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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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Rest auf einer von beiden, decken: dieß ist die Einheit der Einheit und
Vielheit. Die erste Entdeckung, welche das schärfer prüfende Auge an
dem innern Bilde macht, wird nun sein, daß dieses Verhältniß eben als
quantitatives noch nicht richtig abgemessen ist, daß die Attraction und
Expansion nicht rein und voll ineinander aufgehen. Ein Zuviel und ein
Zuwenig wird sich aufdrängen. Das Zuviel ist theils eine Aufnahme
von Solchem, was Anderes ausdrückt, als die Idee, die im vorliegenden
Ganzen erscheinen soll, theils ein Ueberfluß, der diese Idee oder eines
ihrer Momente mehrfach ausdrückt. Die wirkliche Kunst gibt in zahllosen
Werken, welche ausgeführt sind, ehe jene prüfende und abmessende
Compositionsthätigkeit ernstlich vollzogen war, die Beispiele für den ersteren
und den zweiten Fall. In viele religiöse Gemälde sind z. B. rein
genreartige Gruppen eingeführt, welche statt des Schwungs der Erhebung
zum Unendlichen die Behaglichkeit des Lebens darstellen, in Dramen ganze
Figuren und Scenen, welche nicht zur Sache gehören, sondern irgend
eine Form des Charakters, der Sitte u. s. w. außer Zusammenhang mit
der geschichtlichen Grund-Idee des Ganzen breit ausmalen. Interessante
Studien in dieser Richtung lassen sich z. B. an Göthes Faust machen;
so ist des Beschwörungs- und Hexenspucks zu viel, in die Walpurgis-
nacht sind Epigramme auf Zeiterscheinungen aufgenommen, welche in ein
so bedeutendes Werk nicht gehören und ohne einen Apparat sehr zufälliger
Notizen nicht verständlich sind. Das Zuviel im andern Sinne läßt sich
besonders belehrend an einem Ueberfluß der Motivirung (deren Begriff
später auseinanderzusetzen ist, aber für den jetzigen Zweck wohl voraus-
genommen werden kann) nachweisen. Es ist namentlich die Vermischung
des mythischen und rein historischen Standpuncts, die eine doppelte statt
einer einfachen Motivirung herbeiführt: so z. B. in Raphaels Stanzen-
gemälde Leo und Attila, wo Attila durch die Beredtsamkeit des Pabstes
Leo I. zur Umkehr vor Rom bestimmt erscheinen sollte, verschwindet dieses
Motiv ganz unter dem zweiten, der Erscheinung der zwei Apostel Petrus
und Paulus in der Luft; Attila sieht nach diesen, die Beredtsamkeit des
Leo und Leo selbst sind überflüßig geworden. Im Nibelungenlied wird
die Motivirung des Haßes Brunhildens gegen Sigfrid und Chriemhilde
durch einen Ueberfluß von Motiven dunkel: man weiß nicht, zürnt sie,
weil ein bloßer Dienstmann zu hoch geehrt ist, oder aus Eiferfucht; das
kommt daher, daß ein mythischer Zug, Brunhildens Walkyrenstand und
ihre frühere Verlobung mit Sigfrid, halbvergessen dem Bearbeiter
vorschwebt. Doch auch ohne diesen besondern Grund zeigt sich solcher
Ueberfluß der Motivirung selbst bei großen Dichtern. So ist Jago's
tödtlicher Haß gegen Othello von Shakespeare nicht einfach genug
motivirt, indem zu seinem Groll über vermeintliche Zurücksetzung noch der

Reſt auf einer von beiden, decken: dieß iſt die Einheit der Einheit und
Vielheit. Die erſte Entdeckung, welche das ſchärfer prüfende Auge an
dem innern Bilde macht, wird nun ſein, daß dieſes Verhältniß eben als
quantitatives noch nicht richtig abgemeſſen iſt, daß die Attraction und
Expanſion nicht rein und voll ineinander aufgehen. Ein Zuviel und ein
Zuwenig wird ſich aufdrängen. Das Zuviel iſt theils eine Aufnahme
von Solchem, was Anderes ausdrückt, als die Idee, die im vorliegenden
Ganzen erſcheinen ſoll, theils ein Ueberfluß, der dieſe Idee oder eines
ihrer Momente mehrfach ausdrückt. Die wirkliche Kunſt gibt in zahlloſen
Werken, welche ausgeführt ſind, ehe jene prüfende und abmeſſende
Compoſitionsthätigkeit ernſtlich vollzogen war, die Beiſpiele für den erſteren
und den zweiten Fall. In viele religiöſe Gemälde ſind z. B. rein
genreartige Gruppen eingeführt, welche ſtatt des Schwungs der Erhebung
zum Unendlichen die Behaglichkeit des Lebens darſtellen, in Dramen ganze
Figuren und Scenen, welche nicht zur Sache gehören, ſondern irgend
eine Form des Charakters, der Sitte u. ſ. w. außer Zuſammenhang mit
der geſchichtlichen Grund-Idee des Ganzen breit ausmalen. Intereſſante
Studien in dieſer Richtung laſſen ſich z. B. an Göthes Fauſt machen;
ſo iſt des Beſchwörungs- und Hexenſpucks zu viel, in die Walpurgis-
nacht ſind Epigramme auf Zeiterſcheinungen aufgenommen, welche in ein
