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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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sie sind persönlich, das Genie macht nicht Regeln, sondern ist Person-
gewordene Regel (vergl. zu §. 412 Th. II S. 396) und was davon
lernbar ist, kann nur praktisch mitgetheilt werden. Einem solchen Lehrer
strömen nun die Schüler zu und nachdem einzelne Talente seine neugeschaffene
Technik sich angeeignet haben, begründen auch diese ihre Werkstätten und
sammeln Schüler. Der Schüler ist zunächst Lehrling, er dient von unten
herauf und hat die handwerksmäßigen Theile der Technik (Farbenreiben u. dgl.)
als Handlanger zu üben, bis er als Geselle an den Ausführungen des
Meisters Theil nimmt und so in die Uebung des geistigen Theils seiner
Technik eintritt, man hat die freiere Stellung des Schülers im Atelier des
modernen Künstlers, wo, wie in Paris, der Lehrer etwa nur zweimal in
der Woche seine Schüler besucht und diese früh zu eigenen Hervorbringungen
übergehen, zunächst ganz fernzuhalten. Unter der Leitung des Meisters
nimmt nun der Schüler die Studien nach der Natur vor; sie haben jetzt
eine andere Bedeutung, als in §. 511, wo sie als dem selbstständigen
Kunstwerke dienend aufgeführt sind: sie sind Uebungen. Und zu dem
naturschönen Stoffe, der als Uebungs-Vorlage dient, den der Meister
sehen und wiedergeben lehrt, tritt nun ein neuer Stoff der übenden Nach-
ahmung: die zweite, die erhöhte Natur eben in den Kunstwerken des
Meisters und anderer Meister, auch solcher, die einer vergangenen, aber
in gewissem Sinne noch Maaßgebenden Kunstblüthe angehören: der
Schüler muß sich durch Copiren bilden. Für die neuere Zeit ist hier
die Antike ein Haupt-Gegenstand des nachbildenden Studiums.

Daß diese Formen der Künstlerbildung im strengen Sinne nur von
den bildenden Künsten gelten, leuchtet ein; der Musiker und der Dichter
errichtet keine Werkstätten. Zwischen diesen zwei ist aber wieder ein
wesentlicher Unterschied; die Musik hat noch eine sinnliche Technik, welche
der Meister unmittelbar an Schüler, die jedoch nicht im Verhältniß eines
ununterbrochenen Zusammenseins zu ihm stehen, praktisch mittheilt; in der
Poesie aber gibt es keinen Unterricht, da tritt an die Stelle desselben
theils einzelner Rath, Wink des bewährten Dichters, theils aber die
stille Uebung in der Anschauung der vorhandenen Meisterwerke; der
Anfänger wagt sich auch mit selbstständigen Hervorbringungen früher in
in die Oeffentlichkeit, und diese zieht ihn durch die Schule der Erfahrung.

§. 521.

Diese Erziehungsform ist die ursprüngliche, concrete; sie gehört den Zeiten
an, wo die Kunst sich noch bescheiden mit dem Handwerk zusammenfaßt und die
Grundsätze der Zunftverbindung auf die Verhältnisse ihrer Schule überträgt.
Sie ist patriarchalisch familiär und naiv, wohlthätig durch die Frische der persön-

ſie ſind perſönlich, das Genie macht nicht Regeln, ſondern iſt Perſon-
gewordene Regel (vergl. zu §. 412 Th. II S. 396) und was davon
lernbar iſt, kann nur praktiſch mitgetheilt werden. Einem ſolchen Lehrer
ſtrömen nun die Schüler zu und nachdem einzelne Talente ſeine neugeſchaffene
Technik ſich angeeignet haben, begründen auch dieſe ihre Werkſtätten und
ſammeln Schüler. Der Schüler iſt zunächſt Lehrling, er dient von unten
herauf und hat die handwerksmäßigen Theile der Technik (Farbenreiben u. dgl.)
als Handlanger zu üben, bis er als Geſelle an den Ausführungen des
Meiſters Theil nimmt und ſo in die Uebung des geiſtigen Theils ſeiner
Technik eintritt, man hat die freiere Stellung des Schülers im Atelier des
modernen Künſtlers, wo, wie in Paris, der Lehrer etwa nur zweimal in
der Woche ſeine Schüler beſucht und dieſe früh zu eigenen Hervorbringungen
übergehen, zunächſt ganz fernzuhalten. Unter der Leitung des Meiſters
nimmt nun der Schüler die Studien nach der Natur vor; ſie haben jetzt
eine andere Bedeutung, als in §. 511, wo ſie als dem ſelbſtſtändigen
Kunſtwerke dienend aufgeführt ſind: ſie ſind Uebungen. Und zu dem
naturſchönen Stoffe, der als Uebungs-Vorlage dient, den der Meiſter
ſehen und wiedergeben lehrt, tritt nun ein neuer Stoff der übenden Nach-
ahmung: die zweite, die erhöhte Natur eben in den Kunſtwerken des
Meiſters und anderer Meiſter, auch ſolcher, die einer vergangenen, aber
in gewiſſem Sinne noch Maaßgebenden Kunſtblüthe angehören: der
Schüler muß ſich durch Copiren bilden. Für die neuere Zeit iſt hier
die Antike ein Haupt-Gegenſtand des nachbildenden Studiums.

