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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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uns hier beschäftigen, möglich war, in Aegypten, überdieß neben seiner
architektonischen Form ebensosehr noch ein großes System von Tafeln für
jene symbolische Geheimnißschrift, die Hieroglyphen.

§. 579.

Ebenso bewährt sich an der Baukunst die in §. 430 aufgezeigte Eigen-
schaft dieser Phantasie dadurch, daß das Erhabene, welches im Wesen dieser
Kunst an sich liegt, hier zum Ungeheuern, ausschweifend Prachtvollen, dunkel
Majestätischen wird. Es fehlt nicht die strenge Messung, aber dualistisch
wuchert unter und neben ihr maaßlose Ausdehnung und wilde Gestaltenbildung:
der Ausdruck einer noch unfreien Versenkung in die Natur, die sich zugleich in
der auch neben dem freien Bau fortbestehenden Neigung zum Bauen in natür-
lichem Fels kund gibt.

Wir nehmen den Schluß des §. in der Erläuterung herauf und sagen
von dieser Baukunst der dunkeln, symbolischen Phantasie, daß die Ver-
senkung in die Natur, welche nach §. 558 neben der klaren Verständig-
keit aller Baukunst eigen ist, von ihr in einem bestimmten engeren Sinne
gilt. Zunächst in dem buchstäblichen, daß der Orient es liebt, den ge-
wachsenen Stein architektonisch zu bearbeiten: ein Verfahren, dessen Un-
freiheit schon zu §. 562, 1. auseinandergesetzt ist. Die Zufälligkeit und
Willkühr der Formen, die daraus hervorgeht, werden wir vorzüglich in
den indischen Höhlentempeln ausgesprochen finden. Der Orient (und
Aegypten) haben die Vorliebe zur Arbeit in natürlichem Fels auch nach
der Ausbildung des Baus aus freigefügtem Materiale nie ganz aufgegeben.
In Griechenland finden sich nur noch vereinzelte Nachklänge. Aber auch
der freie Bau des Orients selbst ist noch zu sehr naturartig, nicht wahre,
volle Idealisirung der unorganischen Natur, sondern streckt und dehnt sich
bergähnlich, massenhaft ungegliedert. Den Ausdruck ungegliedert werden
wir in der Folge bedeutend beschränken müssen, dabei aber das Urtheil im
Wesentlichen doch festhalten. Dieß naturartige Thun, Thürmen, Wühlen
ist in dem ungeheuern Aufgebot von Menschenkräften zugleich ein Verachten
der Freiheit, des Menschenwerths; man erinnere sich allein, daß an der
Pyramide des Cheops nach Herodot 100,000 Menschen mit den Vorarbeiten
vierzig Jahre lang beschäftigt waren, man denke an die Riesenarbeit der
indischen Höhlenbauten, wo ganze Gebirge harten Granits Stundenweit in
den verschiedensten Formen, auch in mehreren Stockwerken übereinander
durcharbeitet sind. Diese Art der Kraftentwicklung erinnert an die furcht-
bare Thätigkeit des Planeten, wodurch die Gebirge entstanden sind, an

uns hier beſchäftigen, möglich war, in Aegypten, überdieß neben ſeiner
architektoniſchen Form ebenſoſehr noch ein großes Syſtem von Tafeln für
jene ſymboliſche Geheimnißſchrift, die Hieroglyphen.

§. 579.

Ebenſo bewährt ſich an der Baukunſt die in §. 430 aufgezeigte Eigen-
ſchaft dieſer Phantaſie dadurch, daß das Erhabene, welches im Weſen dieſer
Kunſt an ſich liegt, hier zum Ungeheuern, ausſchweifend Prachtvollen, dunkel
Majeſtätiſchen wird. Es fehlt nicht die ſtrenge Meſſung, aber dualiſtiſch
wuchert unter und neben ihr maaßloſe Ausdehnung und wilde Geſtaltenbildung:
der Ausdruck einer noch unfreien Verſenkung in die Natur, die ſich zugleich in
der auch neben dem freien Bau fortbeſtehenden Neigung zum Bauen in natür-
lichem Fels kund gibt.

