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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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und Poesie zu fördern, dem Gottesdienst einen höhern künstlerischen Aus-
druck zu geben. Der Zustand, den wir als einen künftigen voraussetzen
und hoffen, muß allerdings zugleich die immanente Religion erzeugen,
welche ohne Mythus die großen geschichtlichen Stoffe der Menschheit, die
ihr Cultus zum Gegenstand haben wird, dem Künstler als sichere Fundgrube
monumentaler Schöpfungen anweist. Mit der Leitung der Kunst von
oben muß aber eine Volks-Erziehung Hand in Hand gehen, wie sie im
gegenwärtigen Dualismus von Kirche und Staat freilich überhaupt nicht
möglich ist. Denken wir uns den Kunstsinn im Volke als einen durch
diese verschiedenen Bestrebungen entwickelten, so muß, wie im Alterthum
und Mittelalter, die Gemeinde und Körperschaft es sein, die das Beste
für die Kunst thut. Das Bewußtsein aber, ein lebendiges Glied des
Volks und Staats zu sein, ist allein die wahre Lebensluft, worin die Gedanken
des Künstlers in großen Entwürfen frei und lebendig sich entwickeln können.

§. 509.

Nur in den §. 505 und theilweise in den §. 507 aufgeführten Zuständen
wird die ästhetische Urtheilsfähigkeit mit dem Geschmacke (vergl. §. 79) ver-
wechselt und der Künstler davon abhängig gemacht. Eine bleibende Anwen-
dung dieses Begriffs auf dem ästhetischen Gebiete kann nur insofern berechtigt
sein, als sie in positivem Sinne die äußersten Grenzen des Kunstwerks im
Auge hat, an welchen dasselbe mit dem öffentlichen Urtheil über anhängende
Schönheit in Berührung kommt, in negativem Sinn Alles, was den Forderungen
des Schönen widerspricht, als überdieß dem ausgebildeten Gefühle für das
Angenehme und Schickliche widersprechend bezeichnet.

Es ist auf diesem Puncte der Begriff des Geschmacks noch einmal
aufzunehmen; denn hier ist die Rede von dem geistigen Elemente, wel-
ches den Künstler und das Publikum gemeinsam trägt und aus welchem
jener Förderung und Zucht oder Hemmung und Verführung seiner inneren
Thätigkeit entnimmt. Geschmack nun, sei es ein richtiger oder ein unrich-
tiger Begriff, bezeichnet jedenfalls ein solches gemeinsames Element, einen
Reflex von gewissen Forderungen des Publikums im Geist und Gefühle
des Künstlers, näher eine Eigenschaft, vermöge deren er sich jenen For-
derungen zugebildet hat und zwar in der Weise der Ausführung des
Kunstwerks, so jedoch, daß diese Weise der Ausführung ihren Grund im
innersten Fühlen, geistigen Tasten hat. Zunächst nun erklärt es der §.
für eine Verirrung, wenn dieses gemeinsame Element als Geschmack auf-
gefaßt wird; denn Geschmack ist im §. 79 als ein Sinn für die blos
anhängende Schönheit, die Mischung des Schönen mit dem Angenehmen
und sittlich Schicklichen bestimmt worden. Einfach gilt nun dieses Urtheil

und Poeſie zu fördern, dem Gottesdienſt einen höhern künſtleriſchen Aus-
druck zu geben. Der Zuſtand, den wir als einen künftigen vorausſetzen
und hoffen, muß allerdings zugleich die immanente Religion erzeugen,
welche ohne Mythus die großen geſchichtlichen Stoffe der Menſchheit, die
ihr Cultus zum Gegenſtand haben wird, dem Künſtler als ſichere Fundgrube
monumentaler Schöpfungen anweist. Mit der Leitung der Kunſt von
oben muß aber eine Volks-Erziehung Hand in Hand gehen, wie ſie im
gegenwärtigen Dualismus von Kirche und Staat freilich überhaupt nicht
möglich iſt. Denken wir uns den Kunſtſinn im Volke als einen durch
dieſe verſchiedenen Beſtrebungen entwickelten, ſo muß, wie im Alterthum
und Mittelalter, die Gemeinde und Körperſchaft es ſein, die das Beſte
für die Kunſt thut. Das Bewußtſein aber, ein lebendiges Glied des
Volks und Staats zu ſein, iſt allein die wahre Lebensluft, worin die Gedanken
des Künſtlers in großen Entwürfen frei und lebendig ſich entwickeln können.

§. 509.

Nur in den §. 505 und theilweiſe in den §. 507 aufgeführten Zuſtänden
wird die äſthetiſche Urtheilsfähigkeit mit dem Geſchmacke (vergl. §. 79) ver-
wechſelt und der Künſtler davon abhängig gemacht. Eine bleibende Anwen-
dung dieſes Begriffs auf dem äſthetiſchen Gebiete kann nur inſofern berechtigt
ſein, als ſie in poſitivem Sinne die äußerſten Grenzen des Kunſtwerks im
Auge hat, an welchen daſſelbe mit dem öffentlichen Urtheil über anhängende
Schönheit in Berührung kommt, in negativem Sinn Alles, was den Forderungen
des Schönen widerſpricht, als überdieß dem ausgebildeten Gefühle für das
Angenehme und Schickliche widerſprechend bezeichnet.

