Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Eindruck dieser aufstrebenden Colosse zu dem Hochbau Assyriens als reinem
einseitigen Kraft- und Außenbau noch bestimmter, als durch den romanischen
Bau, nämlich auch in Beziehung auf das Massenhafte, zurückversetzt
glauben, wenn nicht diese formreiche Entwicklung unmittelbar aussagte,
daß hier ein Gliederungsgesetz, das seinen wesentlichen Ausdruck in einem
reinen Innenbau hat, sich nur überdieß nach außen wirft, um allem
Volke dessen Herrlichkeit zu verkündigen und es durch die prachtvolle Pforte
in seine Räume zu ziehen. Es strebt aber überhaupt der ganze Bau zum
Colossalen und dieses Streben gemahnt überhaupt orientalisch. Auf eine
Verwandtschaft des Mittelalters mit dem Orient haben wir aus Anlaß
des Charakters der Ornamentik schon zu §. 590 hingewiesen, sie ist ebenso
hier hervorzuheben, denn aus einer Vergleichung von §. 343 mit 354,
siehe insbesondere Anm. 1, von §. 426 ff. mit 447 ff., ergibt sich, daß der
beiden Weltanschauungen gemeinschaftliche Dualismus beide zum quantitativ
Erhabenen in der Kunst treiben mußte; aber der Dualismus des abend-
ländisch germanischen Geistes ist nicht ein Schwanken zwischen dumpfem
Brüten und wilder Trunkenheit, sondern das eine der extremen Momente
ist tiefe Innerlichkeit und die hervorschießende Kraft und Luft, die das
andere bildet, wird in seiner Darstellung durch architektonische Massen von
dieser Innerlichkeit durchdrungen und gegliedert.

§. 592.

1.

Die classischen Einzelglieder werden in bewegtere Formen verwandelt,
die herrschende tiefe Hohlkehle verstärkt den Charakter des Innerlichen, in der
Abstoßung der Ecken und Uebereckstellung, der Durchführung des Polygonischen
überhaupt, einem Verhältnißspiele, das ebensosehr ein Gefühl der Freiheit in
Beherrschung des Schweren, als eine strenge Bindung darstellt, dringt in neuer
2.Weise der Charakter des Krystallischen durch. Der Bildungstrieb der
Phantasie legt sich aber zugleich in einer unendlichen Vielheit des Ornaments
nieder, das alle Oeffnungen und Flächen füllend, überkleidend, durchbrechend,
allem Aufstrebenden Spitzen aufsetzend sich vorzüglich in den Fensterfüllungen,
an den Facaden, an der Thurmspitze ansammelt. Die Regel, welche diese
Vielheit beherrscht, ist ein geometrischer Schematismus, der das Einfache ver-
ästend fortgliedert, dasselbe Gebilde in verschiedenen Größen in sich selbst wieder-
holt, in verschiedenen Stellungen um einen Mittelpunct gruppirt, in dessen
Achsenwirkung nun das krystallische Gesetz, hier in freierer Weise, wiederkehrt.
Die reichen Pflanzenformen werden von derselben Gesetzmäßigkeit beherrscht.
Endlich aber zieht, alles Horizontale durchschneidend, der Schwung nach oben
diese ganze Fülle des Schmucks in gemeinsamer Richtung empor. Die Glas-
malerei vollendet die Wirkung des Innerlichen, die Plastik entfaltet ihren
reichen Beitrag vorzüglich am Portal.