Daß dieſe Formen der Künſtlerbildung im ſtrengen Sinne nur von
den bildenden Künſten gelten, leuchtet ein; der Muſiker und der Dichter
errichtet keine Werkſtätten. Zwiſchen dieſen zwei iſt aber wieder ein
weſentlicher Unterſchied; die Muſik hat noch eine ſinnliche Technik, welche
der Meiſter unmittelbar an Schüler, die jedoch nicht im Verhältniß eines
ununterbrochenen Zuſammenſeins zu ihm ſtehen, praktiſch mittheilt; in der
Poeſie aber gibt es keinen Unterricht, da tritt an die Stelle desſelben
theils einzelner Rath, Wink des bewährten Dichters, theils aber die
ſtille Uebung in der Anſchauung der vorhandenen Meiſterwerke; der
Anfänger wagt ſich auch mit ſelbſtſtändigen Hervorbringungen früher in
in die Oeffentlichkeit, und dieſe zieht ihn durch die Schule der Erfahrung.

§. 521.

Dieſe Erziehungsform iſt die urſprüngliche, concrete; ſie gehört den Zeiten
an, wo die Kunſt ſich noch beſcheiden mit dem Handwerk zuſammenfaßt und die
Grundſätze der Zunftverbindung auf die Verhältniſſe ihrer Schule überträgt.
Sie iſt patriarchaliſch familiär und naiv, wohlthätig durch die Friſche der perſön-

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[103/0115] ſie ſind perſönlich, das Genie macht nicht Regeln, ſondern iſt Perſon- gewordene Regel (vergl. zu §. 412 Th. II S. 396) und was davon lernbar iſt, kann nur praktiſch mitgetheilt werden. Einem ſolchen Lehrer ſtrömen nun die Schüler zu und nachdem einzelne Talente ſeine neugeſchaffene Technik ſich angeeignet haben, begründen auch dieſe ihre Werkſtätten und ſammeln Schüler. Der Schüler iſt zunächſt Lehrling, er dient von unten herauf und hat die handwerksmäßigen Theile der Technik (Farbenreiben u. dgl.) als Handlanger zu üben, bis er als Geſelle an den Ausführungen des Meiſters Theil nimmt und ſo in die Uebung des geiſtigen Theils ſeiner Technik eintritt, man hat die freiere Stellung des Schülers im Atelier des modernen Künſtlers, wo, wie in Paris, der Lehrer etwa nur zweimal in der Woche ſeine Schüler beſucht und dieſe früh zu eigenen Hervorbringungen übergehen, zunächſt ganz fernzuhalten. Unter der Leitung des Meiſters nimmt nun der Schüler die Studien nach der Natur vor; ſie haben jetzt eine andere Bedeutung, als in §. 511, wo ſie als dem ſelbſtſtändigen Kunſtwerke dienend aufgeführt ſind: ſie ſind Uebungen. Und zu dem naturſchönen Stoffe, der als Uebungs-Vorlage dient, den der Meiſter ſehen und wiedergeben lehrt, tritt nun ein neuer Stoff der übenden Nach- ahmung: die zweite, die erhöhte Natur eben in den Kunſtwerken des Meiſters und anderer Meiſter, auch ſolcher, die einer vergangenen, aber in gewiſſem Sinne noch Maaßgebenden Kunſtblüthe angehören: der Schüler muß ſich durch Copiren bilden. Für die neuere Zeit iſt hier die Antike ein Haupt-Gegenſtand des nachbildenden Studiums. Daß dieſe Formen der Künſtlerbildung im ſtrengen Sinne nur von den bildenden Künſten gelten, leuchtet ein; der Muſiker und der Dichter errichtet keine Werkſtätten. Zwiſchen dieſen zwei iſt aber wieder ein weſentlicher Unterſchied; die Muſik hat noch eine ſinnliche Technik, welche der Meiſter unmittelbar an Schüler, die jedoch nicht im Verhältniß eines ununterbrochenen Zuſammenſeins zu ihm ſtehen, praktiſch mittheilt; in der Poeſie aber gibt es keinen Unterricht, da tritt an die Stelle desſelben theils einzelner Rath, Wink des bewährten Dichters, theils aber die ſtille Uebung in der Anſchauung der vorhandenen Meiſterwerke; der Anfänger wagt ſich auch mit ſelbſtſtändigen Hervorbringungen früher in in die Oeffentlichkeit, und dieſe zieht ihn durch die Schule der Erfahrung. §. 521. Dieſe Erziehungsform iſt die urſprüngliche, concrete; ſie gehört den Zeiten an, wo die Kunſt ſich noch beſcheiden mit dem Handwerk zuſammenfaßt und die Grundſätze der Zunftverbindung auf die Verhältniſſe ihrer Schule überträgt. Sie iſt patriarchaliſch familiär und naiv, wohlthätig durch die Friſche der perſön-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/115>, abgerufen am 18.04.2024.