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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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nur die Erfindung des Einzelnen ist es, die innerhalb eines gewissen
Spielraums frei über die Proportionen schaltet, sondern die Styl-Erfindung
im Ganzen und Großen, ein Werk des Gesammtgeistes der Nationen,
bestimmt diesen Spielraum selbst in jener verschiedenen Weise, die sich nur
in der Geschichte der Baustyle im Wesentlichen angeben läßt. Wie ver-
schieden ist die Proportion der Höhe zur Breite und Länge im griechischen und
gothischen Bau, wie verändert sich das dem Werthe und Gliederungsgrade nach
Herrschende, da der griechische Tempel den geistigen Mittelpunct des gothi-
schen Doms, den Chor, gar nicht hat, wie wechseln die Verhältnisse im Unter-
geordneten, da jenem die Gruppen in Gruppen theilende Anlage ganz abgeht,
da er nicht Fenster, nicht Seitenportale neben dem Portal hat! Aber auch
das Wenige, was sich durch verschiedene Style mit einiger Gleichmäßig-
keit hindurchzieht und worüber sich daher etwas Allgemeines aufstellen
läßt, gehört bereits zu der Erörterung der tieferen Aufgaben der Compo-
sition, zu der wir nun übergehen, als der Stelle, worin die Proportions-
Verhältnisse ihren innern Grund haben. Dieß ist das Schwere an der
Baukunst, daß wegen ihrer abstracten Natur ihre verschiedenen Seiten sich
trennen zu lassen scheinen wie in keiner andern Kunst, während doch jede
wieder in der andern begründet ist und daher das Auseinanderhalten so
leicht zum Wiederholen führt. Hervorzuheben ist noch, daß der Begriff
der Proportion wesentlich eine fortlaufende Wiederkehr derselben Verhält-
nisse bei mehrfach vorkommenden Theilen derselben Seite und Function,
sowie bei ganzen sich wiederholenden Seiten in sich schließt. Dieß führt
auf das Gesetz der Symmetrie, dessen Aufführung jedoch erst andere wesent-
liche Momente voraussetzt.

§. 568.

Das Gesetz der Scheidung (§. 498) entwickelt die Formen des Con-
trasts in den Gegensätzen der Linien (§. 564) und der structiv thätigen Kräfte
(§. 563). Indem die Composition diese Verhältnisse ergreift und vor Allem
das Einförmige durch die milde Form des Contrasts zur Mannigfaltigkeit um-
zubilden hat, erhebt sie statt des gleichseitigen Vierecks das längliche zur
herrschenden Grundform, theilt und öffnet die Massen über das bloße Bedürfniß.
Dabei leitet sie der tiefere Zweck, den Ausdruck eines bewegten Anlaufs, eines
Strebens nach oben und einer geistigen Bezwingung der Massen überhaupt zu
gewinnen. Den starken Contrast entwickelt sie in den volleren Gegensätzen der
Linien und dem Conflicte zwischen Kraft und Last: einem Ausdruck des
Widerstreits von Weltkräften, der, wie jene mildere Entgegenstellung, seine
Lösung fordert.


nur die Erfindung des Einzelnen iſt es, die innerhalb eines gewiſſen
Spielraums frei über die Proportionen ſchaltet, ſondern die Styl-Erfindung
im Ganzen und Großen, ein Werk des Geſammtgeiſtes der Nationen,
beſtimmt dieſen Spielraum ſelbſt in jener verſchiedenen Weiſe, die ſich nur
in der Geſchichte der Bauſtyle im Weſentlichen angeben läßt. Wie ver-
ſchieden iſt die Proportion der Höhe zur Breite und Länge im griechiſchen und
gothiſchen Bau, wie verändert ſich das dem Werthe und Gliederungsgrade nach
Herrſchende, da der griechiſche Tempel den geiſtigen Mittelpunct des gothi-
ſchen Doms, den Chor, gar nicht hat, wie wechſeln die Verhältniſſe im Unter-
geordneten, da jenem die Gruppen in Gruppen theilende Anlage ganz abgeht,
da er nicht Fenſter, nicht Seitenportale neben dem Portal hat! Aber auch
das Wenige, was ſich durch verſchiedene Style mit einiger Gleichmäßig-
keit hindurchzieht und worüber ſich daher etwas Allgemeines aufſtellen
läßt, gehört bereits zu der Erörterung der tieferen Aufgaben der Compo-
ſition, zu der wir nun übergehen, als der Stelle, worin die Proportions-
Verhältniſſe ihren innern Grund haben. Dieß iſt das Schwere an der
Baukunſt, daß wegen ihrer abſtracten Natur ihre verſchiedenen Seiten ſich
trennen zu laſſen ſcheinen wie in keiner andern Kunſt, während doch jede
wieder in der andern begründet iſt und daher das Auseinanderhalten ſo
leicht zum Wiederholen führt. Hervorzuheben iſt noch, daß der Begriff
der Proportion weſentlich eine fortlaufende Wiederkehr derſelben Verhält-
niſſe bei mehrfach vorkommenden Theilen derſelben Seite und Function,
ſowie bei ganzen ſich wiederholenden Seiten in ſich ſchließt. Dieß führt
auf das Geſetz der Symmetrie, deſſen Aufführung jedoch erſt andere weſent-
liche Momente vorausſetzt.

