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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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nismen, deren Gliederbau im Versuche der Vereinigung nur eine Mißge-
burt darstellen kann. Nur die zwei Künste, die im Elemente der Zeit
leben, können sich zu einem Ganzen gemeinschaftlicher Bewegung vereinigen,
doch ist auch in der Verbindung von Poesie und Musik wesentlich die
letztere herrschend, der Text darf nicht an sich bedeutend sein. Andere
Verbindungen sind nur dann keine Verletzungen der Aesthetik, wenn sie
auf den reinen Schein verzichten; dieß geschieht durch die Darstellung in
empirisch lebendigem Stoff und es ist klar, daß damit die Orchestik und
die Mimik gemeint ist: in der erstern vereinigt sich die bildende Kunst mit
der Musik, indem lebendige Menschenkörper nach gemessenen Tönen schöne
Bewegungen darstellen, in der anderen mit der Dichtkunst, indem der empirische
Mensch ein Werk der Poesie an seiner persönlichen Erscheinung zum Aus-
druck bringt. Daß die Schauspielkunst durch diese Verweisung jenseits
der Linie des streng rein Aesthetischen nicht verkannt werden soll, muß
sich zeigen, und zwar theilweise schon in dem, was hier über die An-
lehnungen der Künste zu sagen ist.

2. Der Hauptvereinigungspunct für diese Anlehnung ist die Bau-
kunst: die Plastik schließt sich ihr naturgemäß an, die Malerei schmückt,
die Musik durchströmt ihre Räume. Wie sehr die Künste in dieser Ver-
bindung erst organisch leben, wird ihre spezielle Darstellung beweisen,
wo denn auch das wichtige Moment, das diese Anlehnung für die Com-
position namentlich in der Plastik und Malerei hat, die Entstehung
cyklisch umfassender, durch einen großen Gedanken beherrschter Entwürfe,
also der Einfluß auf den Theilungsgrund, der in §. 540, 1. vom Umfange
des Stoffs genommen ist, ja eine dadurch motivirte neue Zweig-Bildung
(Relief) näher zur Sprache kommen muß.

3. Die Poesie scheint in diesen Anlehnungen zunächst keine Stelle
zu finden, denn Vortrag eines Gedichts in festlichem Raume kann man
nicht eine Anlehnung an die Architektur nennen; dennoch wird nicht nur
eine solche, sondern eine Verbindung mit allen Künsten für sie vermittelt
durch den Zutritt der Schauspielkunst; nun wird sie die bestimmende Seele
eines Ganzen, worin Architektur, Malerei, Musik mit ihr und dieser
ihrer nächsten Schwester, die unter allen nicht ganz rein ästhetischen
Künsten am höchsten steht, zur mächtigsten Gesammtwirkung vereinigter
Künste sich die Hand reichen.


nismen, deren Gliederbau im Verſuche der Vereinigung nur eine Mißge-
burt darſtellen kann. Nur die zwei Künſte, die im Elemente der Zeit
leben, können ſich zu einem Ganzen gemeinſchaftlicher Bewegung vereinigen,
doch iſt auch in der Verbindung von Poeſie und Muſik weſentlich die
letztere herrſchend, der Text darf nicht an ſich bedeutend ſein. Andere
Verbindungen ſind nur dann keine Verletzungen der Aeſthetik, wenn ſie
auf den reinen Schein verzichten; dieß geſchieht durch die Darſtellung in
empiriſch lebendigem Stoff und es iſt klar, daß damit die Orcheſtik und
die Mimik gemeint iſt: in der erſtern vereinigt ſich die bildende Kunſt mit
der Muſik, indem lebendige Menſchenkörper nach gemeſſenen Tönen ſchöne
Bewegungen darſtellen, in der anderen mit der Dichtkunſt, indem der empiriſche
Menſch ein Werk der Poeſie an ſeiner perſönlichen Erſcheinung zum Aus-
druck bringt. Daß die Schauſpielkunſt durch dieſe Verweiſung jenſeits
der Linie des ſtreng rein Aeſthetiſchen nicht verkannt werden ſoll, muß
ſich zeigen, und zwar theilweiſe ſchon in dem, was hier über die An-
lehnungen der Künſte zu ſagen iſt.

