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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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lichen Leitung, aber gefährlich durch deren Einseitigkeit; doch der Drang des
Genius in dem begabten Schüler wirst diese Fessel ab: er vergleicht, wandert,
sucht vorgerücktere Meister auf und wird selbst schöpferischer Meister, der die
Kunst durch einen neuen Aufschwung vorwärts führt.

Das Lehrlings- und Gesellen-Verhältniß, von welchem zu dem
vorh. §. die Rede gewesen ist, war im classischen Alterthum und Mittel-
alter ganz dasselbe wie im Handwerk. Der älteste Schooß der Fortpflanzung
technischer Uebung ist die Familie, der Vater lehrt den Sohn oder die
Söhne und diese pflanzen das Erlernte in weitere Zweige der Familie und
an die Enkel fort. Diese Form erhält sich auch neben entwickelteren
Zuständen, man denke z. B. an P. Vischer und seine Söhne. Das
Verhältniß zwischen dem Meister und den aus fremdem Hause um ihn
sich sammelnden Schülern, das sodann an die Stelle der Familientradition
tritt, stellt nur eine patriarchalische Erweiterung der Familie dar, die
Lehrlinge und Gesellen leben in der Regel im Hause des Meisters und
sind seiner Zucht wie Kinder des Hauses untergeben. Diese so erweiterten
Familien sind im Mittelalter durch das über die bildenden Künste aus-
gedehnte Zunftwesen zu einem größeren Ganzen zusammengeschlossen, dessen
Satzungen den Uebergang vom Lehrling zum Gesellen, von diesem zum
Meister an strenge Bedingungen knüpfen und neben der Reglung der
Stufen der Technik zugleich die ganze gesellige Stellung der Glieder ordnen
und die sittliche Aufführung unter die Aufsicht der Zunft stellen. Am weitesten
war dieß in der Maurerzunft ausgebildet, deren locale, durch die großen
Bauten vereinigte Innungen (die Bauhütten) sich über ganze Länder
miteinander verbanden, eigene Gerichtsbarkeit hatten und den ausgespro-
chensten Corpsgeist entwickelten. Das Selbstbewußtsein des Künstlers, das
jetzt in subjectiver Vereinzelung leicht erkrankt, hatte durch dieses Zunftleben
seine gesunde Wurzel in dem Ehrgefühle der Genossenschaft; die strenge und
lange Schule begründete Sicherheit und Gediegenheit in den handwerks-
mäßigen Grundlagen der Kunst, die Vertraulichkeit ihrer Form bedingte
ein warmes Einleben in den Styl des Meisters, fesselte aber allerdings
den Schüler zu eng an Einen Meister; er verfestigte sich so in dessen
Kunstform, daß sie seine zweite Natur wurde. Daher die Erscheinung
einer Menge von Schulbildern, welche nur der gründlichere Kenner nicht
mit Werken des Meisters verwechselt: eine Uniformität, welche in der
neueren Zeit so nicht möglich ist; Giotto's Styl konnte nur durch jene
Erziehungsweise der Künstler ein Jahrhundert lang in Italien herrschen.
Zum Gesellen-Leben gehört nun aber auch das Wandern und dieß war
das Gegenmittel gegen die Uebermacht der häuslich beschränkten Einflüsse
Eines Meisters. In dem begabten Schüler, der selbst die Bestimmung

lichen Leitung, aber gefährlich durch deren Einſeitigkeit; doch der Drang des
Genius in dem begabten Schüler wirſt dieſe Feſſel ab: er vergleicht, wandert,
ſucht vorgerücktere Meiſter auf und wird ſelbſt ſchöpferiſcher Meiſter, der die
Kunſt durch einen neuen Aufſchwung vorwärts führt.