§. 568.

Das Geſetz der Scheidung (§. 498) entwickelt die Formen des Con-
traſts in den Gegenſätzen der Linien (§. 564) und der ſtructiv thätigen Kräfte
(§. 563). Indem die Compoſition dieſe Verhältniſſe ergreift und vor Allem
das Einförmige durch die milde Form des Contraſts zur Mannigfaltigkeit um-
zubilden hat, erhebt ſie ſtatt des gleichſeitigen Vierecks das längliche zur
herrſchenden Grundform, theilt und öffnet die Maſſen über das bloße Bedürfniß.
Dabei leitet ſie der tiefere Zweck, den Ausdruck eines bewegten Anlaufs, eines
Strebens nach oben und einer geiſtigen Bezwingung der Maſſen überhaupt zu
gewinnen. Den ſtarken Contraſt entwickelt ſie in den volleren Gegenſätzen der
Linien und dem Conflicte zwiſchen Kraft und Laſt: einem Ausdruck des
Widerſtreits von Weltkräften, der, wie jene mildere Entgegenſtellung, ſeine
Löſung fordert.


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[228/0068] nur die Erfindung des Einzelnen iſt es, die innerhalb eines gewiſſen Spielraums frei über die Proportionen ſchaltet, ſondern die Styl-Erfindung im Ganzen und Großen, ein Werk des Geſammtgeiſtes der Nationen, beſtimmt dieſen Spielraum ſelbſt in jener verſchiedenen Weiſe, die ſich nur in der Geſchichte der Bauſtyle im Weſentlichen angeben läßt. Wie ver- ſchieden iſt die Proportion der Höhe zur Breite und Länge im griechiſchen und gothiſchen Bau, wie verändert ſich das dem Werthe und Gliederungsgrade nach Herrſchende, da der griechiſche Tempel den geiſtigen Mittelpunct des gothi- ſchen Doms, den Chor, gar nicht hat, wie wechſeln die Verhältniſſe im Unter- geordneten, da jenem die Gruppen in Gruppen theilende Anlage ganz abgeht, da er nicht Fenſter, nicht Seitenportale neben dem Portal hat! Aber auch das Wenige, was ſich durch verſchiedene Style mit einiger Gleichmäßig- keit hindurchzieht und worüber ſich daher etwas Allgemeines aufſtellen läßt, gehört bereits zu der Erörterung der tieferen Aufgaben der Compo- ſition, zu der wir nun übergehen, als der Stelle, worin die Proportions- Verhältniſſe ihren innern Grund haben. Dieß iſt das Schwere an der Baukunſt, daß wegen ihrer abſtracten Natur ihre verſchiedenen Seiten ſich trennen zu laſſen ſcheinen wie in keiner andern Kunſt, während doch jede wieder in der andern begründet iſt und daher das Auseinanderhalten ſo leicht zum Wiederholen führt. Hervorzuheben iſt noch, daß der Begriff der Proportion weſentlich eine fortlaufende Wiederkehr derſelben Verhält- niſſe bei mehrfach vorkommenden Theilen derſelben Seite und Function, ſowie bei ganzen ſich wiederholenden Seiten in ſich ſchließt. Dieß führt auf das Geſetz der Symmetrie, deſſen Aufführung jedoch erſt andere weſent- liche Momente vorausſetzt. §. 568. Das Geſetz der Scheidung (§. 498) entwickelt die Formen des Con- traſts in den Gegenſätzen der Linien (§. 564) und der ſtructiv thätigen Kräfte (§. 563). Indem die Compoſition dieſe Verhältniſſe ergreift und vor Allem das Einförmige durch die milde Form des Contraſts zur Mannigfaltigkeit um- zubilden hat, erhebt ſie ſtatt des gleichſeitigen Vierecks das längliche zur herrſchenden Grundform, theilt und öffnet die Maſſen über das bloße Bedürfniß. Dabei leitet ſie der tiefere Zweck, den Ausdruck eines bewegten Anlaufs, eines Strebens nach oben und einer geiſtigen Bezwingung der Maſſen überhaupt zu gewinnen. Den ſtarken Contraſt entwickelt ſie in den volleren Gegenſätzen der Linien und dem Conflicte zwiſchen Kraft und Laſt: einem Ausdruck des Widerſtreits von Weltkräften, der, wie jene mildere Entgegenſtellung, ſeine Löſung fordert.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/68>, abgerufen am 29.03.2024.