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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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weg und tritt einfach das Verbot des Zuviel ein, wenn eine solche halb
selbständige Einheit in der Einheit eines Kunstwerks zu diesem überhaupt
nicht stimmt: so, wenn bei einem Taufacte von Masaccio ein von Frost
zitternder Nackter eingeführt ist, auf dessen naturwahre Behandlung nun
ein, der Aufgabe des Ganzen fremdes, Intresse fällt; Aehnliches ist
schon zum vorh. §. angeführt. Von den Liebes-Verhältnißen in Schillers
Wallenstein und Tell läßt sich zweifeln, ob sie nicht ebenfalls Episoden
sind, die zum Ganzen nicht stimmen. Eine Reihe von fast lauter will-
kührlichen Episoden ist das romantische Epos.

Natürlich hat nun auch der Umfang der berechtigten Episode seine
Grenze und dieß führt zu dem Gesetze des Werthverhältnißes der Theile,
wovon der folgende §. handelt.

§. 497.

Ein zweiter Mangel des innern Bildes, welchen jene Prüfung dem1
Künstler enthüllen wird, ist unvollkommene Bestimmung des Werthverhältnißes
der im Ganzen enthaltenen Einzelbilder als eines Verhältnißes der Ueber-
ordnung, Uebenordnung, Unterordnung
. Dieß Verhältniß wiederholt sich
aber auf zwei Seiten, in welche jedes künstlerische Ganze sich theilt. Die eine dieser
Seiten enthält das Subject des Ganzen, die andere entweder das Element, worin2
es lebt und wirkt, oder das Beigesellte, das von ihm als seinem Elemente
abhängt. Diese zweite, blos accidentielle Seite umfaßt das sogenannte Beiwerk.
Ein weiteres, aus dem ersten folgendes Compositionsgesetz hat nun das Maaß
der Betonung und Entfaltung gemäß der innern Rangstufe sowohl zwischen diesen
beiden Seiten, als auch innerhalb einer jeden derselben abzuwägen.

1. Das Werthverhältniß der Einzelbilder innerhalb der Seite des
Kunstwerks, die das Subject des vorliegenden Ganzen enthält, ist nicht
zu verwechseln mit dem Verhältniß dieser ganzen Seite zu der zweiten,
welche das Accidentielle, das sogenannte Beiwerk, enthält; hier ist zuerst nur
von jenem ersteren Verhältniß die Rede. Subject des Ganzen ist das,
was je im vorliegenden Kunstwerke die wesentliche ästhetische Wirkung
bestimmen soll, also z. B. im Landschaftgemälde das Naturleben, im
Thierstücke das thierische, im Genre- (Sitten-) Bilde und im historischen
Gemälde das menschliche Leben. Die in dem letzteren der Haupthandlung
untergeordnete Nebenhandlung, oder z. B. im Drama die Nebenfigur,
ja die ganz untergeordnete Figur, wie ein Bote, Diener ist nicht Beiwerk,
sondern ein Glied der substantiellen, das Wesen des Ganzen bestimmenden
Seite, aber innerhalb dieser ein minder bedeutendes. Dieser Unterschied

weg und tritt einfach das Verbot des Zuviel ein, wenn eine ſolche halb
ſelbſtändige Einheit in der Einheit eines Kunſtwerks zu dieſem überhaupt
nicht ſtimmt: ſo, wenn bei einem Taufacte von Maſaccio ein von Froſt
zitternder Nackter eingeführt iſt, auf deſſen naturwahre Behandlung nun
ein, der Aufgabe des Ganzen fremdes, Intreſſe fällt; Aehnliches iſt
ſchon zum vorh. §. angeführt. Von den Liebes-Verhältnißen in Schillers
Wallenſtein und Tell läßt ſich zweifeln, ob ſie nicht ebenfalls Epiſoden
ſind, die zum Ganzen nicht ſtimmen. Eine Reihe von faſt lauter will-
kührlichen Epiſoden iſt das romantiſche Epos.

Natürlich hat nun auch der Umfang der berechtigten Epiſode ſeine
Grenze und dieß führt zu dem Geſetze des Werthverhältnißes der Theile,
wovon der folgende §. handelt.

§. 497.

Ein zweiter Mangel des innern Bildes, welchen jene Prüfung dem1
Künſtler enthüllen wird, iſt unvollkommene Beſtimmung des Werthverhältnißes
der im Ganzen enthaltenen Einzelbilder als eines Verhältnißes der Ueber-
ordnung, Uebenordnung, Unterordnung
. Dieß Verhältniß wiederholt ſich
aber auf zwei Seiten, in welche jedes künſtleriſche Ganze ſich theilt. Die eine dieſer
Seiten enthält das Subject des Ganzen, die andere entweder das Element, worin2
es lebt und wirkt, oder das Beigeſellte, das von ihm als ſeinem Elemente
abhängt. Dieſe zweite, blos accidentielle Seite umfaßt das ſogenannte Beiwerk.
Ein weiteres, aus dem erſten folgendes Compoſitionsgeſetz hat nun das Maaß
der Betonung und Entfaltung gemäß der innern Rangſtufe ſowohl zwiſchen dieſen
beiden Seiten, als auch innerhalb einer jeden derſelben abzuwägen.