Das Lehrlings- und Geſellen-Verhältniß, von welchem zu dem
vorh. §. die Rede geweſen iſt, war im claſſiſchen Alterthum und Mittel-
alter ganz dasſelbe wie im Handwerk. Der älteſte Schooß der Fortpflanzung
techniſcher Uebung iſt die Familie, der Vater lehrt den Sohn oder die
Söhne und dieſe pflanzen das Erlernte in weitere Zweige der Familie und
an die Enkel fort. Dieſe Form erhält ſich auch neben entwickelteren
Zuſtänden, man denke z. B. an P. Viſcher und ſeine Söhne. Das
Verhältniß zwiſchen dem Meiſter und den aus fremdem Hauſe um ihn
ſich ſammelnden Schülern, das ſodann an die Stelle der Familientradition
tritt, ſtellt nur eine patriarchaliſche Erweiterung der Familie dar, die
Lehrlinge und Geſellen leben in der Regel im Hauſe des Meiſters und
ſind ſeiner Zucht wie Kinder des Hauſes untergeben. Dieſe ſo erweiterten
Familien ſind im Mittelalter durch das über die bildenden Künſte aus-
gedehnte Zunftweſen zu einem größeren Ganzen zuſammengeſchloſſen, deſſen
Satzungen den Uebergang vom Lehrling zum Geſellen, von dieſem zum
Meiſter an ſtrenge Bedingungen knüpfen und neben der Reglung der
Stufen der Technik zugleich die ganze geſellige Stellung der Glieder ordnen
und die ſittliche Aufführung unter die Aufſicht der Zunft ſtellen. Am weiteſten
war dieß in der Maurerzunft ausgebildet, deren locale, durch die großen
Bauten vereinigte Innungen (die Bauhütten) ſich über ganze Länder
miteinander verbanden, eigene Gerichtsbarkeit hatten und den ausgeſpro-
chenſten Corpsgeiſt entwickelten. Das Selbſtbewußtſein des Künſtlers, das
jetzt in ſubjectiver Vereinzelung leicht erkrankt, hatte durch dieſes Zunftleben
ſeine geſunde Wurzel in dem Ehrgefühle der Genoſſenſchaft; die ſtrenge und
lange Schule begründete Sicherheit und Gediegenheit in den handwerks-
mäßigen Grundlagen der Kunſt, die Vertraulichkeit ihrer Form bedingte
ein warmes Einleben in den Styl des Meiſters, feſſelte aber allerdings
den Schüler zu eng an Einen Meiſter; er verfeſtigte ſich ſo in deſſen
Kunſtform, daß ſie ſeine zweite Natur wurde. Daher die Erſcheinung
einer Menge von Schulbildern, welche nur der gründlichere Kenner nicht
mit Werken des Meiſters verwechſelt: eine Uniformität, welche in der
neueren Zeit ſo nicht möglich iſt; Giotto’s Styl konnte nur durch jene
Erziehungsweiſe der Künſtler ein Jahrhundert lang in Italien herrſchen.
Zum Geſellen-Leben gehört nun aber auch das Wandern und dieß war
das Gegenmittel gegen die Uebermacht der häuslich beſchränkten Einflüſſe
Eines Meiſters. In dem begabten Schüler, der ſelbſt die Beſtimmung

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[104/0116] lichen Leitung, aber gefährlich durch deren Einſeitigkeit; doch der Drang des Genius in dem begabten Schüler wirſt dieſe Feſſel ab: er vergleicht, wandert, ſucht vorgerücktere Meiſter auf und wird ſelbſt ſchöpferiſcher Meiſter, der die Kunſt durch einen neuen Aufſchwung vorwärts führt. Das Lehrlings- und Geſellen-Verhältniß, von welchem zu dem vorh. §. die Rede geweſen iſt, war im claſſiſchen Alterthum und Mittel- alter ganz dasſelbe wie im Handwerk. Der älteſte Schooß der Fortpflanzung techniſcher Uebung iſt die Familie, der Vater lehrt den Sohn oder die Söhne und dieſe pflanzen das Erlernte in weitere Zweige der Familie und an die Enkel fort. Dieſe Form erhält ſich auch neben entwickelteren Zuſtänden, man denke z. B. an P. Viſcher und ſeine Söhne. Das Verhältniß zwiſchen dem Meiſter und den aus fremdem Hauſe um ihn ſich ſammelnden Schülern, das ſodann an die Stelle der Familientradition tritt, ſtellt nur eine patriarchaliſche Erweiterung der Familie dar, die Lehrlinge und Geſellen leben in der Regel im Hauſe des Meiſters und ſind ſeiner Zucht wie Kinder des Hauſes untergeben. Dieſe ſo erweiterten Familien ſind im Mittelalter durch das über die bildenden Künſte aus- gedehnte Zunftweſen zu einem größeren Ganzen zuſammengeſchloſſen, deſſen Satzungen den Uebergang vom Lehrling zum Geſellen, von dieſem zum Meiſter an ſtrenge Bedingungen knüpfen und neben der Reglung der Stufen der Technik zugleich die ganze geſellige Stellung der Glieder ordnen und die ſittliche Aufführung unter die Aufſicht der Zunft ſtellen. Am weiteſten war dieß in der Maurerzunft ausgebildet, deren locale, durch die großen Bauten vereinigte Innungen (die Bauhütten) ſich über ganze Länder miteinander verbanden, eigene Gerichtsbarkeit hatten und den ausgeſpro- chenſten Corpsgeiſt entwickelten. Das Selbſtbewußtſein des Künſtlers, das jetzt in ſubjectiver Vereinzelung leicht erkrankt, hatte durch dieſes Zunftleben ſeine geſunde Wurzel in dem Ehrgefühle der Genoſſenſchaft; die ſtrenge und lange Schule begründete Sicherheit und Gediegenheit in den handwerks- mäßigen Grundlagen der Kunſt, die Vertraulichkeit ihrer Form bedingte ein warmes Einleben in den Styl des Meiſters, feſſelte aber allerdings den Schüler zu eng an Einen Meiſter; er verfeſtigte ſich ſo in deſſen Kunſtform, daß ſie ſeine zweite Natur wurde. Daher die Erſcheinung einer Menge von Schulbildern, welche nur der gründlichere Kenner nicht mit Werken des Meiſters verwechſelt: eine Uniformität, welche in der neueren Zeit ſo nicht möglich iſt; Giotto’s Styl konnte nur durch jene Erziehungsweiſe der Künſtler ein Jahrhundert lang in Italien herrſchen. Zum Geſellen-Leben gehört nun aber auch das Wandern und dieß war das Gegenmittel gegen die Uebermacht der häuslich beſchränkten Einflüſſe Eines Meiſters. In dem begabten Schüler, der ſelbſt die Beſtimmung

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/116>, abgerufen am 28.03.2024.