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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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unterscheiden sich wieder zwei Acte, ein idealer, auf der Seite des
zeugenden Gedankens liegender, und ein realer, näher auf der Seite der
eigentlichen technischen Ausführung liegender. Der erstere Act ist eben die
Composition; sie verhält sich zum innern Bilde wie die Organisation zum
Gesetzes-Entwurf, die Skizze, wie vorhin gesagt ist, dient namentlich
diesem geistigeren Theile der Vorarbeit; der zweite Act wird kein anderer
sein, als jene neue Vergleichung mit dem Naturschönen, dessen spätere
Aufführung der Anfang dieser Anm. motivirt.

1.
Die Momente dieser Thätigkeit oder die Compositionsgesetze.
§. 495.

1

Die gliedernde Thätigkeit der Composition hat die reine Einheit zwischen
der Idee als Einheit und dem Bild als Vielheit herzustellen (vergleiche §. 14).
Zuerst wird sich zeigen, daß das innere Bild noch zuviel und zu wenig enthält.
Zu viel: denn es hat Solches in sich aufgenommen, was die Idee nicht oder
2was sie überflüßig ausdrückt; zu wenig: denn es fehlt in ihm oder ist zu dürftig
entwickelt Solches, was die Idee ausdrückt. Ein Act, der gleichzeitig ein
erweitertes Schaffen und kritisches Messen ist, hat in der Entwerfung der Skizze
diesen Mangel zu tilgen und so das quantitativ richtige Verhältniß, wie es
die Qualität des Ganzen fordert, durchzuführen.

1. "Das Schöne ist ein sinnlich Einzelnes, das als reiner Ausdruck
der Idee erscheint, so daß in dieser nichts ist, was nicht sinnlich erschiene,
und nichts sinnlich erscheint, was nicht reiner Ausdruck der Idee wäre":
zu diesem Satz in §. 14 haben wir nun zurückzugehen, denn erst die
Kunst giebt ihm Wirklichkeit. Die Composition bringt zur deutlichen
Scheidung, was in der inneren Erzeugung des Bildes noch eingehüllt
schlummert und ungeschieden ineinander verläuft, und fördert so eine Reihe
bestimmter Gesetze, die ihrer Thätigkeit zu Grund liegen und zugleich
durch sie selbst zum Bewußtsein gelangen, zu Tage. Der Satz des §. 14
spricht nun die Qualität in der reinen Einheit zwischen Idee und Bild
zugleich als quantitatives Verhältniß aus. Die Idee ist (unbeschadet
der inneren Vielheit der Momente, die sie enthält) die Einheit; das Bild
ist die Vielheit, denn es gehört der ins Mannigfaltige auseinandergelegten
Erscheinungswelt an. Diese beiden Seiten sollen sich vollständig, ohne

unterſcheiden ſich wieder zwei Acte, ein idealer, auf der Seite des
zeugenden Gedankens liegender, und ein realer, näher auf der Seite der
eigentlichen techniſchen Ausführung liegender. Der erſtere Act iſt eben die
Compoſition; ſie verhält ſich zum innern Bilde wie die Organiſation zum
Geſetzes-Entwurf, die Skizze, wie vorhin geſagt iſt, dient namentlich
dieſem geiſtigeren Theile der Vorarbeit; der zweite Act wird kein anderer
ſein, als jene neue Vergleichung mit dem Naturſchönen, deſſen ſpätere
Aufführung der Anfang dieſer Anm. motivirt.

1.
Die Momente dieſer Thätigkeit oder die Compoſitionsgeſetze.
§. 495.

1

Die gliedernde Thätigkeit der Compoſition hat die reine Einheit zwiſchen
der Idee als Einheit und dem Bild als Vielheit herzuſtellen (vergleiche §. 14).
Zuerſt wird ſich zeigen, daß das innere Bild noch zuviel und zu wenig enthält.
Zu viel: denn es hat Solches in ſich aufgenommen, was die Idee nicht oder
2was ſie überflüßig ausdrückt; zu wenig: denn es fehlt in ihm oder iſt zu dürftig
entwickelt Solches, was die Idee ausdrückt. Ein Act, der gleichzeitig ein
erweitertes Schaffen und kritiſches Meſſen iſt, hat in der Entwerfung der Skizze
dieſen Mangel zu tilgen und ſo das quantitativ richtige Verhältniß, wie es
die Qualität des Ganzen fordert, durchzuführen.