1. Das Werthverhältniß der Einzelbilder innerhalb der Seite des
Kunſtwerks, die das Subject des vorliegenden Ganzen enthält, iſt nicht
zu verwechſeln mit dem Verhältniß dieſer ganzen Seite zu der zweiten,
welche das Accidentielle, das ſogenannte Beiwerk, enthält; hier iſt zuerſt nur
von jenem erſteren Verhältniß die Rede. Subject des Ganzen iſt das,
was je im vorliegenden Kunſtwerke die weſentliche äſthetiſche Wirkung
beſtimmen ſoll, alſo z. B. im Landſchaftgemälde das Naturleben, im
Thierſtücke das thieriſche, im Genre- (Sitten-) Bilde und im hiſtoriſchen
Gemälde das menſchliche Leben. Die in dem letzteren der Haupthandlung
untergeordnete Nebenhandlung, oder z. B. im Drama die Nebenfigur,
ja die ganz untergeordnete Figur, wie ein Bote, Diener iſt nicht Beiwerk,
ſondern ein Glied der ſubſtantiellen, das Weſen des Ganzen beſtimmenden
Seite, aber innerhalb dieſer ein minder bedeutendes. Dieſer Unterſchied

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[27/0039] weg und tritt einfach das Verbot des Zuviel ein, wenn eine ſolche halb ſelbſtändige Einheit in der Einheit eines Kunſtwerks zu dieſem überhaupt nicht ſtimmt: ſo, wenn bei einem Taufacte von Maſaccio ein von Froſt zitternder Nackter eingeführt iſt, auf deſſen naturwahre Behandlung nun ein, der Aufgabe des Ganzen fremdes, Intreſſe fällt; Aehnliches iſt ſchon zum vorh. §. angeführt. Von den Liebes-Verhältnißen in Schillers Wallenſtein und Tell läßt ſich zweifeln, ob ſie nicht ebenfalls Epiſoden ſind, die zum Ganzen nicht ſtimmen. Eine Reihe von faſt lauter will- kührlichen Epiſoden iſt das romantiſche Epos. Natürlich hat nun auch der Umfang der berechtigten Epiſode ſeine Grenze und dieß führt zu dem Geſetze des Werthverhältnißes der Theile, wovon der folgende §. handelt. §. 497. Ein zweiter Mangel des innern Bildes, welchen jene Prüfung dem Künſtler enthüllen wird, iſt unvollkommene Beſtimmung des Werthverhältnißes der im Ganzen enthaltenen Einzelbilder als eines Verhältnißes der Ueber- ordnung, Uebenordnung, Unterordnung. Dieß Verhältniß wiederholt ſich aber auf zwei Seiten, in welche jedes künſtleriſche Ganze ſich theilt. Die eine dieſer Seiten enthält das Subject des Ganzen, die andere entweder das Element, worin es lebt und wirkt, oder das Beigeſellte, das von ihm als ſeinem Elemente abhängt. Dieſe zweite, blos accidentielle Seite umfaßt das ſogenannte Beiwerk. Ein weiteres, aus dem erſten folgendes Compoſitionsgeſetz hat nun das Maaß der Betonung und Entfaltung gemäß der innern Rangſtufe ſowohl zwiſchen dieſen beiden Seiten, als auch innerhalb einer jeden derſelben abzuwägen. 1. Das Werthverhältniß der Einzelbilder innerhalb der Seite des Kunſtwerks, die das Subject des vorliegenden Ganzen enthält, iſt nicht zu verwechſeln mit dem Verhältniß dieſer ganzen Seite zu der zweiten, welche das Accidentielle, das ſogenannte Beiwerk, enthält; hier iſt zuerſt nur von jenem erſteren Verhältniß die Rede. Subject des Ganzen iſt das, was je im vorliegenden Kunſtwerke die weſentliche äſthetiſche Wirkung beſtimmen ſoll, alſo z. B. im Landſchaftgemälde das Naturleben, im Thierſtücke das thieriſche, im Genre- (Sitten-) Bilde und im hiſtoriſchen Gemälde das menſchliche Leben. Die in dem letzteren der Haupthandlung untergeordnete Nebenhandlung, oder z. B. im Drama die Nebenfigur, ja die ganz untergeordnete Figur, wie ein Bote, Diener iſt nicht Beiwerk, ſondern ein Glied der ſubſtantiellen, das Weſen des Ganzen beſtimmenden Seite, aber innerhalb dieſer ein minder bedeutendes. Dieſer Unterſchied

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/39>, abgerufen am 19.04.2024.