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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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unbestimmte Menge von Individuen derselben Art hinausweist. Im Reineke
Voß gibt es eigentlich nur Einen Löwen, Hasen, Fuchs u. s. w. mit ihrer
respectiven engeren Familie; dennoch treten auch die Vetter und Basen auf
und es stört die Illusion nicht, daß neben dem Einen Exemplar sich auch die
Menge zeigt, die es repräsentirt. So ist im Landschaftgemälde durch
verschwindende Fernen, Berge, Ebenen, Baummassen angedeutet, daß der
Ramen nicht wirklich die unendliche Welt einschließt, in der Musik ist
jeder Ton Glied einer unendlichen Kette, die über das vorliegende Kunst-
werk hinausliegt, und das Finale scheint oft zu zweifeln, wo in der
angeschlagenen Tonfolge es Halt machen wolle, im Drama sind am Ende
des Gewebes die Fäden sichtbar, die auf den in der Wirklichkeit fortlau-
fenden Fluß der Geschichte hinausweisen; die bekannte Frage über die
Unbestimmtheit des Abschlusses im Epos wollen wir hier nicht beiziehen,
weil sie in der That zu speziell ist. Dieser an den Grenzen des Gewebes
sichtbare Zettel ist die an sich unschädliche Reminiscenz an die Wirklich-
keit als einen unendlichen Fluß (§. 10 und 11). Unschädlich: denn daß in
diesem endlosen Verlauf die Idee anseinandergezogen ist in jene Breite,
wo das Schönste nicht wahrhaft schön, sondern mit dem störend Häßlichen
vermischt, daß daher ein wirklich schöner Ausschnitt aus diesem äußerlich
Unendlichen eine Täuschung ist, das vergißt der Zuschauer über der Macht
der Behandlung, welche auch die äußersten, an der sinnlichen Grenze des
Kunstwerks liegenden Theile zusammenfaßt in die Licht- Farben- Linien-
Ton- Handlungs-Einheit des Ganzen. Ein gutes Porträt z. B. zeigt
ein Individuum in seinem wahren Sein; doch fehlen die Einzelnheiten
nicht, die uns gestehen, daß in der Wirklichkeit dieses Individuums ein
solcher absoluter Moment, wo es ganz ist, was es ist, nicht gegeben ist,
daß es hiezu jener Zusammenziehung (§. 53) bedurfte; zudem ist es ja
unserem Bewußtsein ganz gegenwärtig, daß außer dem Bilde das wirk-
liche Individuum mitten in den unendlichen Abhängigkeiten der unerbitt-
lichen Realität lebt oder lebte; allein der Genius seines Lebens, sein
leuchtendes Urbild, vom Künstler geschaffen, steht zwischen uns und ihm und
hält es gleichsam mit bergendem, rettendem Arm umfaßt, resorbirt gleich-
sam in jedem Momente das so eben auftauchende Bild seiner gemeinen
Wirklichkeit. Daher tragen wir auch nach beendigter Anschauung des
Kunstwerks seine erlösende Kraft hinein in das von ihm erfaßte Gebiet
des Lebens, wenn wir, von jenem noch durchdrungen, es betreten: wir
kennen seine Mängel, aber der verklärende geistige Schleier liegt noch
frisch darüber. Im ersten Schritte zur Ausführung nun aber, in der
Skizze, wird es sich finden, daß das innere Bild, obgleich einerseits noch
zu dünn und idealistisch, andererseits an seinen Rändern hin zu viel
Breite des Stoffes hat, um sie in die geistige Einheit so zu befassen, daß

unbeſtimmte Menge von Individuen derſelben Art hinausweist. Im Reineke
Voß gibt es eigentlich nur Einen Löwen, Haſen, Fuchs u. ſ. w. mit ihrer
reſpectiven engeren Familie; dennoch treten auch die Vetter und Baſen auf
und es ſtört die Illuſion nicht, daß neben dem Einen Exemplar ſich auch die
Menge zeigt, die es repräſentirt. So iſt im Landſchaftgemälde durch
verſchwindende Fernen, Berge, Ebenen, Baummaſſen angedeutet, daß der
Ramen nicht wirklich die unendliche Welt einſchließt, in der Muſik iſt
jeder Ton Glied einer unendlichen Kette, die über das vorliegende Kunſt-
werk hinausliegt, und das Finale ſcheint oft zu zweifeln, wo in der
angeſchlagenen Tonfolge es Halt machen wolle, im Drama ſind am Ende
des Gewebes die Fäden ſichtbar, die auf den in der Wirklichkeit fortlau-
fenden Fluß der Geſchichte hinausweiſen; die bekannte Frage über die
Unbeſtimmtheit des Abſchluſſes im Epos wollen wir hier nicht beiziehen,
weil ſie in der That zu ſpeziell iſt. Dieſer an den Grenzen des Gewebes
ſichtbare Zettel iſt die an ſich unſchädliche Reminiſcenz an die Wirklich-
keit als einen unendlichen Fluß (§. 10 und 11). Unſchädlich: denn daß in
dieſem endloſen Verlauf die Idee anseinandergezogen iſt in jene Breite,
wo das Schönſte nicht wahrhaft ſchön, ſondern mit dem ſtörend Häßlichen
vermiſcht, daß daher ein wirklich ſchöner Ausſchnitt aus dieſem äußerlich
Unendlichen eine Täuſchung iſt, das vergißt der Zuſchauer über der Macht
der Behandlung, welche auch die äußerſten, an der ſinnlichen Grenze des
Kunſtwerks liegenden Theile zuſammenfaßt in die Licht- Farben- Linien-
Ton- Handlungs-Einheit des Ganzen. Ein gutes Porträt z. B. zeigt
ein Individuum in ſeinem wahren Sein; doch fehlen die Einzelnheiten
nicht, die uns geſtehen, daß in der Wirklichkeit dieſes Individuums ein
ſolcher abſoluter Moment, wo es ganz iſt, was es iſt, nicht gegeben iſt,
daß es hiezu jener Zuſammenziehung (§. 53) bedurfte; zudem iſt es ja
unſerem Bewußtſein ganz gegenwärtig, daß außer dem Bilde das wirk-
liche Individuum mitten in den unendlichen Abhängigkeiten der unerbitt-
lichen Realität lebt oder lebte; allein der Genius ſeines Lebens, ſein
leuchtendes Urbild, vom Künſtler geſchaffen, ſteht zwiſchen uns und ihm und
hält es gleichſam mit bergendem, rettendem Arm umfaßt, reſorbirt gleich-
ſam in jedem Momente das ſo eben auftauchende Bild ſeiner gemeinen
Wirklichkeit. Daher tragen wir auch nach beendigter Anſchauung des
Kunſtwerks ſeine erlöſende Kraft hinein in das von ihm erfaßte Gebiet
des Lebens, wenn wir, von jenem noch durchdrungen, es betreten: wir
kennen ſeine Mängel, aber der verklärende geiſtige Schleier liegt noch
friſch darüber. Im erſten Schritte zur Ausführung nun aber, in der
Skizze, wird es ſich finden, daß das innere Bild, obgleich einerſeits noch
zu dünn und idealiſtiſch, andererſeits an ſeinen Rändern hin zu viel
Breite des Stoffes hat, um ſie in die geiſtige Einheit ſo zu befaſſen, daß