Eindruck dieſer aufſtrebenden Coloſſe zu dem Hochbau Aſſyriens als reinem
einſeitigen Kraft- und Außenbau noch beſtimmter, als durch den romaniſchen
Bau, nämlich auch in Beziehung auf das Maſſenhafte, zurückverſetzt
glauben, wenn nicht dieſe formreiche Entwicklung unmittelbar ausſagte,
daß hier ein Gliederungsgeſetz, das ſeinen weſentlichen Ausdruck in einem
reinen Innenbau hat, ſich nur überdieß nach außen wirft, um allem
Volke deſſen Herrlichkeit zu verkündigen und es durch die prachtvolle Pforte
in ſeine Räume zu ziehen. Es ſtrebt aber überhaupt der ganze Bau zum
Coloſſalen und dieſes Streben gemahnt überhaupt orientaliſch. Auf eine
Verwandtſchaft des Mittelalters mit dem Orient haben wir aus Anlaß
des Charakters der Ornamentik ſchon zu §. 590 hingewieſen, ſie iſt ebenſo
hier hervorzuheben, denn aus einer Vergleichung von §. 343 mit 354,
ſiehe insbeſondere Anm. 1, von §. 426 ff. mit 447 ff., ergibt ſich, daß der
beiden Weltanſchauungen gemeinſchaftliche Dualiſmus beide zum quantitativ
Erhabenen in der Kunſt treiben mußte; aber der Dualiſmus des abend-
ländiſch germaniſchen Geiſtes iſt nicht ein Schwanken zwiſchen dumpfem
Brüten und wilder Trunkenheit, ſondern das eine der extremen Momente
iſt tiefe Innerlichkeit und die hervorſchießende Kraft und Luft, die das
andere bildet, wird in ſeiner Darſtellung durch architektoniſche Maſſen von
dieſer Innerlichkeit durchdrungen und gegliedert.

§. 592.

1.

