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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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§. 512.

Die erneuerte Anschauung und ausdrückliche Beobachtung setzt aber nicht
nur eine allgemeine Uebung des Anschauungs-Vermögens (§. 510), sondern
nach eine Bildung desselben durch wirkliche Thätigkeit am Materiale (§. 491)
voraus, ja sie läßt sich von der letztern so wenig trennen, daß dieselbe wenigstens
mit den ausdrücklicheren Weisen des Anschauens (§. 511, 2.) entweder als vor-
läusige versuchsweise Ausführung einzelner Theile des Kunstwerks (Studien)
oder als schon gültige theilweise Ausführung bereits Hand in Hand geht.

Wir werden zu einer neuen Erörterung, der über die Technik nämlich,
noch stärker, als bisher, hingedrängt. Schon die früher vorausgesetzte allge-
meine Uebung des Blicks begreift auch die Uebung durch Technik schon in sich:
nur durch Darstellen lernt man sehen, nur das Auge erkennt Formen,
zu dem eine Hand gehört, welche sie schon nachzubilden versucht hat.
Nimmt aber nun der Künstler ein Naturschönes ausdrücklich vor sich, um
das zu unbestimmte innere Bild desselben zu schärfen und zu beleben, so
sieht er es natürlich nicht blos an, sondern er bildet es sogleich nach.
Auch diese wirkliche Ausführung muß, wiewohl es sich nicht mehr blos
von der Voraussetzung einer technischen Thätigkeit als einer vorhergegan-
genen handelt, sondern eine solche nun als gegenwärtige eintritt in unsern
Zusammenhang, hier vorausgenommen werden, denn sie gehört zur Vor-
arbeit der Ausführung und der Accent fällt nicht auf die Technik, sondern
auf eine erneute Anforderung des Naturschönen an die Anschauung und
Auffaßung. Unzweifelhaft gilt es von der sogenannten "Studie" (man
gebraucht das Wort im Unterschied vom Studium als allgemeiner Bildung
der künstlerischen Fähigkeiten weiblich), daß sie unter den Begriff der
Vorarbeit fällt. Ein einzelner Baum, irgend ein Landschaftstück, Thier,
menschliche Gestalt oder ein Kopf kann nun von einem Künstler mit
voller Virtuosität ausgeführt werden, aber sofern die Ausführung nur den
Zweck hatte, bestimmte Formen genau zu erfaßen und in künstlerischer
Nachahmung zu fesseln mit dem Vorbehalte, diese Nachahmung eines Stoffs,
der nur einen Theil des Kunstwerks bilden soll, bei der Aufführung des
Ganzen selbst wieder nachzuahmen, ist sie eben eine Studie. Von Studien
nach Werken anderer Künstler reden wir hier nicht, denn sie haben nicht
diese Bedeutung, sondern gehören zu den allgemeinen Ausbildungsmitteln
des Künstlers. Uebrigens macht nicht nur der Bildhauer und Maler,
sondern auch der Dichter Studien, wenn er einzelne Theile eines Ganzen
aus frischer Erinnerung einer aufmerksamen Anschauung vorläufig aus-
führt, wobei natürlich die zweite Nachahmung wegfällt, wofern man nicht
die weitere Ueberarbeitung des Concepts und die letzte Schrift als solche
ansehen will. Wenn nun aber ein Naturschönes als Theil eines Kunst-

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§. 512.

Die erneuerte Anſchauung und ausdrückliche Beobachtung ſetzt aber nicht
nur eine allgemeine Uebung des Anſchauungs-Vermögens (§. 510), ſondern
nach eine Bildung deſſelben durch wirkliche Thätigkeit am Materiale (§. 491)
voraus, ja ſie läßt ſich von der letztern ſo wenig trennen, daß dieſelbe wenigſtens
mit den ausdrücklicheren Weiſen des Anſchauens (§. 511, 2.) entweder als vor-
läuſige verſuchsweiſe Ausführung einzelner Theile des Kunſtwerks (Studien)
oder als ſchon gültige theilweiſe Ausführung bereits Hand in Hand geht.

Wir werden zu einer neuen Erörterung, der über die Technik nämlich,
noch ſtärker, als bisher, hingedrängt. Schon die früher vorausgeſetzte allge-
meine Uebung des Blicks begreift auch die Uebung durch Technik ſchon in ſich:
nur durch Darſtellen lernt man ſehen, nur das Auge erkennt Formen,
zu dem eine Hand gehört, welche ſie ſchon nachzubilden verſucht hat.
Nimmt aber nun der Künſtler ein Naturſchönes ausdrücklich vor ſich, um
das zu unbeſtimmte innere Bild deſſelben zu ſchärfen und zu beleben, ſo
ſieht er es natürlich nicht blos an, ſondern er bildet es ſogleich nach.
Auch dieſe wirkliche Ausführung muß, wiewohl es ſich nicht mehr blos
von der Vorausſetzung einer techniſchen Thätigkeit als einer vorhergegan-
genen handelt, ſondern eine ſolche nun als gegenwärtige eintritt in unſern
Zuſammenhang, hier vorausgenommen werden, denn ſie gehört zur Vor-
arbeit der Ausführung und der Accent fällt nicht auf die Technik, ſondern
auf eine erneute Anforderung des Naturſchönen an die Anſchauung und
Auffaßung. Unzweifelhaft gilt es von der ſogenannten „Studie“ (man
gebraucht das Wort im Unterſchied vom Studium als allgemeiner Bildung
der künſtleriſchen Fähigkeiten weiblich), daß ſie unter den Begriff der
Vorarbeit fällt. Ein einzelner Baum, irgend ein Landſchaftſtück, Thier,
menſchliche Geſtalt oder ein Kopf kann nun von einem Künſtler mit
voller Virtuoſität ausgeführt werden, aber ſofern die Ausführung nur den
Zweck hatte, beſtimmte Formen genau zu erfaßen und in künſtleriſcher
Nachahmung zu feſſeln mit dem Vorbehalte, dieſe Nachahmung eines Stoffs,
der nur einen Theil des Kunſtwerks bilden ſoll, bei der Aufführung des
Ganzen ſelbſt wieder nachzuahmen, iſt ſie eben eine Studie. Von Studien
nach Werken anderer Künſtler reden wir hier nicht, denn ſie haben nicht
dieſe Bedeutung, ſondern gehören zu den allgemeinen Ausbildungsmitteln
des Künſtlers. Uebrigens macht nicht nur der Bildhauer und Maler,
ſondern auch der Dichter Studien, wenn er einzelne Theile eines Ganzen
aus friſcher Erinnerung einer aufmerkſamen Anſchauung vorläufig aus-
führt, wobei natürlich die zweite Nachahmung wegfällt, wofern man nicht
die weitere Ueberarbeitung des Concepts und die letzte Schrift als ſolche
anſehen will. Wenn nun aber ein Naturſchönes als Theil eines Kunſt-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/95>, abgerufen am 28.03.2024.