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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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heroisch zu behandeln u. s. w. Nun bestimmt ein solcher Künstler der ihm
eigenen Auffassung gemäß seine Technik; jene fängt an, zur Gewöhnung
zu werden, diese auch; aber die Verhärtung der Technik ist nicht einfach
eine Folge der verhärteten Auffassung, sondern übt eine rückwirkende Ge-
walt auf diese aus. Dieß letztere Moment ist ganz wesentlich: das Fest-
rennen geht zuerst von innen nach außen, dann verstärkt von außen nach
innen zurück; der Künstler möchte wohl anders, aber die gewohnte Pinsel-
führung, Farbengebung, Handhabung des musikalischen Instruments u. s. w.
ist schon stärker, als er; er hat sich in dem gefangen, was ursprünglich
frei von ihm ausgieng. Nun dringt die Verhärtung weiter: er fängt
an, auch Gegenstände, welche die ihm geläufige Wirkung nicht dar-
bieten, zu behandeln, als böten sie sie dar, und er endigt damit, sie
denjenigen aufzuzwingen, welche die entgegengesetzte, und zwar nicht nur
theilweise, sondern im Ganzen ihrer Erscheinung darbieten. So pressen
die italienischen Manieristen, in welchen das Einseitige des M. Angelo und
Correggio zur Unnatur, dort des Gewaltsamen, hier des Süßen und
Sentimentalen ausgeschlagen ist, Alles, mag es biegen oder brechen, in das
Prokrustesbett der einen oder andern dieser Auffassungsweisen; so gibt es
Porträtmaler, denen unter der Hand jeder Kopf ins Heroische oder
Empfindsame hinübergleitet, Landschaftmaler, welche der Luft, den
Erdformen überall dieselbe stehende Physiognomie geben, ja allen Baum-
schlag überein behandeln, so daß man lauter Linden, Stechpalmen und
dgl. zu sehen glaubt. Die immer gleichen, stehenden Gesichter älterer
Meister wie eines Giotto, Fiesole, P. Perugino, Fr. Francia gehören nicht
hieher, das ist der unschuldige Fehler einer noch jugendlichen Kunst, die
für eine Gemüthsstimmung, eine Art, zu sehen, die in der Zeit liegt, die
entsprechenden Formen gefunden hat und noch nicht zu wechseln versteht.
In der Musik wimmelt es von schlagenden Beispielen; in der Poesie
erinnern wir an J. Paul, dessen großer Genius sich capriciös in einer bis
zum Unerträglichen wiederkehrenden, bis auf die Einzelheiten der Satz-
und Wortbildung hinaus verhärteten Technik der Sentimentalität und des
Witzes verfangen hat. -- Uebrigens versteht sich, daß der gemeine Sprach-
gebrauch nicht so streng unterscheidet, als die Wissenschaft, daß er Manier
oft für das anwendet, was wir sofort Styl nennen werden. Es gibt
allerdings ein Gebiet, wo die Begriffe schwanken müssen: das große Feld
von Kunstweisen, die zu bedeutend sind, um sie als Manier, zu unbedeu-
tend, um sie als Styl im strengen Wortsinne zu bezeichnen. Wir werden
dieses Feld in dem geschichtlich erweiterten Kreise der gegenwärtig vor-
liegenden Begriffe finden.


heroiſch zu behandeln u. ſ. w. Nun beſtimmt ein ſolcher Künſtler der ihm
eigenen Auffaſſung gemäß ſeine Technik; jene fängt an, zur Gewöhnung
zu werden, dieſe auch; aber die Verhärtung der Technik iſt nicht einfach
eine Folge der verhärteten Auffaſſung, ſondern übt eine rückwirkende Ge-
walt auf dieſe aus. Dieß letztere Moment iſt ganz weſentlich: das Feſt-
rennen geht zuerſt von innen nach außen, dann verſtärkt von außen nach
innen zurück; der Künſtler möchte wohl anders, aber die gewohnte Pinſel-
führung, Farbengebung, Handhabung des muſikaliſchen Inſtruments u. ſ. w.
iſt ſchon ſtärker, als er; er hat ſich in dem gefangen, was urſprünglich
frei von ihm ausgieng. Nun dringt die Verhärtung weiter: er fängt
an, auch Gegenſtände, welche die ihm geläufige Wirkung nicht dar-
bieten, zu behandeln, als böten ſie ſie dar, und er endigt damit, ſie
denjenigen aufzuzwingen, welche die entgegengeſetzte, und zwar nicht nur
theilweiſe, ſondern im Ganzen ihrer Erſcheinung darbieten. So preſſen
die italieniſchen Manieriſten, in welchen das Einſeitige des M. Angelo und
Correggio zur Unnatur, dort des Gewaltſamen, hier des Süßen und
Sentimentalen ausgeſchlagen iſt, Alles, mag es biegen oder brechen, in das
Prokruſtesbett der einen oder andern dieſer Auffaſſungsweiſen; ſo gibt es
Porträtmaler, denen unter der Hand jeder Kopf ins Heroiſche oder
Empfindſame hinübergleitet, Landſchaftmaler, welche der Luft, den
Erdformen überall dieſelbe ſtehende Phyſiognomie geben, ja allen Baum-
ſchlag überein behandeln, ſo daß man lauter Linden, Stechpalmen und
dgl. zu ſehen glaubt. Die immer gleichen, ſtehenden Geſichter älterer
Meiſter wie eines Giotto, Fieſole, P. Perugino, Fr. Francia gehören nicht
hieher, das iſt der unſchuldige Fehler einer noch jugendlichen Kunſt, die
für eine Gemüthsſtimmung, eine Art, zu ſehen, die in der Zeit liegt, die
entſprechenden Formen gefunden hat und noch nicht zu wechſeln verſteht.