Die claſſiſchen Einzelglieder werden in bewegtere Formen verwandelt,
die herrſchende tiefe Hohlkehle verſtärkt den Charakter des Innerlichen, in der
Abſtoßung der Ecken und Uebereckſtellung, der Durchführung des Polygoniſchen
überhaupt, einem Verhältnißſpiele, das ebenſoſehr ein Gefühl der Freiheit in
Beherrſchung des Schweren, als eine ſtrenge Bindung darſtellt, dringt in neuer
2.Weiſe der Charakter des Kryſtalliſchen durch. Der Bildungstrieb der
Phantaſie legt ſich aber zugleich in einer unendlichen Vielheit des Ornaments
nieder, das alle Oeffnungen und Flächen füllend, überkleidend, durchbrechend,
allem Aufſtrebenden Spitzen aufſetzend ſich vorzüglich in den Fenſterfüllungen,
an den Façaden, an der Thurmſpitze anſammelt. Die Regel, welche dieſe
Vielheit beherrſcht, iſt ein geometriſcher Schematiſmus, der das Einfache ver-
äſtend fortgliedert, daſſelbe Gebilde in verſchiedenen Größen in ſich ſelbſt wieder-
holt, in verſchiedenen Stellungen um einen Mittelpunct gruppirt, in deſſen
Achſenwirkung nun das kryſtalliſche Geſetz, hier in freierer Weiſe, wiederkehrt.
Die reichen Pflanzenformen werden von derſelben Geſetzmäßigkeit beherrſcht.
Endlich aber zieht, alles Horizontale durchſchneidend, der Schwung nach oben
dieſe ganze Fülle des Schmucks in gemeinſamer Richtung empor. Die Glas-
malerei vollendet die Wirkung des Innerlichen, die Plaſtik entfaltet ihren
reichen Beitrag vorzüglich am Portal.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0156" n="316"/>
Eindruck die&#x017F;er auf&#x017F;trebenden Colo&#x017F;&#x017F;e zu dem Hochbau A&#x017F;&#x017F;yriens als reinem<lb/>
ein&#x017F;eitigen Kraft- und Außenbau noch be&#x017F;timmter, als durch den romani&#x017F;chen<lb/>
Bau, nämlich auch in Beziehung auf das Ma&#x017F;&#x017F;enhafte, zurückver&#x017F;etzt<lb/>
glauben, wenn nicht die&#x017F;e formreiche Entwicklung unmittelbar aus&#x017F;agte,<lb/>
daß hier ein Gliederungsge&#x017F;etz, das &#x017F;einen we&#x017F;entlichen Ausdruck in einem<lb/>
reinen Innenbau hat, &#x017F;ich nur überdieß nach außen wirft, um allem<lb/>
Volke de&#x017F;&#x017F;en Herrlichkeit zu verkündigen und es durch die prachtvolle Pforte<lb/>
in &#x017F;eine Räume zu ziehen. Es &#x017F;trebt aber überhaupt der ganze Bau zum<lb/>
Colo&#x017F;&#x017F;alen und die&#x017F;es Streben gemahnt überhaupt orientali&#x017F;ch. Auf eine<lb/>
Verwandt&#x017F;chaft des Mittelalters mit dem Orient haben wir aus Anlaß<lb/>
des Charakters der Ornamentik &#x017F;chon zu §. 590 hingewie&#x017F;en, &#x017F;ie i&#x017F;t eben&#x017F;o<lb/>
hier hervorzuheben, denn aus einer Vergleichung von §. 343 mit 354,<lb/>
&#x017F;iehe insbe&#x017F;ondere Anm. <hi rendition="#sub">1</hi>, von §. 426 ff. mit 447 ff., ergibt &#x017F;ich, daß der<lb/>
beiden Weltan&#x017F;chauungen gemein&#x017F;chaftliche Duali&#x017F;mus beide zum quantitativ<lb/><hi rendition="#g">Erhabenen</hi> in der Kun&#x017F;t treiben mußte; aber der Duali&#x017F;mus des abend-<lb/>
ländi&#x017F;ch germani&#x017F;chen Gei&#x017F;tes i&#x017F;t nicht ein Schwanken zwi&#x017F;chen dumpfem<lb/>
Brüten und wilder Trunkenheit, &#x017F;ondern das eine der extremen Momente<lb/>
i&#x017F;t tiefe Innerlichkeit und die hervor&#x017F;chießende Kraft und Luft, die das<lb/>
andere bildet, wird in &#x017F;einer Dar&#x017F;tellung durch architektoni&#x017F;che Ma&#x017F;&#x017F;en von<lb/>
die&#x017F;er Innerlichkeit durchdrungen und gegliedert.</hi> </p>
                    </div><lb/>
                    <div n="8">
                      <head>§. 592.</head><lb/>
                      <note place="left"> <hi rendition="#fr">1.</hi> </note>
                      <p> <hi rendition="#fr">Die cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen <hi rendition="#g">Einzelglieder</hi> werden in bewegtere Formen verwandelt,<lb/>
die herr&#x017F;chende tiefe Hohlkehle ver&#x017F;tärkt den Charakter des Innerlichen, in der<lb/>
Ab&#x017F;toßung der Ecken und Uebereck&#x017F;tellung, der Durchführung des Polygoni&#x017F;chen<lb/>
überhaupt, einem Verhältniß&#x017F;piele, das eben&#x017F;o&#x017F;ehr ein Gefühl der Freiheit in<lb/>
Beherr&#x017F;chung des Schweren, als eine &#x017F;trenge Bindung dar&#x017F;tellt, dringt in neuer<lb/><note place="left">2.</note>Wei&#x017F;e der Charakter des <hi rendition="#g">Kry&#x017F;talli&#x017F;chen</hi> durch. Der Bildungstrieb der<lb/>