2. Der Hauptvereinigungspunct für dieſe Anlehnung iſt die Bau-
kunſt: die Plaſtik ſchließt ſich ihr naturgemäß an, die Malerei ſchmückt,
die Muſik durchſtrömt ihre Räume. Wie ſehr die Künſte in dieſer Ver-
bindung erſt organiſch leben, wird ihre ſpezielle Darſtellung beweiſen,
wo denn auch das wichtige Moment, das dieſe Anlehnung für die Com-
poſition namentlich in der Plaſtik und Malerei hat, die Entſtehung
cykliſch umfaſſender, durch einen großen Gedanken beherrſchter Entwürfe,
alſo der Einfluß auf den Theilungsgrund, der in §. 540, 1. vom Umfange
des Stoffs genommen iſt, ja eine dadurch motivirte neue Zweig-Bildung
(Relief) näher zur Sprache kommen muß.

3. Die Poeſie ſcheint in dieſen Anlehnungen zunächſt keine Stelle
zu finden, denn Vortrag eines Gedichts in feſtlichem Raume kann man
nicht eine Anlehnung an die Architektur nennen; dennoch wird nicht nur
eine ſolche, ſondern eine Verbindung mit allen Künſten für ſie vermittelt
durch den Zutritt der Schauſpielkunſt; nun wird ſie die beſtimmende Seele
eines Ganzen, worin Architektur, Malerei, Muſik mit ihr und dieſer
ihrer nächſten Schweſter, die unter allen nicht ganz rein äſthetiſchen
Künſten am höchſten ſteht, zur mächtigſten Geſammtwirkung vereinigter
Künſte ſich die Hand reichen.


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[166/0178] nismen, deren Gliederbau im Verſuche der Vereinigung nur eine Mißge- burt darſtellen kann. Nur die zwei Künſte, die im Elemente der Zeit leben, können ſich zu einem Ganzen gemeinſchaftlicher Bewegung vereinigen, doch iſt auch in der Verbindung von Poeſie und Muſik weſentlich die letztere herrſchend, der Text darf nicht an ſich bedeutend ſein. Andere Verbindungen ſind nur dann keine Verletzungen der Aeſthetik, wenn ſie auf den reinen Schein verzichten; dieß geſchieht durch die Darſtellung in empiriſch lebendigem Stoff und es iſt klar, daß damit die Orcheſtik und die Mimik gemeint iſt: in der erſtern vereinigt ſich die bildende Kunſt mit der Muſik, indem lebendige Menſchenkörper nach gemeſſenen Tönen ſchöne Bewegungen darſtellen, in der anderen mit der Dichtkunſt, indem der empiriſche Menſch ein Werk der Poeſie an ſeiner perſönlichen Erſcheinung zum Aus- druck bringt. Daß die Schauſpielkunſt durch dieſe Verweiſung jenſeits der Linie des ſtreng rein Aeſthetiſchen nicht verkannt werden ſoll, muß ſich zeigen, und zwar theilweiſe ſchon in dem, was hier über die An- lehnungen der Künſte zu ſagen iſt. 2. Der Hauptvereinigungspunct für dieſe Anlehnung iſt die Bau- kunſt: die Plaſtik ſchließt ſich ihr naturgemäß an, die Malerei ſchmückt, die Muſik durchſtrömt ihre Räume. Wie ſehr die Künſte in dieſer Ver- bindung erſt organiſch leben, wird ihre ſpezielle Darſtellung beweiſen, wo denn auch das wichtige Moment, das dieſe Anlehnung für die Com- poſition namentlich in der Plaſtik und Malerei hat, die Entſtehung cykliſch umfaſſender, durch einen großen Gedanken beherrſchter Entwürfe, alſo der Einfluß auf den Theilungsgrund, der in §. 540, 1. vom Umfange des Stoffs genommen iſt, ja eine dadurch motivirte neue Zweig-Bildung (Relief) näher zur Sprache kommen muß. 3. Die Poeſie ſcheint in dieſen Anlehnungen zunächſt keine Stelle zu finden, denn Vortrag eines Gedichts in feſtlichem Raume kann man nicht eine Anlehnung an die Architektur nennen; dennoch wird nicht nur eine ſolche, ſondern eine Verbindung mit allen Künſten für ſie vermittelt durch den Zutritt der Schauſpielkunſt; nun wird ſie die beſtimmende Seele eines Ganzen, worin Architektur, Malerei, Muſik mit ihr und dieſer ihrer nächſten Schweſter, die unter allen nicht ganz rein äſthetiſchen Künſten am höchſten ſteht, zur mächtigſten Geſammtwirkung vereinigter Künſte ſich die Hand reichen.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/178>, abgerufen am 23.04.2024.