Wir nehmen den Schluß des §. in der Erläuterung herauf und ſagen
von dieſer Baukunſt der dunkeln, ſymboliſchen Phantaſie, daß die Ver-
ſenkung in die Natur, welche nach §. 558 neben der klaren Verſtändig-
keit aller Baukunſt eigen iſt, von ihr in einem beſtimmten engeren Sinne
gilt. Zunächſt in dem buchſtäblichen, daß der Orient es liebt, den ge-
wachſenen Stein architektoniſch zu bearbeiten: ein Verfahren, deſſen Un-
freiheit ſchon zu §. 562, 1. auseinandergeſetzt iſt. Die Zufälligkeit und
Willkühr der Formen, die daraus hervorgeht, werden wir vorzüglich in
den indiſchen Höhlentempeln ausgeſprochen finden. Der Orient (und
Aegypten) haben die Vorliebe zur Arbeit in natürlichem Fels auch nach
der Ausbildung des Baus aus freigefügtem Materiale nie ganz aufgegeben.
In Griechenland finden ſich nur noch vereinzelte Nachklänge. Aber auch
der freie Bau des Orients ſelbſt iſt noch zu ſehr naturartig, nicht wahre,
volle Idealiſirung der unorganiſchen Natur, ſondern ſtreckt und dehnt ſich
bergähnlich, maſſenhaft ungegliedert. Den Ausdruck ungegliedert werden
wir in der Folge bedeutend beſchränken müſſen, dabei aber das Urtheil im
Weſentlichen doch feſthalten. Dieß naturartige Thun, Thürmen, Wühlen
iſt in dem ungeheuern Aufgebot von Menſchenkräften zugleich ein Verachten
der Freiheit, des Menſchenwerths; man erinnere ſich allein, daß an der
Pyramide des Cheops nach Herodot 100,000 Menſchen mit den Vorarbeiten
vierzig Jahre lang beſchäftigt waren, man denke an die Rieſenarbeit der
indiſchen Höhlenbauten, wo ganze Gebirge harten Granits Stundenweit in
den verſchiedenſten Formen, auch in mehreren Stockwerken übereinander
durcharbeitet ſind. Dieſe Art der Kraftentwicklung erinnert an die furcht-
bare Thätigkeit des Planeten, wodurch die Gebirge entſtanden ſind, an

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[272/0112] uns hier beſchäftigen, möglich war, in Aegypten, überdieß neben ſeiner architektoniſchen Form ebenſoſehr noch ein großes Syſtem von Tafeln für jene ſymboliſche Geheimnißſchrift, die Hieroglyphen. §. 579. Ebenſo bewährt ſich an der Baukunſt die in §. 430 aufgezeigte Eigen- ſchaft dieſer Phantaſie dadurch, daß das Erhabene, welches im Weſen dieſer Kunſt an ſich liegt, hier zum Ungeheuern, ausſchweifend Prachtvollen, dunkel Majeſtätiſchen wird. Es fehlt nicht die ſtrenge Meſſung, aber dualiſtiſch wuchert unter und neben ihr maaßloſe Ausdehnung und wilde Geſtaltenbildung: der Ausdruck einer noch unfreien Verſenkung in die Natur, die ſich zugleich in der auch neben dem freien Bau fortbeſtehenden Neigung zum Bauen in natür- lichem Fels kund gibt. Wir nehmen den Schluß des §. in der Erläuterung herauf und ſagen von dieſer Baukunſt der dunkeln, ſymboliſchen Phantaſie, daß die Ver- ſenkung in die Natur, welche nach §. 558 neben der klaren Verſtändig- keit aller Baukunſt eigen iſt, von ihr in einem beſtimmten engeren Sinne gilt. Zunächſt in dem buchſtäblichen, daß der Orient es liebt, den ge- wachſenen Stein architektoniſch zu bearbeiten: ein Verfahren, deſſen Un- freiheit ſchon zu §. 562, 1. auseinandergeſetzt iſt. Die Zufälligkeit und Willkühr der Formen, die daraus hervorgeht, werden wir vorzüglich in den indiſchen Höhlentempeln ausgeſprochen finden. Der Orient (und Aegypten) haben die Vorliebe zur Arbeit in natürlichem Fels auch nach der Ausbildung des Baus aus freigefügtem Materiale nie ganz aufgegeben. In Griechenland finden ſich nur noch vereinzelte Nachklänge. Aber auch der freie Bau des Orients ſelbſt iſt noch zu ſehr naturartig, nicht wahre, volle Idealiſirung der unorganiſchen Natur, ſondern ſtreckt und dehnt ſich bergähnlich, maſſenhaft ungegliedert. Den Ausdruck ungegliedert werden wir in der Folge bedeutend beſchränken müſſen, dabei aber das Urtheil im Weſentlichen doch feſthalten. Dieß naturartige Thun, Thürmen, Wühlen iſt in dem ungeheuern Aufgebot von Menſchenkräften zugleich ein Verachten der Freiheit, des Menſchenwerths; man erinnere ſich allein, daß an der Pyramide des Cheops nach Herodot 100,000 Menſchen mit den Vorarbeiten vierzig Jahre lang beſchäftigt waren, man denke an die Rieſenarbeit der indiſchen Höhlenbauten, wo ganze Gebirge harten Granits Stundenweit in den verſchiedenſten Formen, auch in mehreren Stockwerken übereinander durcharbeitet ſind. Dieſe Art der Kraftentwicklung erinnert an die furcht- bare Thätigkeit des Planeten, wodurch die Gebirge entſtanden ſind, an

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/112>, abgerufen am 19.04.2024.