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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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Plastik kann man in eingeschränkterem Sinn und, mit der gehörigen Be-
hutsamkeit nur die Vergleichung mit der Baukunst einhaltend, sagen, sie
sei ein erstes Auftauchen der malerischen Phantasie innerhalb der bildenden;
im strengsten Sinne gehört die Architektur der bildenden Kunst an. Die
Musik ist hier noch nicht zu erwähnen, weil sie so scharfe und selbständige
Unterschiede nicht treiben kann; von der Poesie aber ist zu §. 538 schon
bemerkt, daß das Epos eine Uebertragung der bildenden, die Lyrik der
empfindenden Phantasie in die dichtende darstellt. Dieß sind aber, wie
ebenfalls schon gezeigt ist, zugleich speziellere Modificationen des durch-
herrschenden Gegensatzes des Objectiven und Subjectiven. Allein eben-
dieses Uebertreten der Arten ineinander in erweiterter Linie, also in letzter
Beziehung zugleich ebenfalls ein verschiedenes Verbindungs-Verhältniß des
Objectiven und Subjectiven, wirkt nun als Theilungs-Grund der Künste
in untergeordnete Zweige, nicht als der einzige (vergl. §. 533 Anm. 1),
aber als der erste. Man denke z. B. in der Poesie an die verschiedenen
lyrischen Formen: das eigentliche Lied ist reiner Ausdruck einer Wieder-
holung der empfindenden Phantasie innerhalb der dichtenden, also zugleich
des Moments der Subjectivität; die Romanze und Ballade aber ist mehr
episch oder dramatisch: ein Uebertritt der bildenden (denn auf solchem
beruht ja alles Epische) oder der im engsten Sinne dichtenden Phantasie
in die empfindende Art der dichtenden, also zugleich Wiederholung des
Objectiven und Subjectiv-Objectiven in einem Zweige der subjectiv-objectiven
Kunstform. Die Liedermelodie in der Musik, welche Kunst mit ihren
Zweigen nun allerdings in Betracht kommt, ist reiner Ausdruck der empfin-
denden und subjectiven Art der Phantasie, worauf diese ganze Kunst ruht,
die Oper aber ist Uebertritt der dichtenden und zwar der dramatisch dichtenden,
also der subjectiv-objectiven, das Oratorium der epischen und dramatischen,
also der objectiv und der subjectiv-objectiv bestimmten Phantasie in die
empfindende, subjective. In der Malerei ist die Landschaft vorherrschend
ein Ausdruck der empfindenden, subjectiven Phantasie innerhalb der bilden-
den, objectiven, das bewegte historische Gemälde der dramatisch dichtenden,
subjectiv-objectiven. Wir verfolgen die Sache nicht weiter, um nicht zu
sehr vorzugreifen.

§. 540.

1

Diese weitere Theilung ist aber ebenso wesentlich in der Verbindung der
Arten der Phantasie, worauf die Künste beruhen, mit den in §. 403 und 402
aufgeführten Arten begründet, und damit vereinigen sich zwei neue Theilungs-
gründe: der Moment und der Grad des Umfangs, in welchem ein Stoff von
einer Kunst ergriffen wird, und das verschiedene Material in den einzelnen

Plaſtik kann man in eingeſchränkterem Sinn und, mit der gehörigen Be-
hutſamkeit nur die Vergleichung mit der Baukunſt einhaltend, ſagen, ſie
ſei ein erſtes Auftauchen der maleriſchen Phantaſie innerhalb der bildenden;
im ſtrengſten Sinne gehört die Architektur der bildenden Kunſt an. Die
Muſik iſt hier noch nicht zu erwähnen, weil ſie ſo ſcharfe und ſelbſtändige
Unterſchiede nicht treiben kann; von der Poeſie aber iſt zu §. 538 ſchon
bemerkt, daß das Epos eine Uebertragung der bildenden, die Lyrik der
empfindenden Phantaſie in die dichtende darſtellt. Dieß ſind aber, wie
ebenfalls ſchon gezeigt iſt, zugleich ſpeziellere Modificationen des durch-
herrſchenden Gegenſatzes des Objectiven und Subjectiven. Allein eben-
dieſes Uebertreten der Arten ineinander in erweiterter Linie, alſo in letzter
Beziehung zugleich ebenfalls ein verſchiedenes Verbindungs-Verhältniß des
Objectiven und Subjectiven, wirkt nun als Theilungs-Grund der Künſte
in untergeordnete Zweige, nicht als der einzige (vergl. §. 533 Anm. 1),
aber als der erſte. Man denke z. B. in der Poeſie an die verſchiedenen
lyriſchen Formen: das eigentliche Lied iſt reiner Ausdruck einer Wieder-
holung der empfindenden Phantaſie innerhalb der dichtenden, alſo zugleich
des Moments der Subjectivität; die Romanze und Ballade aber iſt mehr
epiſch oder dramatiſch: ein Uebertritt der bildenden (denn auf ſolchem
beruht ja alles Epiſche) oder der im engſten Sinne dichtenden Phantaſie
in die empfindende Art der dichtenden, alſo zugleich Wiederholung des
Objectiven und Subjectiv-Objectiven in einem Zweige der ſubjectiv-objectiven
Kunſtform. Die Liedermelodie in der Muſik, welche Kunſt mit ihren
Zweigen nun allerdings in Betracht kommt, iſt reiner Ausdruck der empfin-
denden und ſubjectiven Art der Phantaſie, worauf dieſe ganze Kunſt ruht,
die Oper aber iſt Uebertritt der dichtenden und zwar der dramatiſch dichtenden,
alſo der ſubjectiv-objectiven, das Oratorium der epiſchen und dramatiſchen,
alſo der objectiv und der ſubjectiv-objectiv beſtimmten Phantaſie in die
empfindende, ſubjective. In der Malerei iſt die Landſchaft vorherrſchend
ein Ausdruck der empfindenden, ſubjectiven Phantaſie innerhalb der bilden-
den, objectiven, das bewegte hiſtoriſche Gemälde der dramatiſch dichtenden,
ſubjectiv-objectiven. Wir verfolgen die Sache nicht weiter, um nicht zu
ſehr vorzugreifen.

