der §. ſagt, dieſe Verbindungen ſeien

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[157/0169] Verbindung von Gliedern aus allen Eintheilungsreihen nur an Einem Beiſpiele aufzeigen: dem großen Fresco-Bilde der Schlacht des Conſtantin nach Raphaels Compoſition ausgeführt von G. Romano im Vatican. Hier iſt vereinigt: aus der erſten Reihe mit der bildenden, näher der maleriſch ſehenden Phantaſie der Geiſt der dramatiſchdichtenden (großer Entſcheidungsmoment), aus der zweiten Reihe die geſchichtliche Phan- taſie mit Anklängen der rein menſchlichen (Gruppe von Vater und Sohn), aus der dritten die erhabene Phantaſie mit Anklängen der einfach ſchönen (der Jüngling in ebendieſer Gruppe), aus der vierten die Wahl des ent- ſcheidenden Moments mit der Umfaſſung breiten, maſſenhaften Stoffes; aus der fünften kann keine Miſchung ihrer Arten hinzutreten, ſondern nur die Technik des Fresko; alle dieſe Glieder aus verſchiedenen Eintheilungs- reihen, und zwar die aus den vier erſten ſelbſt ſchon eine Verbindung von je zwei Arten Einer enthaltend, verbinden ſich nun unter ſich zu einem großen hiſtoriſchen Fresko-Schlachtgemälde. §. 541. Die Kunſt durchwandert die Geſchichte des Ideals und die hiedurch be- dingten Veränderungen erſcheinen ebenfalls in erſter Linie als theils berechtigte, theils unberechtigte Uebertragungen der in §. 404 aufgeſtellten Arten der Phantaſie aufeinander, ſodann als verſchiedene Verhältniſſe der Durchdringung derſelben mit den in §. 403 und 402 aufgeſtellten Arten. Dieſe geſchichtliche Entwich- lung fordert in der Behandlung jeder Kunſt einen beſondern Abſchnitt, allein ſie wirkt weſentlich beſtimmend auf die Ausbildung der Zweige ein, und dazu kommt noch als ein die Eintheilung derſelben erweiterndes und erſchwerendes Mo- ment das Eindringen der zweiten Stoffwelt (§. 417. 418), ſo daß die logiſche Eintheilung von der geſchichtlichen durchkreuzt wird. Das geſchichtliche Leben der Kunſt iſt eine neue Quelle von Ueber- tragungen der verſchiedenen Arten der Phantaſie auf einander, wie dieß ſchon in der Darſtellung der hiſtoriſchen Ideale §. 425 ff. vielfach nach- gewieſen iſt. Der Unterſchied dieſer Ideale hat ſeinen innerſten Grund in der ganzen Weltanſchauung der Völker und Zeiten, aber indem er ſich Form gibt, erſcheint er weſentlich in dieſen Uebertritten, gemäß welchen z. B. die Plaſtik von den Aegyptiern architektoniſch, im Mittelalter maleriſch behandelt wird, das ernſte Drama im claſſiſchen Ideal das Komiſche aus- ſchließt, im modernen zuläßt, die landſchaftliche Phantaſie erſt in dem letzteren ſich mit der bildenden verbindet in der Malerei, und die Behandlung der Perſönlichkeit in allen Idealen das Individuelle (§. 331 ff.) in ver- ſchiedenen Graden ausbildet. Der §. ſagt, dieſe Verbindungen ſeien

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/169>, abgerufen am 16.04.2024.