In der Muſik wimmelt es von ſchlagenden Beiſpielen; in der Poeſie
erinnern wir an J. Paul, deſſen großer Genius ſich capriciös in einer bis
zum Unerträglichen wiederkehrenden, bis auf die Einzelheiten der Satz-
und Wortbildung hinaus verhärteten Technik der Sentimentalität und des
Witzes verfangen hat. — Uebrigens verſteht ſich, daß der gemeine Sprach-
gebrauch nicht ſo ſtreng unterſcheidet, als die Wiſſenſchaft, daß er Manier
oft für das anwendet, was wir ſofort Styl nennen werden. Es gibt
allerdings ein Gebiet, wo die Begriffe ſchwanken müſſen: das große Feld
von Kunſtweiſen, die zu bedeutend ſind, um ſie als Manier, zu unbedeu-
tend, um ſie als Styl im ſtrengen Wortſinne zu bezeichnen. Wir werden
dieſes Feld in dem geſchichtlich erweiterten Kreiſe der gegenwärtig vor-
liegenden Begriffe finden.


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[121/0133] heroiſch zu behandeln u. ſ. w. Nun beſtimmt ein ſolcher Künſtler der ihm eigenen Auffaſſung gemäß ſeine Technik; jene fängt an, zur Gewöhnung zu werden, dieſe auch; aber die Verhärtung der Technik iſt nicht einfach eine Folge der verhärteten Auffaſſung, ſondern übt eine rückwirkende Ge- walt auf dieſe aus. Dieß letztere Moment iſt ganz weſentlich: das Feſt- rennen geht zuerſt von innen nach außen, dann verſtärkt von außen nach innen zurück; der Künſtler möchte wohl anders, aber die gewohnte Pinſel- führung, Farbengebung, Handhabung des muſikaliſchen Inſtruments u. ſ. w. iſt ſchon ſtärker, als er; er hat ſich in dem gefangen, was urſprünglich frei von ihm ausgieng. Nun dringt die Verhärtung weiter: er fängt an, auch Gegenſtände, welche die ihm geläufige Wirkung nicht dar- bieten, zu behandeln, als böten ſie ſie dar, und er endigt damit, ſie denjenigen aufzuzwingen, welche die entgegengeſetzte, und zwar nicht nur theilweiſe, ſondern im Ganzen ihrer Erſcheinung darbieten. So preſſen die italieniſchen Manieriſten, in welchen das Einſeitige des M. Angelo und Correggio zur Unnatur, dort des Gewaltſamen, hier des Süßen und Sentimentalen ausgeſchlagen iſt, Alles, mag es biegen oder brechen, in das Prokruſtesbett der einen oder andern dieſer Auffaſſungsweiſen; ſo gibt es Porträtmaler, denen unter der Hand jeder Kopf ins Heroiſche oder Empfindſame hinübergleitet, Landſchaftmaler, welche der Luft, den Erdformen überall dieſelbe ſtehende Phyſiognomie geben, ja allen Baum- ſchlag überein behandeln, ſo daß man lauter Linden, Stechpalmen und dgl. zu ſehen glaubt. Die immer gleichen, ſtehenden Geſichter älterer Meiſter wie eines Giotto, Fieſole, P. Perugino, Fr. Francia gehören nicht hieher, das iſt der unſchuldige Fehler einer noch jugendlichen Kunſt, die für eine Gemüthsſtimmung, eine Art, zu ſehen, die in der Zeit liegt, die entſprechenden Formen gefunden hat und noch nicht zu wechſeln verſteht. In der Muſik wimmelt es von ſchlagenden Beiſpielen; in der Poeſie erinnern wir an J. Paul, deſſen großer Genius ſich capriciös in einer bis zum Unerträglichen wiederkehrenden, bis auf die Einzelheiten der Satz- und Wortbildung hinaus verhärteten Technik der Sentimentalität und des Witzes verfangen hat. — Uebrigens verſteht ſich, daß der gemeine Sprach- gebrauch nicht ſo ſtreng unterſcheidet, als die Wiſſenſchaft, daß er Manier oft für das anwendet, was wir ſofort Styl nennen werden. Es gibt allerdings ein Gebiet, wo die Begriffe ſchwanken müſſen: das große Feld von Kunſtweiſen, die zu bedeutend ſind, um ſie als Manier, zu unbedeu- tend, um ſie als Styl im ſtrengen Wortſinne zu bezeichnen. Wir werden dieſes Feld in dem geſchichtlich erweiterten Kreiſe der gegenwärtig vor- liegenden Begriffe finden.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/133>, abgerufen am 18.04.2024.