§. 540.

1

Dieſe weitere Theilung iſt aber ebenſo weſentlich in der Verbindung der
Arten der Phantaſie, worauf die Künſte beruhen, mit den in §. 403 und 402
aufgeführten Arten begründet, und damit vereinigen ſich zwei neue Theilungs-
gründe: der Moment und der Grad des Umfangs, in welchem ein Stoff von
einer Kunſt ergriffen wird, und das verſchiedene Material in den einzelnen

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[154/0166] Plaſtik kann man in eingeſchränkterem Sinn und, mit der gehörigen Be- hutſamkeit nur die Vergleichung mit der Baukunſt einhaltend, ſagen, ſie ſei ein erſtes Auftauchen der maleriſchen Phantaſie innerhalb der bildenden; im ſtrengſten Sinne gehört die Architektur der bildenden Kunſt an. Die Muſik iſt hier noch nicht zu erwähnen, weil ſie ſo ſcharfe und ſelbſtändige Unterſchiede nicht treiben kann; von der Poeſie aber iſt zu §. 538 ſchon bemerkt, daß das Epos eine Uebertragung der bildenden, die Lyrik der empfindenden Phantaſie in die dichtende darſtellt. Dieß ſind aber, wie ebenfalls ſchon gezeigt iſt, zugleich ſpeziellere Modificationen des durch- herrſchenden Gegenſatzes des Objectiven und Subjectiven. Allein eben- dieſes Uebertreten der Arten ineinander in erweiterter Linie, alſo in letzter Beziehung zugleich ebenfalls ein verſchiedenes Verbindungs-Verhältniß des Objectiven und Subjectiven, wirkt nun als Theilungs-Grund der Künſte in untergeordnete Zweige, nicht als der einzige (vergl. §. 533 Anm. 1), aber als der erſte. Man denke z. B. in der Poeſie an die verſchiedenen lyriſchen Formen: das eigentliche Lied iſt reiner Ausdruck einer Wieder- holung der empfindenden Phantaſie innerhalb der dichtenden, alſo zugleich des Moments der Subjectivität; die Romanze und Ballade aber iſt mehr epiſch oder dramatiſch: ein Uebertritt der bildenden (denn auf ſolchem beruht ja alles Epiſche) oder der im engſten Sinne dichtenden Phantaſie in die empfindende Art der dichtenden, alſo zugleich Wiederholung des Objectiven und Subjectiv-Objectiven in einem Zweige der ſubjectiv-objectiven Kunſtform. Die Liedermelodie in der Muſik, welche Kunſt mit ihren Zweigen nun allerdings in Betracht kommt, iſt reiner Ausdruck der empfin- denden und ſubjectiven Art der Phantaſie, worauf dieſe ganze Kunſt ruht, die Oper aber iſt Uebertritt der dichtenden und zwar der dramatiſch dichtenden, alſo der ſubjectiv-objectiven, das Oratorium der epiſchen und dramatiſchen, alſo der objectiv und der ſubjectiv-objectiv beſtimmten Phantaſie in die empfindende, ſubjective. In der Malerei iſt die Landſchaft vorherrſchend ein Ausdruck der empfindenden, ſubjectiven Phantaſie innerhalb der bilden- den, objectiven, das bewegte hiſtoriſche Gemälde der dramatiſch dichtenden, ſubjectiv-objectiven. Wir verfolgen die Sache nicht weiter, um nicht zu ſehr vorzugreifen. §. 540. Dieſe weitere Theilung iſt aber ebenſo weſentlich in der Verbindung der Arten der Phantaſie, worauf die Künſte beruhen, mit den in §. 403 und 402 aufgeführten Arten begründet, und damit vereinigen ſich zwei neue Theilungs- gründe: der Moment und der Grad des Umfangs, in welchem ein Stoff von einer Kunſt ergriffen wird, und das verſchiedene Material in den einzelnen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/166>, abgerufen am 29.03.2024.