Es iſt auf dieſem Puncte der Begriff des Geſchmacks noch einmal
aufzunehmen; denn hier iſt die Rede von dem geiſtigen Elemente, wel-
ches den Künſtler und das Publikum gemeinſam trägt und aus welchem
jener Förderung und Zucht oder Hemmung und Verführung ſeiner inneren
Thätigkeit entnimmt. Geſchmack nun, ſei es ein richtiger oder ein unrich-
tiger Begriff, bezeichnet jedenfalls ein ſolches gemeinſames Element, einen
Reflex von gewiſſen Forderungen des Publikums im Geiſt und Gefühle
des Künſtlers, näher eine Eigenſchaft, vermöge deren er ſich jenen For-
derungen zugebildet hat und zwar in der Weiſe der Ausführung des
Kunſtwerks, ſo jedoch, daß dieſe Weiſe der Ausführung ihren Grund im
innerſten Fühlen, geiſtigen Taſten hat. Zunächſt nun erklärt es der §.
für eine Verirrung, wenn dieſes gemeinſame Element als Geſchmack auf-
gefaßt wird; denn Geſchmack iſt im §. 79 als ein Sinn für die blos
anhängende Schönheit, die Miſchung des Schönen mit dem Angenehmen
und ſittlich Schicklichen beſtimmt worden. Einfach gilt nun dieſes Urtheil

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[73/0085] und Poeſie zu fördern, dem Gottesdienſt einen höhern künſtleriſchen Aus- druck zu geben. Der Zuſtand, den wir als einen künftigen vorausſetzen und hoffen, muß allerdings zugleich die immanente Religion erzeugen, welche ohne Mythus die großen geſchichtlichen Stoffe der Menſchheit, die ihr Cultus zum Gegenſtand haben wird, dem Künſtler als ſichere Fundgrube monumentaler Schöpfungen anweist. Mit der Leitung der Kunſt von oben muß aber eine Volks-Erziehung Hand in Hand gehen, wie ſie im gegenwärtigen Dualismus von Kirche und Staat freilich überhaupt nicht möglich iſt. Denken wir uns den Kunſtſinn im Volke als einen durch dieſe verſchiedenen Beſtrebungen entwickelten, ſo muß, wie im Alterthum und Mittelalter, die Gemeinde und Körperſchaft es ſein, die das Beſte für die Kunſt thut. Das Bewußtſein aber, ein lebendiges Glied des Volks und Staats zu ſein, iſt allein die wahre Lebensluft, worin die Gedanken des Künſtlers in großen Entwürfen frei und lebendig ſich entwickeln können. §. 509. Nur in den §. 505 und theilweiſe in den §. 507 aufgeführten Zuſtänden wird die äſthetiſche Urtheilsfähigkeit mit dem Geſchmacke (vergl. §. 79) ver- wechſelt und der Künſtler davon abhängig gemacht. Eine bleibende Anwen- dung dieſes Begriffs auf dem äſthetiſchen Gebiete kann nur inſofern berechtigt ſein, als ſie in poſitivem Sinne die äußerſten Grenzen des Kunſtwerks im Auge hat, an welchen daſſelbe mit dem öffentlichen Urtheil über anhängende Schönheit in Berührung kommt, in negativem Sinn Alles, was den Forderungen des Schönen widerſpricht, als überdieß dem ausgebildeten Gefühle für das Angenehme und Schickliche widerſprechend bezeichnet. Es iſt auf dieſem Puncte der Begriff des Geſchmacks noch einmal aufzunehmen; denn hier iſt die Rede von dem geiſtigen Elemente, wel- ches den Künſtler und das Publikum gemeinſam trägt und aus welchem jener Förderung und Zucht oder Hemmung und Verführung ſeiner inneren Thätigkeit entnimmt. Geſchmack nun, ſei es ein richtiger oder ein unrich- tiger Begriff, bezeichnet jedenfalls ein ſolches gemeinſames Element, einen Reflex von gewiſſen Forderungen des Publikums im Geiſt und Gefühle des Künſtlers, näher eine Eigenſchaft, vermöge deren er ſich jenen For- derungen zugebildet hat und zwar in der Weiſe der Ausführung des Kunſtwerks, ſo jedoch, daß dieſe Weiſe der Ausführung ihren Grund im innerſten Fühlen, geiſtigen Taſten hat. Zunächſt nun erklärt es der §. für eine Verirrung, wenn dieſes gemeinſame Element als Geſchmack auf- gefaßt wird; denn Geſchmack iſt im §. 79 als ein Sinn für die blos anhängende Schönheit, die Miſchung des Schönen mit dem Angenehmen und ſittlich Schicklichen beſtimmt worden. Einfach gilt nun dieſes Urtheil

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/85>, abgerufen am 29.03.2024.