Phanta&#x017F;ie legt &#x017F;ich aber zugleich in einer unendlichen Vielheit des <hi rendition="#g">Ornaments</hi><lb/>
nieder, das alle Oeffnungen und Flächen füllend, überkleidend, durchbrechend,<lb/>
allem Auf&#x017F;trebenden Spitzen auf&#x017F;etzend &#x017F;ich vorzüglich in den Fen&#x017F;terfüllungen,<lb/>
an den Fa<hi rendition="#aq">ç</hi>aden, an der Thurm&#x017F;pitze an&#x017F;ammelt. Die Regel, welche die&#x017F;e<lb/>
Vielheit beherr&#x017F;cht, i&#x017F;t ein geometri&#x017F;cher Schemati&#x017F;mus, der das Einfache ver-<lb/>
ä&#x017F;tend fortgliedert, da&#x017F;&#x017F;elbe Gebilde in ver&#x017F;chiedenen Größen in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t wieder-<lb/>
holt, in ver&#x017F;chiedenen Stellungen um einen Mittelpunct gruppirt, in de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Ach&#x017F;enwirkung nun das kry&#x017F;talli&#x017F;che Ge&#x017F;etz, hier in freierer Wei&#x017F;e, wiederkehrt.<lb/>
Die reichen Pflanzenformen werden von der&#x017F;elben Ge&#x017F;etzmäßigkeit beherr&#x017F;cht.<lb/>
Endlich aber zieht, alles Horizontale durch&#x017F;chneidend, der Schwung nach oben<lb/>
die&#x017F;e ganze Fülle des Schmucks in gemein&#x017F;amer Richtung empor. Die Glas-<lb/>
malerei vollendet die Wirkung des Innerlichen, die Pla&#x017F;tik entfaltet ihren<lb/>
reichen Beitrag vorzüglich am Portal.</hi> </p><lb/>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[316/0156] Eindruck dieſer aufſtrebenden Coloſſe zu dem Hochbau Aſſyriens als reinem einſeitigen Kraft- und Außenbau noch beſtimmter, als durch den romaniſchen Bau, nämlich auch in Beziehung auf das Maſſenhafte, zurückverſetzt glauben, wenn nicht dieſe formreiche Entwicklung unmittelbar ausſagte, daß hier ein Gliederungsgeſetz, das ſeinen weſentlichen Ausdruck in einem reinen Innenbau hat, ſich nur überdieß nach außen wirft, um allem Volke deſſen Herrlichkeit zu verkündigen und es durch die prachtvolle Pforte in ſeine Räume zu ziehen. Es ſtrebt aber überhaupt der ganze Bau zum Coloſſalen und dieſes Streben gemahnt überhaupt orientaliſch. Auf eine Verwandtſchaft des Mittelalters mit dem Orient haben wir aus Anlaß des Charakters der Ornamentik ſchon zu §. 590 hingewieſen, ſie iſt ebenſo hier hervorzuheben, denn aus einer Vergleichung von §. 343 mit 354, ſiehe insbeſondere Anm. 1, von §. 426 ff. mit 447 ff., ergibt ſich, daß der beiden Weltanſchauungen gemeinſchaftliche Dualiſmus beide zum quantitativ Erhabenen in der Kunſt treiben mußte; aber der Dualiſmus des abend- ländiſch germaniſchen Geiſtes iſt nicht ein Schwanken zwiſchen dumpfem Brüten und wilder Trunkenheit, ſondern das eine der extremen Momente iſt tiefe Innerlichkeit und die hervorſchießende Kraft und Luft, die das andere bildet, wird in ſeiner Darſtellung durch architektoniſche Maſſen von dieſer Innerlichkeit durchdrungen und gegliedert. §. 592. Die claſſiſchen Einzelglieder werden in bewegtere Formen verwandelt, die herrſchende tiefe Hohlkehle verſtärkt den Charakter des Innerlichen, in der Abſtoßung der Ecken und Uebereckſtellung, der Durchführung des Polygoniſchen überhaupt, einem Verhältnißſpiele, das ebenſoſehr ein Gefühl der Freiheit in Beherrſchung des Schweren, als eine ſtrenge Bindung darſtellt, dringt in neuer Weiſe der Charakter des Kryſtalliſchen durch. Der Bildungstrieb der Phantaſie legt ſich aber zugleich in einer unendlichen Vielheit des Ornaments nieder, das alle Oeffnungen und Flächen füllend, überkleidend, durchbrechend, allem Aufſtrebenden Spitzen aufſetzend ſich vorzüglich in den Fenſterfüllungen, an den Façaden, an der Thurmſpitze anſammelt. Die Regel, welche dieſe Vielheit beherrſcht, iſt ein geometriſcher Schematiſmus, der das Einfache ver- äſtend fortgliedert, daſſelbe Gebilde in verſchiedenen Größen in ſich ſelbſt wieder- holt, in verſchiedenen Stellungen um einen Mittelpunct gruppirt, in deſſen Achſenwirkung nun das kryſtalliſche Geſetz, hier in freierer Weiſe, wiederkehrt. Die reichen Pflanzenformen werden von derſelben Geſetzmäßigkeit beherrſcht. Endlich aber zieht, alles Horizontale durchſchneidend, der Schwung nach oben dieſe ganze Fülle des Schmucks in gemeinſamer Richtung empor. Die Glas- malerei vollendet die Wirkung des Innerlichen, die Plaſtik entfaltet ihren reichen Beitrag vorzüglich am Portal.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/156
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/156>, abgerufen am 25.04.2024.