ſo bedeutendes Werk nicht gehören und ohne einen Apparat ſehr zufälliger
Notizen nicht verſtändlich ſind. Das Zuviel im andern Sinne läßt ſich
beſonders belehrend an einem Ueberfluß der Motivirung (deren Begriff
ſpäter auseinanderzuſetzen iſt, aber für den jetzigen Zweck wohl voraus-
genommen werden kann) nachweiſen. Es iſt namentlich die Vermiſchung
des mythiſchen und rein hiſtoriſchen Standpuncts, die eine doppelte ſtatt
einer einfachen Motivirung herbeiführt: ſo z. B. in Raphaels Stanzen-
gemälde Leo und Attila, wo Attila durch die Beredtſamkeit des Pabſtes
Leo I. zur Umkehr vor Rom beſtimmt erſcheinen ſollte, verſchwindet dieſes
Motiv ganz unter dem zweiten, der Erſcheinung der zwei Apoſtel Petrus
und Paulus in der Luft; Attila ſieht nach dieſen, die Beredtſamkeit des
Leo und Leo ſelbſt ſind überflüßig geworden. Im Nibelungenlied wird
die Motivirung des Haßes Brunhildens gegen Sigfrid und Chriemhilde
durch einen Ueberfluß von Motiven dunkel: man weiß nicht, zürnt ſie,
weil ein bloßer Dienſtmann zu hoch geehrt iſt, oder aus Eiferfucht; das
kommt daher, daß ein mythiſcher Zug, Brunhildens Walkyrenſtand und
ihre frühere Verlobung mit Sigfrid, halbvergeſſen dem Bearbeiter
vorſchwebt. Doch auch ohne dieſen beſondern Grund zeigt ſich ſolcher
Ueberfluß der Motivirung ſelbſt bei großen Dichtern. So iſt Jago’s
tödtlicher Haß gegen Othello von Shakespeare nicht einfach genug
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[23/0035] Reſt auf einer von beiden, decken: dieß iſt die Einheit der Einheit und Vielheit. Die erſte Entdeckung, welche das ſchärfer prüfende Auge an dem innern Bilde macht, wird nun ſein, daß dieſes Verhältniß eben als quantitatives noch nicht richtig abgemeſſen iſt, daß die Attraction und Expanſion nicht rein und voll ineinander aufgehen. Ein Zuviel und ein Zuwenig wird ſich aufdrängen. Das Zuviel iſt theils eine Aufnahme von Solchem, was Anderes ausdrückt, als die Idee, die im vorliegenden Ganzen erſcheinen ſoll, theils ein Ueberfluß, der dieſe Idee oder eines ihrer Momente mehrfach ausdrückt. Die wirkliche Kunſt gibt in zahlloſen Werken, welche ausgeführt ſind, ehe jene prüfende und abmeſſende Compoſitionsthätigkeit ernſtlich vollzogen war, die Beiſpiele für den erſteren und den zweiten Fall. In viele religiöſe Gemälde ſind z. B. rein genreartige Gruppen eingeführt, welche ſtatt des Schwungs der Erhebung zum Unendlichen die Behaglichkeit des Lebens darſtellen, in Dramen ganze Figuren und Scenen, welche nicht zur Sache gehören, ſondern irgend eine Form des Charakters, der Sitte u. ſ. w. außer Zuſammenhang mit der geſchichtlichen Grund-Idee des Ganzen breit ausmalen. Intereſſante Studien in dieſer Richtung laſſen ſich z. B. an Göthes Fauſt machen; ſo iſt des Beſchwörungs- und Hexenſpucks zu viel, in die Walpurgis- nacht ſind Epigramme auf Zeiterſcheinungen aufgenommen, welche in ein ſo bedeutendes Werk nicht gehören und ohne einen Apparat ſehr zufälliger Notizen nicht verſtändlich ſind. Das Zuviel im andern Sinne läßt ſich beſonders belehrend an einem Ueberfluß der Motivirung (deren Begriff ſpäter auseinanderzuſetzen iſt, aber für den jetzigen Zweck wohl voraus- genommen werden kann) nachweiſen. Es iſt namentlich die Vermiſchung des mythiſchen und rein hiſtoriſchen Standpuncts, die eine doppelte ſtatt einer einfachen Motivirung herbeiführt: ſo z. B. in Raphaels Stanzen- gemälde Leo und Attila, wo Attila durch die Beredtſamkeit des Pabſtes Leo I. zur Umkehr vor Rom beſtimmt erſcheinen ſollte, verſchwindet dieſes Motiv ganz unter dem zweiten, der Erſcheinung der zwei Apoſtel Petrus und Paulus in der Luft; Attila ſieht nach dieſen, die Beredtſamkeit des Leo und Leo ſelbſt ſind überflüßig geworden. Im Nibelungenlied wird die Motivirung des Haßes Brunhildens gegen Sigfrid und Chriemhilde durch einen Ueberfluß von Motiven dunkel: man weiß nicht, zürnt ſie, weil ein bloßer Dienſtmann zu hoch geehrt iſt, oder aus Eiferfucht; das kommt daher, daß ein mythiſcher Zug, Brunhildens Walkyrenſtand und ihre frühere Verlobung mit Sigfrid, halbvergeſſen dem Bearbeiter vorſchwebt. Doch auch ohne dieſen beſondern Grund zeigt ſich ſolcher Ueberfluß der Motivirung ſelbſt bei großen Dichtern. So iſt Jago’s tödtlicher Haß gegen Othello von Shakespeare nicht einfach genug motivirt, indem zu ſeinem Groll über vermeintliche Zurückſetzung noch der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/35>, abgerufen am 28.03.2024.