1. „Das Schöne iſt ein ſinnlich Einzelnes, das als reiner Ausdruck
der Idee erſcheint, ſo daß in dieſer nichts iſt, was nicht ſinnlich erſchiene,
und nichts ſinnlich erſcheint, was nicht reiner Ausdruck der Idee wäre“:
zu dieſem Satz in §. 14 haben wir nun zurückzugehen, denn erſt die
Kunſt giebt ihm Wirklichkeit. Die Compoſition bringt zur deutlichen
Scheidung, was in der inneren Erzeugung des Bildes noch eingehüllt
ſchlummert und ungeſchieden ineinander verläuft, und fördert ſo eine Reihe
beſtimmter Geſetze, die ihrer Thätigkeit zu Grund liegen und zugleich
durch ſie ſelbſt zum Bewußtſein gelangen, zu Tage. Der Satz des §. 14
ſpricht nun die Qualität in der reinen Einheit zwiſchen Idee und Bild
zugleich als quantitatives Verhältniß aus. Die Idee iſt (unbeſchadet
der inneren Vielheit der Momente, die ſie enthält) die Einheit; das Bild
iſt die Vielheit, denn es gehört der ins Mannigfaltige auseinandergelegten
Erſcheinungswelt an. Dieſe beiden Seiten ſollen ſich vollſtändig, ohne

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[22/0034] unterſcheiden ſich wieder zwei Acte, ein idealer, auf der Seite des zeugenden Gedankens liegender, und ein realer, näher auf der Seite der eigentlichen techniſchen Ausführung liegender. Der erſtere Act iſt eben die Compoſition; ſie verhält ſich zum innern Bilde wie die Organiſation zum Geſetzes-Entwurf, die Skizze, wie vorhin geſagt iſt, dient namentlich dieſem geiſtigeren Theile der Vorarbeit; der zweite Act wird kein anderer ſein, als jene neue Vergleichung mit dem Naturſchönen, deſſen ſpätere Aufführung der Anfang dieſer Anm. motivirt. 1. Die Momente dieſer Thätigkeit oder die Compoſitionsgeſetze. §. 495. Die gliedernde Thätigkeit der Compoſition hat die reine Einheit zwiſchen der Idee als Einheit und dem Bild als Vielheit herzuſtellen (vergleiche §. 14). Zuerſt wird ſich zeigen, daß das innere Bild noch zuviel und zu wenig enthält. Zu viel: denn es hat Solches in ſich aufgenommen, was die Idee nicht oder was ſie überflüßig ausdrückt; zu wenig: denn es fehlt in ihm oder iſt zu dürftig entwickelt Solches, was die Idee ausdrückt. Ein Act, der gleichzeitig ein erweitertes Schaffen und kritiſches Meſſen iſt, hat in der Entwerfung der Skizze dieſen Mangel zu tilgen und ſo das quantitativ richtige Verhältniß, wie es die Qualität des Ganzen fordert, durchzuführen. 1. „Das Schöne iſt ein ſinnlich Einzelnes, das als reiner Ausdruck der Idee erſcheint, ſo daß in dieſer nichts iſt, was nicht ſinnlich erſchiene, und nichts ſinnlich erſcheint, was nicht reiner Ausdruck der Idee wäre“: zu dieſem Satz in §. 14 haben wir nun zurückzugehen, denn erſt die Kunſt giebt ihm Wirklichkeit. Die Compoſition bringt zur deutlichen Scheidung, was in der inneren Erzeugung des Bildes noch eingehüllt ſchlummert und ungeſchieden ineinander verläuft, und fördert ſo eine Reihe beſtimmter Geſetze, die ihrer Thätigkeit zu Grund liegen und zugleich durch ſie ſelbſt zum Bewußtſein gelangen, zu Tage. Der Satz des §. 14 ſpricht nun die Qualität in der reinen Einheit zwiſchen Idee und Bild zugleich als quantitatives Verhältniß aus. Die Idee iſt (unbeſchadet der inneren Vielheit der Momente, die ſie enthält) die Einheit; das Bild iſt die Vielheit, denn es gehört der ins Mannigfaltige auseinandergelegten Erſcheinungswelt an. Dieſe beiden Seiten ſollen ſich vollſtändig, ohne

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/34>, abgerufen am 16.04.2024.