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[52/0064] unbeſtimmte Menge von Individuen derſelben Art hinausweist. Im Reineke Voß gibt es eigentlich nur Einen Löwen, Haſen, Fuchs u. ſ. w. mit ihrer reſpectiven engeren Familie; dennoch treten auch die Vetter und Baſen auf und es ſtört die Illuſion nicht, daß neben dem Einen Exemplar ſich auch die Menge zeigt, die es repräſentirt. So iſt im Landſchaftgemälde durch verſchwindende Fernen, Berge, Ebenen, Baummaſſen angedeutet, daß der Ramen nicht wirklich die unendliche Welt einſchließt, in der Muſik iſt jeder Ton Glied einer unendlichen Kette, die über das vorliegende Kunſt- werk hinausliegt, und das Finale ſcheint oft zu zweifeln, wo in der angeſchlagenen Tonfolge es Halt machen wolle, im Drama ſind am Ende des Gewebes die Fäden ſichtbar, die auf den in der Wirklichkeit fortlau- fenden Fluß der Geſchichte hinausweiſen; die bekannte Frage über die Unbeſtimmtheit des Abſchluſſes im Epos wollen wir hier nicht beiziehen, weil ſie in der That zu ſpeziell iſt. Dieſer an den Grenzen des Gewebes ſichtbare Zettel iſt die an ſich unſchädliche Reminiſcenz an die Wirklich- keit als einen unendlichen Fluß (§. 10 und 11). Unſchädlich: denn daß in dieſem endloſen Verlauf die Idee anseinandergezogen iſt in jene Breite, wo das Schönſte nicht wahrhaft ſchön, ſondern mit dem ſtörend Häßlichen vermiſcht, daß daher ein wirklich ſchöner Ausſchnitt aus dieſem äußerlich Unendlichen eine Täuſchung iſt, das vergißt der Zuſchauer über der Macht der Behandlung, welche auch die äußerſten, an der ſinnlichen Grenze des Kunſtwerks liegenden Theile zuſammenfaßt in die Licht- Farben- Linien- Ton- Handlungs-Einheit des Ganzen. Ein gutes Porträt z. B. zeigt ein Individuum in ſeinem wahren Sein; doch fehlen die Einzelnheiten nicht, die uns geſtehen, daß in der Wirklichkeit dieſes Individuums ein ſolcher abſoluter Moment, wo es ganz iſt, was es iſt, nicht gegeben iſt, daß es hiezu jener Zuſammenziehung (§. 53) bedurfte; zudem iſt es ja unſerem Bewußtſein ganz gegenwärtig, daß außer dem Bilde das wirk- liche Individuum mitten in den unendlichen Abhängigkeiten der unerbitt- lichen Realität lebt oder lebte; allein der Genius ſeines Lebens, ſein leuchtendes Urbild, vom Künſtler geſchaffen, ſteht zwiſchen uns und ihm und hält es gleichſam mit bergendem, rettendem Arm umfaßt, reſorbirt gleich- ſam in jedem Momente das ſo eben auftauchende Bild ſeiner gemeinen Wirklichkeit. Daher tragen wir auch nach beendigter Anſchauung des Kunſtwerks ſeine erlöſende Kraft hinein in das von ihm erfaßte Gebiet des Lebens, wenn wir, von jenem noch durchdrungen, es betreten: wir kennen ſeine Mängel, aber der verklärende geiſtige Schleier liegt noch friſch darüber. Im erſten Schritte zur Ausführung nun aber, in der Skizze, wird es ſich finden, daß das innere Bild, obgleich einerſeits noch zu dünn und idealiſtiſch, andererſeits an ſeinen Rändern hin zu viel Breite des Stoffes hat, um ſie in die geiſtige Einheit ſo zu befaſſen, daß

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/64>, abgerufen am 29.03.2024.